Hinsehen – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 5 Min.

Hinsehen – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Ilka Sobottke, veröffentlicht am 20.6.2020 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Die Zeugin, die die Ermordung von George Floyd mit ihrer Handykamera dokumentiert hat, vergleicht Frau Sobottke mit den Frauen, die laut biblischer Aussage bei der vorübergehenden Hinrichtung von Jesus anwesend gewesen sein sollen und fragt, was ihr Glaube ohne diese Frauen wäre.

Diese Art hinzusehen ist ein Aufstand. Darnella Frazier ist zur Zeugin geworden. Sie ist dabei geblieben. Sie ist wie Maria, Jesu Mutter, und die anderen Frauen. Sie sehen hin auf Jesus am Kreuz, sie bleiben dabei. Es ist unerträglich. Sie hören Jesus, seine letzten Worte. Sie sehen, wie er zu Tode gefoltert wird. Ohne diese Frauen, was wäre unser Glaube?
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Hinsehen – Wort zum Sonntag, verkündigt von Ilka Sobottke, veröffentlicht am 20.6.2020 von ARD/daserste.de)

Dieser Rückgriff auf die biblische Erzählung könnte insofern problematisch werden, als dass damals das Zeugnis einer Frau nur halb so viel wert war wie das Zeugnis eines Mannes. Nach biblischen Maßstäben hätten deshalb mindestens zwei Frauen die Ermordung von George Floyd bezeugen müssen.

Wie sich eine Aufnahme mit der Handykamera auf die Glaubwürdigkeit von Frauen auswirkt, darüber findet sich in der Bibel freilich keine Aussage.

Immer problematisch: Biblische Zeugen

EinheitsübersetzungAbgesehen davon sind biblische Zeugenberichte immer kritisch zu sehen. Die frühesten Texte waren Jahrzehnte nach dem Tod von Jesus entstanden. Schriftliche Augenzeugenberichte existieren nicht. Die ersten paar Jahrzehnte waren die Geschichten über das Leben und Wirken von Jesus hauptsächlich von Analphabeten mit vergleichsweise minimalem Erkenntnisstand, dafür aber einer ausgeprägt magischen Weltanschauung mündlich weitergegeben worden.

Darüberhinaus benennt die Bibel an mehreren Stellen Zeugen für Ereignisse, die so nicht stattgefunden haben können.

Für die Bezeugung der biblischen Behauptungen besonders wertvoll wären natürlich außerbiblische Zeugen. Aber auch hier sieht die Faktenlage alles andere als überzeugend aus.

Wer sich näher für die Widersprüchlich- und Fragwürdigkeit der Jesus-Mythologie interessiert, dem seien die Bücher „Der Jesuswahn – Wie die Christen sich ihren Gott erschufen“ und „Jesus ohne Kitsch – Irrtümer und Widersprüche eines Gottessohns„, beide von Heinz-Werner Kubitza zur Lektüre empfohlen.

Jesus von Nazareth – festgenommen, verurteilt, zu Tode gefoltert. George Floyd – festgenommen, zu Tode gefoltert. Darnella ist wie die Frauen unter Jesu Kreuz. Sie bezeugt den ungerechten Tod eines Mannes. Sie bezeugt die Ungerechtigkeit eines Systems.

Ungerechtigkeit des Systems?

Natürlich steht aus heutiger Sicht fast weltweit außer Frage, dass eine Bestrafung durch Todesfolterung ungerecht ist. Darüber, wie das im Falle der biblischen Gottessohnlegende zu beurteilen ist, herrscht selbst unter Theologen alles andere als Einigkeit. War die Kreuzigung aus damaliger Sicht und nach damaligen Maßstäben ungerecht?

Abgesehen von der rechtlichen und ethischen Einordnung wirft auch die mythologische Dimension dieses Ereignisses mehr Fragen auf, als sie beantwortet:

