Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Frust: „Aufstand der Frustrierten“

Lesezeit: ~ 4 Min.

Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Frust: „Aufstand der Frustrierten“, gesprochen von Dr. Wolfgang Beck (kath.), veröffentlicht von ARD/daserste.de am 10.11.2016

Papst Franziskus hat das schon 2013 auf ganz andere Weise allen Menschen in Erinnerung gerufen, indem er von einer „Mentalität“ spricht, die allen Menschen ein Teilnehmen am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Bei Papst Franziskus hat diese Mentalität, bei der möglichst alle zu integrieren sind, absoluten Vorrang vor dem Besitz und Reichtum Einzelner.*

In seinem Buch „Die Grenzen der Toleranz“ schreibt Michael Schmidt-Salomon:

Selbstbestimmung statt Gruppenzwang

  • Die offene Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich am Individuum orientiert – nicht an der Gruppe. Der Einzelne hat eine unantasbare Würde, er steht im Mittelpunkt der Menschenrechte, nicht die Familie, der Stamm, die Ethnie oder die Religionsgemeinschaft. ZWar weist die offene Gesellschaft auch Kollektiven Rechte zu, aber diese sind immer vom Individuum her gedacht. (Quelle: Michael Schmidt-Salomon: Die Grenzen der Toleranz – Warum wir eine offene Gesellschaft verteidigen müssen)**

In diesem Interview von 2013 sagte Herr Jorge Mario Bergoglio aka Papst Franziskus (Hervorhebungen von mir):

  • […] Die Verkündigung des Evangeliums muss einfacher sein, tief und ausstrahlend. Aus dieser Verkündigung fließen dann die moralischen Folgen.«
  • […] Eine schöne Predigt, eine echte Predigt muss beginnen mit der ersten Verkündigung, mit der Botschaft des Heils. Es gibt nichts Solideres, Tieferes, Festeres als diese Verkündigung. Dann muss eine Katechese kommen. Dann kann auch eine moralische Folgerung gezogen werden. Aber die Verkündigung der heilbringenden Liebe Gottes muss der moralischen und religiösen Verpflichtung vorausgehen. (Quelle)

Der Papst gründet also seine Weltsicht auf das Evangelium. Also auf eine Legenden- und Mythensammlung, die zwischen der Bronzezeit und dem Vormittelalter verfasst worden war. Ich bezweifle, dass eine solche Geschichtensammlung eine sinnvolle und brauchbare Basis für eine Ethik der Menschen im 21. Jahrhundert ist.

Verkündigung des Evangeliums, aber keine spirituelle Einmischung?

Natürlich kann es gelingen, religiöse Moralismen in diese Texte hineinzuinterpretieren oder sie aus ihnen herauszulesen, die sich einigermaßen und mit entsprechender Kreativität in die Nähe unserer heutigen ethischen Standards bringen lassen.

Doch solange die Bibel noch als übergeordnete Wahrheit behauptet wird, lässt sich diese jederzeit wieder auch beliebig anders auslegen. Die Bibel ist genauso diffus wie die vergleichbarer anderer „Heilige Bücher.“

In Anbetracht der oben zitierten Papstworte erscheint diese weiter unten getroffene Aussage als Lippenbekenntnis:

  • Die Religion hat das Recht, die eigene Überzeugung im Dienst am Menschen auszudrücken, aber Gott hat uns in der Schöpfung frei gemacht: Es darf keine spirituelle Einmischung in das persönliche Leben geben.

Verkündigung des Evangeliums als Moralgrundlage: Ja – spirituelle Einmischung: nein? Wann wird die Kirche ihre Lehre als das verkünden, was sie sein sollte und selbstverständlich auch gerne sein kann: Ein optionales spirituelles Angebot für Erwachsene mit entsprechend irrationaler Vorstellung von Wirklichkeit? Für Leute, die der Kirche noch abnehmen, dass sie etwas gegen ihren Frust zu bieten hat?

Worauf basiert unsere Ethik?

Die wenigen passenden Stellen muss man hochselektiv aus dem Kontext picken und die biblische Gesamtaussage (nur wer glaubt, wird erlöst, wer nicht glaubt wird ewig verdammt) ignorieren. Diese unredliche Vorgehensweise ist unerlässlich, wenn man als religiöser Verkündiger heute überhaupt noch etwas zu politischen oder gesellschaftlichen Themen sagen und dabei noch ernst genommen werden möchte.

