Geschenkte Zeit oder gelebte Zeit? Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 3 Min.

Geschenkte Zeit oder gelebte Zeit? Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Pastorin Annette Behnken, veröffentlicht am 25.10.2025 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Pastorin Behnken romantisiert Zeitarmut als spirituelles Perspektivproblem, statt ihre realen sozioökonomischen Ursachen zu benennen, und ersetzt politische Lösungsansätze durch metaphysische Trostpflaster, die letztlich nur bestehende Ungerechtigkeiten stabilisieren.

Die ARD-Pastorin Annette Behnken nutzt die Zeitumstellung für eine Meditation über Zeit, Lebensqualität und – natürlich – Gott. Dabei offenbart ihr Text exemplarisch, wie religiöse Rhetorik reale gesellschaftliche Probleme romantisiert und mit metaphysischem Nebel vernebelt, statt zu ihrer Lösung beizutragen.

Die Illusion der „geschenkten“ Zeit

Beginnen wir mit der Grundprämisse: „Heute Nacht wird uns eine Stunde Zeit geschenkt.“ Nein, wird sie nicht. Die Zeitumstellung ist eine administrative Konvention, die unseren Biorhythmus stört und nachweislich zu mehr Unfällen, Gesundheitsproblemen und Produktivitätseinbußen führt. Nichts wird hier „geschenkt“ – wir verschieben lediglich Zeiger auf einer Uhr.

Diese Sprache des „Geschenks“ ist bezeichnend. Sie suggeriert einen Geber, bereitet den Boden für die spätere religiöse Pointe. Doch Zeit wird uns nicht geschenkt – wir existieren in ihr, als biologische Wesen mit begrenzter Lebensspanne. Die Formulierung entmündigt und verschleiert die Tatsache, dass wir entscheiden müssen, wie wir mit unserer Zeit umgehen.

Zeitarmut: Ein soziales Problem, keine Perspektivfrage

Behnken erkennt immerhin das reale Problem der Zeitarmut an: „Zeitdruck aus Finanzdruck, vor allem für Frauen, Alleinerziehende, Geringverdiener.“ Richtig. Aber dann folgt die typische religiöse Volte: „Natürlich muss gegen diese Art von Druck politisch und strukturell was passieren. Aber einen kleinen Teil können wir auch selbst tun.“

Hier wird es problematisch. Denn was folgt, ist keine politische Analyse, sondern der Ratschlag zur individuellen „Perspektivänderung“. Die eigentliche Botschaft: Ja, die Verhältnisse sind schlecht, aber ändere erstmal deine innere Einstellung. Das ist die klassische Strategie, mit der Religionen gesellschaftliche Missstände entschärfen und stabilisieren – statt Rebellion gibt’s Kontemplation.

Die Alleinerziehende mit zwei Minijobs braucht keine „andere Perspektive“ auf ihre Zeitnot. Sie braucht höhere Löhne, bezahlbare Kinderbetreuung und eine Arbeitszeitverkürzung. Der „Verein zur Verzögerung der Zeit“ mag ein nettes bürgerliches Projekt sein – für Menschen, die bereits die Privilegien haben, über ihre Zeitnutzung nachzudenken.

Die Bibel als Lebensratgeber?

„Und in dem sollte, wie es in der Bibel heißt, alles seine Zeit haben: Weinen, Lachen, Arbeiten, Streiten, Lieben…“ Behnken zitiert hier aus dem Buch Kohelet (Prediger), einem der weniger dogmatischen Texte des Alten Testaments. Aber selbst dieser Text ist kein besonders hilfreicher Ratgeber: Seine Hauptaussage ist die Vergänglichkeit und letztliche Sinnlosigkeit allen Tuns („Alles ist eitel“).

Die Frage ist: Warum brauchen wir einen bronzezeitlichen Text, um zu erkennen, dass ein ausgeglichenes Leben erstrebenswert ist? Diese Einsicht ist weder spezifisch biblisch noch besonders tiefgründig. Sie findet sich in praktisch jeder philosophischen Tradition der Menschheit – und lässt sich auch ohne religiöse Autorität begründen.

Der metaphysische Taschenspielertrick

Nun zum Höhepunkt: „Gott hat uns die Ewigkeit ins Herz gelegt, sagt die Bibel. Ewigkeit – meint hier nicht Zeit ohne Ende, für immer und ewig. Die Ewigkeit, von der hier die Rede ist, liegt in jeder Sekunde, in der unser Herz schlägt.“

Das ist elegante theologische Sophisterei. „Ewigkeit“ wird hier so umdefiniert, dass der Begriff jede konkrete Bedeutung verliert und zu einer diffusen „Qualität“ wird. Diese Technik – präzise Begriffe in vage Gefühlsworte aufzulösen – ist typisch für moderne Theologie, die sich der rationalen Kritik entziehen will.

Was soll „Ewigkeit im Herzen“ konkret bedeuten? Dass wir intensive Momente erleben können? Dafür brauche ich keine metaphysische Spekulation. Die Neurowissenschaften können uns sehr genau erklären, warum manche Momente als intensiver, „zeitloser“ erlebt werden als andere – Stichwort Flow-Erleben, Dopaminausschüttung, veränderte Zeitwahrnehmung unter emotionaler Erregung.

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Was wirklich hilft

Wenn wir das Problem der Zeitarmut ernst nehmen wollen, brauchen wir:

  • Politischen Kampf für existenzsichernde Löhne, Arbeitszeitverkürzung und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
  • Strukturelle Veränderungen in einer Wirtschaft, die Wachstumszwang über menschliche Bedürfnisse stellt
  • Bildung über Zeitmanagement, Achtsamkeit und Selbstfürsorge – ohne religiösen Überbau
  • Gesellschaftliche Diskussion über Werte: Was macht ein gutes Leben aus? (Aristoteles hatte dazu übrigens schon vor 2.400 Jahren Kluges zu sagen – ganz ohne Gottesbezug)

Was wir nicht brauchen, sind:

  • Metaphysische Spekulationen über „Ewigkeit im Herzen“
  • Die Suggestion, zeitliche Beschränktheit sei ein „Geschenk“ eines höheren Wesens
  • Individualisierung eines strukturellen Problems durch Appelle an „Perspektivwechsel“

Fazit

Behnkens Text ist exemplarisch für moderne Religiosität: Er greift reale Probleme auf, umhüllt sie mit poetischer Sprache und verweist schließlich doch auf transzendente „Lösungen“, die keine sind. Die eigentliche Botschaft lautet: Die Verhältnisse mögen schlecht sein, aber durch die richtige spirituelle Einstellung kannst du das transzendieren.

Das ist bestenfalls das alt bekannte Opium fürs Volk, schlimmstenfalls eine Immunisierungsstrategie gegen notwendige gesellschaftliche Veränderungen.

Wir brauchen keine „Ewigkeit im Herzen“. Wir brauchen mehr Zeit im Leben – und die erkämpfen wir nicht durch Meditation, sondern durch politisches Handeln.

…und nicht zu vergessen:

Wer über ‚geschenkte‘ und ‚geraubte‘ Zeit spricht, sollte nicht vergessen, dass die Kirchen jahrhundertelang Menschen unvorstellbar viel Lebenszeit durch obligatorische Gottesdienste, tägliche Gebete, Fastenrituale und religiöse Zeremonien geraubt haben – Zeit, die für Bildung, Familie oder schlicht Erholung hätte genutzt werden können.

KI

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