Inmitten des Tohuwabohu: Wort zum Wort zum Sonntag

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Inmitten des Tohuwabohu: Wort zum Wort zum Sonntag von Benedikt Welter (kath.), veröffentlicht am 21.01.2017 von ARD/daserste.de

„Tohuwabohu“ – das kommt mir in den Sinn, wenn ich sehe, dass das Neue Jahr fast so weitergeht, wie das alte geendet hat. […]

Und obwohl die Bibel in der Schöpfungsgeschichte erzählt, dass Gott in dieses Tohuwabohu Ordnung gebracht hat, bleibt bis heute ein gutes Stück davon Wirklichkeit in unserer Welt.

Die Probleme der Weltbevölkerung im Jahr 2017 sind ein Überbleibsel des Zustandes vor der Zeit, als Gott das letzte Mal für Ordnung gesorgt hatte? Ich halte die Herausforderungen der Gegenwart für zu ernst, als sie in einen ursächlichen Zusammenhang mit archaischen Mythen und Legenden zu bringen.

Keine Frage: Die Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert hat gravierende Probleme. Dringliche und komplexe Probleme, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Gleichzeitig hat die Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert aber auch nie dagewesene Chancen. Und zwar, dafür zu sorgen, dass die Erde ein lebenswerter Planet für Lebewesen aller Art wird. Und auch noch in Zukunft bleiben wird. Ob das gelingt, liegt größtenteils in der Hand einer bestimmten Trockennasenaffenart, des Homo sapiens.

Intellektuelle und emotionale Reife

Was kann aber jemand beitragen, der nicht in der Lage oder willens ist, sich der irdischen Realität zu stellen? Und es bevorzugt, sich stattdessen in eine religiöse Scheinwirklichkeit zu flüchten? Der noch an Schöpfungsmythen aus der Bronzezeit glaubt? Und der eine absurde, abgekupferte Gottessohnlegende aus dem Vormittelalter für außerordentlich bedeutsam hält?

  • » Wer das Atom spalten kann und über Satelliten kommuniziert, muss die hierfür erforderliche intellektuelle und emotionale Reife besitzen. Diese zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass man in der Lage ist, falsche Ideen sterben zu lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen. «
    (Manifest des evolutionären Humanismus)

Tohuwabohu beim Wirklichkeitsbegriff

Und da sagt der Heilige Ignatius: „Gott umarmt mich durch die Wirklichkeit“.

Nach christlicher Lehre ist dieser Gott allmächtig, allwissend und allgnädig. Ein überirdisches Wesen mit diesen Eigenschaften lässt sich mit der Wirklichkeit, wie sie sich uns täglich präsentiert, nicht in Einklang bringen. Wer das anders sieht, möge sich mit der Theodizee-Frage beschäftigen.

Ich soll und darf diese Wirklichkeit anerkennen und annehmen.

Und einmal mehr schmerzt die Ironie. Herr Benedikt Welter meint, die Wirklichkeit anerkennen und annehmen zu sollen und zu dürfen, weil vor 500 Jahren mal jemand behauptet hat, durch die Wirklichkeit von einem Gott umarmt zu werden. Denn nichts, was in der irdischen Wirklichkeit geschieht, lässt sich redlicherweise mit dem Einfluss von Göttern in einen Kausalzusammenhang bringen. Dieser Zusammenhang ist nicht weniger absurd, als wenn jemand behaupten würde, Schneewittchen umarme ihn durch die Wirklichkeit und deshalb solle und dürfe er anerkennen und es annehmen, dass es die sieben Zwerge nicht gibt. Oder dass Goofy einem versichert hat, dass Entenhausen nur eine Fiktion ist.

Götter existieren in Wirklichkeit nicht. Und sollten sie wider jede Logik und Erkenntnis doch existieren, so spielen sie keine Rolle. Weil sie noch niemals wenigstens einmal seriös belegbar in Erscheinung getreten sind.

Denn sie ist mehr als eine Anhäufung von Schreckensmeldungen, die Angst machen. Ich kann diese Wirklichkeit annehmen, weil Gott mich umarmen will, genau in und durch diese Wirklichkeit.