  • Wusste Jesus, was ihn erwartet?
  • Wäre es nicht schlauer gewesen, wenn sich Jesus so verhalten hätte, dass er nicht verurteilt und gekreuzigt wird, um noch ein paar Jahre länger Leute davon überzeugen zu können, sich dem richtigen Gott zu unterwerfen?
  • Oder hatte sich Jesus absichtlich in diese Situation gebracht, um den Plan seines Vaters bzw. seines ersten eigenen Drittels zu erfüllen?
  • Ist es nicht wesentlich plausibler, dass die ganzen Geschichten rund um die vorübergehende Todesfolterung samt späterer angeblicher Auferstehung einfach nur Legenden sind, mit denen der Kreuzigung des angeblichen Gottessohns eine übergeordnete Bedeutung angedichtet werden sollte? Die Not zur Tugend gemacht, sozusagen? Mit einer anschließenden Auferstehung lässt sich auch eine profane, demütigende Kreuzigung so darstellen, dass es eines Gottessohnes würdig erscheint.
  • Die biblischen Erzählungen stellen Jesus als eine Person dar, die von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Jesus soll demzufolge wohl das gewesen sein, was heute als „Promi“ bezeichnet wird. Wie kommt es, dass dann (aus damaliger Sicht „nur“) ein paar Frauen Zeugen der Hinrichtung sind?
  • Könnte der Umstand, dass bei der Kreuzigung nur Frauen anwesend gewesen sein sollen nicht einfach eine geschickte Strategie gewesen sein, um die Frage: „Warum hat keiner seiner Anhänger Jesus am Kreuz geholfen oder ihm wenigstens beigestanden?“ zu bewältigen? Wenn Frau Sobottkes Glaube auf dem Zeugnis dieser Frauen beruht, dann scheint das jedenfalls ein sehr brüchiges Fundament zu sein.

Weder innerhalb der biblischen, noch in der historischen Wirklichkeit lassen sich diese und weitere Fragen heute noch abschließend verbindlich beantworten.

Außer für Christen ist dieser Umstand allerdings leicht zu verschmerzen. Und die haben längst eine der vielen Versionen adaptiert, die aus den vorhandenen, oft auch widersprüchlichen Bruchstücken zusammengebastelt wurden. Eine, die am ehesten ihre Wünsche und Hoffnungen befriedigt. Dafür sind sie dann auch bereit, sich auf Zeugenberichte zu verlassen, die sehr wahrscheinlich (oder sogar ganz sicher, wenn es zum Beispiel um Wunder oder Zombies geht) gefälscht sind.

Rassissmus ist immer scheiße

Frauen und Männer, ja sogar Kinder. People of Colour leiden täglich, sie sterben am Rassismus der Weißen, die ihre Vorrechte nicht verlieren wollen. Zeugin sein – das heißt dem Unrecht ins Gesicht sehen. Das ist der erste Aufstand gegen das Unrecht.

Da es keine verschiedenen Menschenrassen gibt, ist auch der Begriff Rassissmus irreführend. Das Problem heißt: Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Haufarbe, ethnischen oder geographischen Herkunft oder aus sonstigen pauschalierenden Gründen.

Kann ich von Darnella Frazier lernen? Ich bin weiß. Viel älter, privilegiert. Umso wichtiger ist es: Den Blick nicht abwenden und bezeugen, wenn wieder etwas passiert. Trotz Angst vor Aggression.

Sie könnten sogar noch mehr tun, als Fälle von Ausgrenzung und Diskriminierung zu bezeugen.

Die Rolle von Religionen in Bezug auf Diskriminierung

Zum Beispiel könnten Sie überlegen, inwieweit es sinnvoll ist, eine Glaubenslehre zu vertreten und zu verbreiten, die ein zwar frei erfundenes, deshalb aber nicht minder wirksames Unterscheidungsmerkmal liefert, das schon immer hervorragend auch dazu verwendet werden konnte und kann, um Menschen auszugrenzen, zu unterdrücken, zu verfolgen oder sie zu ermorden: Es ist dies der „rechte“ Glaube, bzw. das Fehlen desselben.

Aggression haben Sie dabei höchstens aus den fundamentalistischen eigenen Reihen zu befürchten.

Der Aspekt der auch im christlichen Glaubenskonstrukt enthaltenen Selbstüberhöhung der Zugehörigen (=wir, die Guten, Gottes auserwähltes Volk) und der Abwertung der Nicht-Zugehörigen (=die, die Bösen, die von Gott dereinst für ihre Glaubensfreiheit oder für ihren „falschen“ Glauben mit Höllenqualen bestraft werden) mag zwar vielen Mainstream-Christen heute gar nicht mehr wirklich bewusst sein.

Und trotzdem halten auch die, für die das biblisch-christliche Belohnungs-Bestrafungskonzept eigentlich überhaupt keine Rolle mehr spielt durch ihren Verbleib in der christlichen Herde eine religiöse Ideologie künstlich am Leben, die wie gemacht ist, um Menschen voneinander abzugrenzen und zu unterdrücken.

