Moment der Wahrheit – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Alexander Höner, veröffentlicht am 12.07.2024 von ARD/daserste.de
Darum geht es
Herr Höner ist sich sicher: Wer kleine Gesten richtig zu deuten weiß, kann daraus auf Charakter und Werte von Menschen schließen. Und wenns im Kleinen passt, dann passts auch im Großen. Hat Jesus gesagt!Pars pro toto
Mit zwei Anekdoten – einem Jugendherbergserlebnis und dem vorbildlichen Verhalten der rumänischen Fußballmannschaft, die die Kabine nach ihrem Ausscheiden bei der EM besenrein und mit einer netten Grußbotschaft hinterlassen hatte belegt Herr Höner die Lebensweisheit, die ihm eine befreundete Nonne mal verraten hatte:
„So wie jemand die Tür zu macht, so isser auch.“
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Moment der Wahrheit – Wort zum Sonntag, verkündigt von Alexander Höner, veröffentlicht am 12.07.2024 von ARD/daserste.de)
Was damit gemeint ist, erklärt Herr Höner so:
Es sind die kleinen Gesten, die verraten, wer und wie wir sind. Wer sie lesen kann, durchschaut, wie Menschen ticken. Eine menschliche Ureinsicht.
Das möglichst schnelle und möglichst oft richtige Interpretieren der Gesten und Verhaltensweisen der Mitlebewesen bedeutet(e) einen Vorteil, der sich evolutionär für das Überleben bewährt und deshalb durchgesetzt hatte.
Fähigkeit, kleine Gesten schnell deuten zu können: Evolutionärer Überlebensvorteil
Oder andersherum: Lebewesen, die nicht rechtzeitig oder nicht richtig zwischen „Flucht“ und „Angriff“ unterscheiden konnten, hatten weniger Chancen, zu überleben und sich fortzupflanzen.
Und das ist natürlich erstmal keine rein menschliche Ureinsicht. Sondern eine Fähigkeit, die auch praktisch allen anderen Lebewesen das Überleben ermöglicht, die auf der Speisekarte anderer Lebewesen stehen.
Abgesehen davon sind auch nichtmenschliche Tiere ebenfalls in der Lage, sehr genau – und nicht nur zwischen Beute und Fressfeind – zu unterscheiden. Sondern zum Beispiel auch, Charaktereigenschaften, Stimmungen wie Freude und Trauer, Krankheiten, Befindlichkeiten wie Zuneigung oder Ablehnung und vieles mehr bei ihren Mitlebewesen zu registrieren und richtig zu interpretieren.
Jeder Hundebesitzer wird das genauso bestätigen können wie jeder, der zum Beispiel mal mit Primaten oder mit anderen in sozialen Gruppen zusammenlebenden Lebewesen zu tun hatte.
Gefahr der Vorurteilung durch Fehleinschätzung
Während die Fähigkeit, möglichst schnell und möglichst richtig von Verhaltensweisen auf Charakter- oder sonstige Eigenschaften zu schließen dereinst überlebenswichtig war, birgt gerade die hohe Geschwindigkeit, mit der das geschieht (weil es in heiklen Situationen über Leben und Tod entscheiden konnte) auch das Risiko einer Fehleinschätzung.
Denn: Überlebt haben nur jene unserer Vorfahren, die lieber zehnmal zu oft vor dem Säbelzahntiger geflüchtet waren als einmal zu wenig, weil sie die Situation jeweils falsch eingeschätzt hatten.
Somit lässt sich auch das Phänomen des Vorurteils evolutionär erklären: Vorurteile sind quasi Denkabkürzungen, die es dem Gehirn ermöglichen, energiezehrende und zeitraubende Entscheidungsprozesse abzukürzen. Und aufgrund von schon gemachten Erfahrungen und von vorhandenem Wissen sehr schnell Entscheidungen zu treffen.