Es mag Ihnen hilfreich oder tröstlich erscheinen, wenn Sie sich Ihre Wirklichkeit durch einen imaginären Freund erweitern. Wenn Sie jedoch tatsächlich die irdische, natürliche Wirklichkeit annehmen wollen, dann schicken Sie zunächst Ihren alten Gott Jahwe in den längst überfälligen Ruhestand. Er hat trotz Allmacht und Allgüte auf ganzer Linie versagt. Und er schert sich einen Dreck darum, was seine Schöpfung veranstaltet. Die Umarmung eines Phantoms ist wertlos.

Such mich doch!

Gott nimmt das Tohuwabohu in den Arm und sagt damit: In all dem Durcheinander kannst du mich suchen und finden.

Nach dieser Logik ist Gott ein Sadist: Er ist sich der irdischen Probleme wohl bewusst, weil er sie ja „im Arm“ hat. Statt aber etwas dagegen zu unternehmen, bietet er an, sich in dem Leid und Elend, was durch das Tohuwabohu entsteht, suchen und finden zu lassen. Und wofür genau sollte man einem solchen Wesen danken? Warum sollte man an ein solches Wesen glauben?

Und vielleicht bekommen wir es gemeinsam geordnet.

Wer ist denn hier der Allmächtige, Allgnädige? Hätte Gott tatsächlich ein Interesse daran, irgendetwas zu ordnen, dann wäre es für ihn ein Leichtes, dies zu tun. Gott will nichts ordnen. Und am allerwenigsten will Gott, dass Menschen selbst etwas ordnen. Damit wäre er nämlich überflüssig. Die Erlösung ist schließlich erst fürs Jenseits vorgesehen.

Da Gott ein von Menschen erdachtes Wesen ist, kann man davon ausgehen, dass dieser Gott die Interessen und Absichten der Menschen „verkörpert“, die sich ihn ausgedacht haben. Das erscheint durchaus plausibel. Denn Religionen leben von Tohuwabohu.

Hilfe, nüchtern zu bleiben

„Gott umarmt mich durch die Wirklichkeit“: das hilft mir, nüchtern zu bleiben in meiner Gegenwart und mich zu vergewissern, wo ich stehe und wie es weitergeht.

„Gott umarmt mich durch die Wirklichkeit“ ist das Gegenteil von „nüchtern zu bleiben.“

Und wenn ich schon so mutig bin und mich provozieren lasse, kann ich in all dem Tohuwabohu auch Gott zulassen oder finden; einen Gott, der mich ernsthaft liebt, ohne müde zu werden: dann kommen Licht und Ordnung in die Irrsal und Wirrsal unserer Tage.

Herr Benedikt Welter ist also der Meinung, dass die Welt eine bessere würde, wenn er einen Wüstengott aus der Bronzezeit, von dem er sich ernsthaft geliebt fühlt, zulässt oder findet.

Die Zeit, in der das Christentum das Sagen hatte, ging als das „finstere Mittelalter“ in die Menschheitsgeschichte ein. Rund 1000 Jahre wurden Menschen im Namen dieses Gottes dumm gehalten, unterdrückt, verfolgt und ermordet. Ohne, dass Gott etwas dagegen unternommen hätte.

Und ausgerechnet dieser Gott soll jetzt auf einmal der sein, der Licht und Ordnung bringt? Nebenbei bemerkt: In der christlichen Mythologie ist der Lichtträger nicht Gott, sondern Luzifer.

Warum sind bis auf wenige Ausnahmen die Länder mit dem geringsten religiösen Einfluss die friedlichsten Länder mit dem meisten Wohlstand?

Angekommen in der Wirklichkeit und von Gott umarmt.

  • Mit dem Begriff Wirklichkeit wird all das beschrieben, was der Fall ist. Gegenbegriffe zur Wirklichkeit sind Schein, Traum oder Phantasie. (Quelle: Wikipedia)

Wer sich von Gott umarmt fühlt, ist nicht in der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts angekommen.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Artikel.

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