Worum geht es?
Buß‘ Text entmündigt Menschen systematisch, indem er menschliche Leistung und Verantwortung einem unsichtbaren Gott zuschreibt und aktive Zukunftsgestaltung durch passives Gottvertrauen ersetzt.Der Silvestertext von Stadtpfarrer Stefan Buß ist ein Paradebeispiel für jene religiöse Rhetorik, die menschliche Verantwortung systematisch externalisiert und reale Probleme in transzendente Hoffnungen auflöst. Unter dem Deckmantel von Trost und Zuversicht vollzieht sich hier eine subtile Entmündigung, die es verdient, aus humanistischer Perspektive genau betrachtet zu werden.
Dankbarkeit – aber wem gegenüber?
Buß fordert Dankbarkeit für das Gute im vergangenen Jahr. Soweit nachvollziehbar. Doch während er von „Menschen, die uns begleitet haben“ und „Schritten, die wir gewagt haben“ spricht, verschiebt sich der Adressat der Dankbarkeit schnell: Es ist nicht mehr die eigene Leistung, nicht die Unterstützung konkreter Menschen, sondern ein „Segen, der uns überraschend begegnet ist“.
Diese sprachliche Verschiebung ist symptomatisch. Wo Menschen Verantwortung übernommen, Risiken eingegangen und einander geholfen haben, wird ein göttlicher Akteur als eigentlicher Urheber installiert. Die Anerkennung menschlicher Leistung und Solidarität wird so systematisch untergraben – ein Mechanismus, den die Religionskritik seit Feuerbach als Projektion und Selbstentfremdung analysiert hat.
Die Theodizee-Falle: Gott bei Erfolg, Gott bei Leid
Besonders problematisch wird es, wenn Buß auch das Schwierige, die „Zeiten der Sorge, der Unsicherheit, des Verlusts“ in seine Gotteserzählung integriert: „Auch dort dürfen wir wissen, dass Gott uns nicht verlassen hat.“ Diese klassische Theodizee-Logik ist intellektuell unredlich. Ein Gott, der für das Gute verantwortlich gemacht wird, muss sich auch am Bösen messen lassen. Die Behauptung, er sei „in jeder Träne“ anwesend gewesen – „vielleicht leise, manchmal kaum spürbar“ –, ist eine Immunisierungsstrategie: Sie macht die Gotteshypothese unfalsifizierbar und damit rational wertlos.
Aus humanistischer Sicht ist diese Haltung zudem zynisch. Sie verharmlost reales Leid, indem sie es in einen göttlichen Plan einbettet, statt die Verantwortlichen zu benennen: Kriege werden von Menschen geführt, soziale Ungerechtigkeiten sind Ergebnis politischer Entscheidungen, Verluste oft vermeidbar durch bessere Systeme. Die Gottesperspektive verschleiert diese Kausalitäten.
Passivität statt Gestaltungswille
„Wir wissen nicht, was kommen wird“, schreibt Buß über das neue Jahr – als sei dies eine tiefe Einsicht. Tatsächlich ist es eine Binsenweisheit, die zu einer problematischen Konsequenz führt: „Aber wir dürfen eines wissen: Wir gehen nicht allein.“ Die Unsicherheit der Zukunft wird nicht als Aufruf zur aktiven Gestaltung verstanden, sondern als Anlass, sich in göttliches Vertrauen zu flüchten.
Diese Haltung fördert Passivität. Statt Menschen zu ermutigen, selbst Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen, Risiken rational abzuwägen und mutig Entscheidungen zu treffen, werden sie auf eine angeblich übernatürliche (eigentlich: fiktive) Instanz verwiesen, die „als Licht auf unserem Weg“ fungiere. Das ist das Gegenteil von Aufklärung im kantischen Sinne – das Gegenteil von „Sapere aude!“, dem Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.
Friedensappell ohne politische Substanz
Buß spricht vom Frieden – ein nobles Anliegen. Doch auch hier bleibt die religiöse Rhetorik vage und folgenlos. „Möge das neue Jahr ein Jahr werden, in dem Verletzungen heilen“ – das Passiv ist verräterisch. Wer soll handeln? Der Appell „Lasst uns dafür beten, arbeiten, einstehen“ reiht drei sehr unterschiedliche Tätigkeiten aneinander, als wären sie gleichwertig. Doch Beten ist keine Handlung, die Veränderung bewirkt. Es ist bestenfalls eine psychologische Selbstbefriedigung, schlimmstenfalls eine Ausrede für Untätigkeit.
Ein wirklich säkularer, humanistischer Zugang würde konkret werden: Welche Strukturen müssen verändert werden? Welche politischen Entscheidungen sind nötig? Wo müssen wir uns engagieren, Widerstand leisten, solidarisch sein? Buß‘ Friedensappell bleibt im Ungefähren und verlagert die Verantwortung letztlich wieder an Gott: „Möge Gott uns behüten.“
Die Illusion göttlicher Begleitung
Die zentrale Aussage des Textes – „Mit jedem Schritt geht Gott mit“ – ist aus rationaler Sicht nicht mehr als eine ungeprüfte Behauptung, für die es keinerlei Evidenz gibt. Sie mag psychologisch entlastend wirken, ersetzt aber nicht die reale Arbeit an uns selbst und an der Welt.
Die „Nähe Gottes“ ist eine Projektion, die uns vorgaukelt, wir seien nie wirklich allein oder auf uns gestellt – und gerade dadurch verhindert sie die Entwicklung echter Autonomie und Resilienz.
Ein säkularer Humanismus betont stattdessen: Ja, wir sind auf uns gestellt. Aber wir haben einander. Wir haben unsere Vernunft, unsere Empathie, unsere Fähigkeit zur Solidarität. Das sind keine „Geschenke Gottes“, sondern evolutionäre und kulturelle Errungenschaften, die wir pflegen und weiterentwickeln müssen.
Fazit
Stadtpfarrer Buß‘ Silvestertext ist ein Lehrstück religiöser Entmündigung im freundlichen Gewand. Er ersetzt menschliche Verantwortung durch göttliche Fügung, aktive Gestaltung durch passives Vertrauen, rationale Analyse durch transzendente Hoffnung. Das mag Trost spenden – doch dieser Trost hat seinen Preis: die Aufgabe unserer Autonomie.
Ein aufgeklärter, humanistischer Zugang zum Jahreswechsel würde anders klingen:
Wir danken den Menschen, die uns unterstützt haben. Wir erkennen an, was wir selbst geleistet haben. Wir analysieren die Probleme dieser Welt rational und übernehmen Verantwortung für ihre Lösung. Und wir gehen mit dem realistischen, aber nicht hoffnungslosen Bewusstsein ins neue Jahr, dass die Zukunft von unserem Handeln abhängt – nicht von göttlichem Beistand, sondern von menschlicher Vernunft, Mut und Solidarität.



















Zum Glück werden diese hohlen Versprechen immer durchsichtiger.
In diesem Sinne wünsche ich dir Marc, allen Ketzern, Humanisten und Mitkommentatoren einen guten Start ins Jahr 2026.
Geniessen wir es, noch Zeugen dieser beständig fortschreitenden Erosion des blinden Glaubens sein zu dürfen, bis dieser Spuk hoffentlich bald ein Ende findet!
Frohes neues Jahr euch allen!
Gruss
FLO