Religion als Privatsache

Deshalb meine Bitte, bzw. mein Appell: Frau Sobottke, bitte setzen Sie sich dafür ein, dass Religion endlich Privatsache wird! Damit entwaffnen Sie nämlich auch die christlichen Glaubensbrüder, die aus der selben biblischen Mythologie ganz andere Dinge herauslesen als das, was Sie herauspicken bzw. hineininterpretieren.

Religionen sind als Moralquelle ungeeignet. Weil sie nicht mal die Mindeststandards erfüllen, um als solche auch nur in Betracht kommen zu können.

Damit will ich nicht sagen, dass die Religionen an allem schuld sind. Aber sie leisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, indem sie eine göttliche Legitimierung auch für unmenschlichstes Verhalten bieten. Wie ein Blick in die 10bändige Kriminalgeschichte des Christentums, aber auch ein Blick auf gegenwärtige Entwicklungen erschreckend eindrucksvoll belegt.

Je weiter sich eine Religion, bzw. in Ihrem Fall eine Konfession an moderne ethische Standards annähert, desto geringer wird der Anteil dessen, was Religion von sich aus noch beizutragen hat. Oder umgekehrt: Ausgerechnet die genuin biblisch-christlichen Inhalte sind die, die dabei am ehesten entbehrlich werden. Das grundlegende biblisch-christliche Belohnungs-Bestrafungskonzept ist obsolet geworden, wenn es um die Frage geht, wie die Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert fair und friedlich zusammenleben kann.

Was außer der rhetorischen Frage, was der Glaube ohne sie wäre, können die biblischen Marias (die Magdalena und die andere) als Zeuginnen zum eigentlichen Thema beitragen? Für die Beweiskraft des Handyvideos spielt es jedenfalls keine Rolle, ob es von einer Frau oder von einem Mann aufgenommen wurde.

Frau Sobottke, welchen biblischen Bezug hätten Sie denn hergestellt, wenn das Video zum Beispiel ein Jugendlicher aufgenommen hätte? Der hätte ebenfalls gute Gründe gehabt, nicht dazwischen zu gehen, sondern das Geschehen aus halbwegs sicherem Abstand zu dokumentieren.

Welche biblischen Zeugen welches biblischen Ereignisses hätten Sie dann präsentiert, um irgendwas mit Glauben in Ihrer Fernsehpredigt unterzubringen, Frau Sobottke?

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5 Gedanken zu „Hinsehen – Das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. >>Und könnte der Umstand, dass bei der Kreuzigung nur Frauen anwesend gewesen sein sollen nicht einfach eine geschickte Strategie gewesen sein, um die Frage: “Warum hat keiner seiner Anhänger Jesus am Kreuz geholfen oder ihm wenigstens beigestanden?” zu bewältigen? Wenn Frau Sobottkes Glaube auf dem Zeugnis dieser Frauen beruht, dann scheint das jedenfalls ein sehr brüchiges Fundament zu sein.<<

    Bist Du Gottes Sohn, so hilf Dir selbst!

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  2. Nebenbei, wenn Jesus schon ein Promi war, dann doch eher so auf RTL –
    Niveau. Was erklären würde, warum er, der wundertätige Gottessohn, in den Qumranrollen der Essener nicht ein einziges mal erwähnt wird. Immerhin habe die Essener zur selben Zeit am selben Ort wie dieser angebliche Jesus gelebt.

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  3. Und wenn wir uns heute mal die Zahlen der Kirchenaustritte in Deutschland ansehen, so nehmen diese eindeutig stetig zu.
    Was hat auch die Kirche noch anzubieten?

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  4. Ich habe mich auch schon oft gefragt: Falls jemand bereits damals eine Handycam gehabt hätte (wie in „Das Jesus-Video“), was hätte er filmen können? Nicht nur bei der Hinrichtung (da gab es viele), sondern – viel spannender – bei der Auferstehung, bei der Himmelfahrt. Oder früher: bei der Entstehung des Universums, bei der Schaffung der Menschen, bei der Sintflut, Sodom und Gomorra, Hesekiels Thronwagen… Was wäre da auf dem Band gewesen?

    Frau Sobottke geht offenbar davon aus, dass sie da den echten Jesus (also blond und blauäugig) ans Kreuz genagelt sehen würde – die Nägel durch das Handgelenk geschlagen. Die Zeugen Jehovas hätten auf dem Band den gepfählten Jesus, die Römer irgendeinen Aufrührer, die Muslime einen Propheten gesehen.

    Aber es gibt nur ein authentisches Filmdokument aus jener Zeit. Monty Python, der wundertätige Archäologe, hat es ausgegraben. Es war Brian und der hat uns einen gepfiffen. So wunderbar können Fragen Antworten bekommen…

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