Wobei man das religiöse Grundübel damit auch nicht umschiffen kann: In unseren modernen Gesellschaftsordnungen stehen Würde und Freiheit des Individuums an oberster Stelle. Und kein archaischer Wetter-Berge-Wüsten-Kriegs-Lieber-Gott, den sich die Menschen in der Bronzezeit ausgedacht hatten. Und für den es – vermutlich mangels Existenz – nicht mal eine verbindliche Definition gibt. Was Gläubige nicht daran hindert, einfach so zu tun, als gäbe es ihn. Und die vorgeben zu wissen, was dieser Gott will und was er tut.

Das Christentum hatte Jahrhunderte lang die Chance, die Überlegenheit ihrer Moral unter Beweis zu stellen. Das Gegenteil war der Fall. Diese Epoche ging als das „Finstere Mittelalter“ oder auch als das „Dunkle Jahrtausend“ in die Geschichte der Menschheit ein.

Erst die Aufklärung und die Säkularisierung entmachteten die Kirche so weit, dass sie gar nicht mehr anders konnte: Sie machte die Not zur Tugend. Und erklärte die Errungenschaften von Aufklärung und Humanismus kurzerhand zu „christlichen Werten.“ Darauf beharrt sie bis heute.

Die biblischen Gesellschaftsregeln waren für die einfachere Führung eines primitiven Hirtenvolkes konzipiert. Und wurden später so modifiziert, dass sie sowohl staatskompatibel wurden als auch zum klerikalen Machtgewinn und -erhalt taugten.

Benutzter Frust

[…] Bei dem künftigen Präsidenten Trump habe ich in dieser Hinsicht Zweifel. Das muss ich gestehen. Der Ansatz, alle zu integrieren, ist die Alternative zu einem Populismus, der die Frustrationen nur benutzt.

Natürlich sei es Herrn Dr. Beck unbenommen, Zweifel zu haben und diese auch zu äußern. Warum er es auf meine Kosten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen machen muss, erschließt sich mir hingegen nicht.

Auch die von Grund auf undemokratische katholische Kirche nutzt die Frustration von Menschen für ihre Zwecke. Noch mehr: Sie sorgt auch noch selbst für zusätzliche Frustration. Zum Beispiel, indem sie Menschen einredet, sie würden eine Erbschuld tragen. Von der sie – welch Wunder – nur der propagierte Gott erlösen kann.

Auch der Vatikan verfügt über „großen Besitz und Reichtum,“ auf den er zurückgreifen könnte, um die Integration von Menschen in die Gesellschaft wie gefordert voranzubringen.Aber Geld ausgeben würde  offenbar auch bei der Kirche für mehr Frust sorgen, als eine Mentalität zu fordern. Oder als Politiker zu kritisieren.

Ein großer Beitrag zur mitmenschlichen Mentalität wäre es, den irrationalen, naiven und absurden Götterglauben endlich aufzugeben und sich der irdischen Realität zu stellen. Einer Realität, in der kein Phantasiewesen, sondern das Wohl der Menschen und aller anderer Lebewesen an oberster Stelle steht.

Parallelen bei religiösen und politischen Heilsversprechen

Nach dem Erfolg von Trump haben sich viele gefragt, wie das möglich sein konnte. Ein Mensch, der noch nie einen Hehl daraus machte, das Image einer verlogenen, rüpelhaften, fremdenfeindlichen, sexistischen Witzfigur zu pflegen. Und dem es trotzdem gelang, genug Wähler dazu zu bringen, an ihn zu glauben.

Hier sehe ich eine deutliche Parallele zu religiösem Glauben. Denn auch dieser verlangt, dass Menschen Dinge für wahr halten, ohne sie kritisch zu hinterfragen und ohne Belege dafür zu verlangen. Je kritikloser, desto frommer.

Der Wunsch, es möge da einen geben, der es gut mit einem meint, ist größer als die Vernunft und die Skepsis, die bei allen Heilsversprechen immer angebracht ist. Egal, ob sie von Vertretern einer politischen oder einer religiösen Ideologie verbreitet werden: Selbst hoffnungsvolle Erlösungsillusionen oder offensichtliche Politikerlügen erscheinen da immernoch tröstlicher als der reale Frust.

Ein Unterschied besteht dennoch. Denn während sich Trump daran messen lassen muss, ob es ihm tatsächlich gelingt, das Wohl seiner Wähler zu steigern, wird auch in Zukunft niemand von der Kirche verlangen, einen Beweis für die versprochene Erlösung im Jenseits zu erbringen.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Artikel.
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