Wie im heutigen Beispiel, Menschen anhand ihrer Gesten oder bestimmter Verhaltensweisen zu bewerten und in schon vorhandene Schubladen „einzuordnen.“
Tür geknallt: Ab in die Schublade!
Solche schläden (dieser Mundart-Begriff aus der Rhön bedeutet so viel wie einfältig, primitiv, naiv) „Lebensweisheiten“ wie die der zitierten Nonne sind ein gutes Beispiel dafür, wie dieses Schubladendenken funktionieren kann.
Nebenbei bemerkt: Auch für das genaue Gegenteil hat der Volksmund eine ähnlich triviale Weisheit parat: „Don’t judge a book by its cover“ – „Bewerte ein Buch nicht nach dem Umschlag.“
Aber zurück zum schlauen Spruch der Nonne:
Weder folgt aus der Art und Weise, wie jemand die Tür schließt, dass jemand deshalb auch „en fiese Charakter“ hat bzw. ist – oder nicht. Und noch weniger folgt daraus, dass es sich bei Menschen, die Türen leise schließen, deshalb um anständige, rücksichtsvolle Zeitgenossen handeln muss.
Natürlich kann es sein, dass bestimmte Verhaltensweisen in ein bestimmtes Gesamtbild passen – aber eben keinesfalls immer. Von einzelnen Verhaltensweisen auf den Charakter zu schließen, birgt immer die Gefahr, dass diese Schlüsse falsch sind.
Diese Banalität muss jetzt natürlich auch noch irgendwie biblisch untermauert werden:
Jesus natürlich!
„Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu; und wer im Geringsten ungerecht ist, der ist auch im Großen ungerecht.“ (Lk 16,10) Wer hat’s gesagt? Jesus natürlich!
Natürlich hat der Gottessohn aus der biblisch-christlichen Mythologie auch noch ganz andere Dinge gesagt. Dinge, die der christliche Mainstream aber nie erwähnt. Weil dann schnell klar würde, dass das Label „Jesus hats gesagt“ nichts über den Wahrheitsgehalt und schon gar nichts über eine besondere inhaltliche Qualität oder gar über einen höheren moralischen Wert aussagt.
Die biblischen Jesuslegenden porträtieren einen radikal-religiös-fundamentalistischen Endzeitsektenprediger. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.
Eine nähere Analyse der zitierten Bibelstelle und speziell eine Erörterung der Frage, warum der anonyme Verfasser seinen biblischen Jesus dieser Aussage ein Gleichnis von einem Gutsverwalter vorausschicken lässt, der ausgerechnet vorbildhaft für seine Unredlichkeit im Kleinen (seinem Gutsherrn gegenüber) gelobt wird, erspare ich mir diesmal – Sommerpause! 😎
…irgendwie auf einer Welle…
Was für eine schöne Geste! Kein Türen-Zuknallen nach der Niederlage im Turnier. Kein Fehler-Suchen bei anderen. Die rumänische Mannschaft verlässt den Raum mit Haltung. Sie hätten die Kabine nicht so sauber hinterlassen müssen. Sie hätten auch keinen Brief schreiben müssen. Mit dieser Geste hat sie aber meine Sympathie gewonnen, hat sie es geschafft, dass ich mich mit ihnen irgendwie auf einer Welle fühle, mich mit ihnen verbinde.
Verlasse einen Platz so, wie du ihn vorzufinden wünschst – dafür brauchts wahrlich keine aus dem Kontext gepickte Bibelsprüche von Jesus natürlich.
Das ist nichts anderes als eine Variante des Reziprozität-Grundsatzes „Behandle andere so, wie du behandelt werden willst“ aus der praktischen Ethik. Dieser Grundsatz stammt nicht aus dem Christentum. Vielmehr war und ist in vielen Kulturen weit verbreitet:
Ähnliche, negativ oder positiv formulierte Merksprüche oder Lehrsätze sind seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. in religiösen und philosophischen Texten aus China, Indien, Persien, Altägypten und Griechenland überliefert.
(https://de.wikipedia.org/wiki/Goldene_Regel)
Die zugrunde liegende Idee, dass es für die Gesellschaft, aber auch für den Einzelnen von Vorteil ist, sich rücksichtsvoll zu verhalten, lässt sich noch sehr viel weiter zurückverfolgen als die diversen Merksprüche, mit denen kluge Leute diese Regel später in gut tradierbare Worte gefasst hatten.
Problematische kleine Gesten
Es war nicht die einzige kleine Geste bei der EM. Es gab auch andere – problematische. Welche Werte und Haltungen haben Spieler, Mannschaften und Nationen dadurch gezeigt? Ich finde das wichtig zu fragen. Es entscheidet nämlich mit, wie wir uns als Menschen in Europa weiter entwickeln werden.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Herr Höner hier nicht auf die oft gezeigten Selbstbekreuzigungen und sehr ernsten, beschwörenden Blicke gen lieber Gott im Himmel anspielt, mit denen so manche Fußballer gegnerischen Mannschaften mitunter die selben Götter um Unterstützung anflehten.
Wenn sich ausnahmslos alle Götter schon so verhalten, als gäbe es sie nicht und wenn ihnen jegliches Leid empfindungsfähiger Lebewesen völlig egal zu sein scheint, könnten sie ja wenigstens mal demonstrativ zur Schau gestellte Bittgebete von Fußballern erhören.
Die erfolgreichen Spieler mit Götterglauben werden sich in diesem einmal mehr unzweifelhaft bestätigt fühlen. Und die anderen denken sich irgendwelche faulen Ausreden aus, mit denen sie ihre Loser-Götter vom Vorwurf der Untätigkeit entschuldigen können.
Wichtige Fragen, keine Antworten
Außer den freundlichen rumänischen, den sportlich-fairen und den infantilen christlichen Gesten gabs bei der EM auch noch rechtsradikale Gesten zu sehen. Und die meint Herr Höner warscheinlich.
Obwohl er es wichtig findet, die Werte und Haltungen zu hinterfragen, die rechtsextreme Nationalisten mit dem „Wolfsgruß“ vorsätzlich, – im Unterschied zum Türenknallen – also willentlich und wissentlich zum Ausdruck bringen, belässt er es dabei, auf diese Wichtigkeit hinzuweisen.
Klar: Das „Wort zum Sonntag“ ist kein Polit-Talk, sondern eine Kirchenreklamesendung. Aber wenn man in seiner Funktion als Berufschrist schon für sich beansprucht, bei politischen Themen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mitreden zu müssen, dann könnte und sollte man sich sicher auch deutlicher positionieren, statt nur rhetorische Fragen in den Raum zu stellen.
Welche Werte?
Um also Herrn Höners wichtige Frage zu beantworten und um der geschätzten Leserschaft noch einen gewissen Mehrwert zu bieten, wollen wir zum Schluss noch schnell unsere Hausaufgaben erledigen bzw. von ChatGPT erledigen lassen:
Frage: Welche Werte vertreten die „Grauen Wölfe“ in der Türkei?
Antwort ChatGPT:
Die Grauen Wölfe, auch bekannt als Bozkurtlar oder offiziell als Ülkücü-Bewegung, sind eine türkische ultranationalistische und rechtsextreme Organisation, die aus der Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) hervorgegangen ist. Sie vertreten eine Reihe von Werten und Ideologien, die wie folgt zusammengefasst werden können:
- Türkischer Ultranationalismus: Die Grauen Wölfe streben nach der Erhaltung und Stärkung der türkischen Identität und Kultur. Sie befürworten eine nationalistische Politik und setzen sich stark für die Einheit und Homogenität der türkischen Nation ein.
- Panturkismus: Sie unterstützen die Vereinigung aller türkischsprachigen Völker und Nationen in einem großen türkischen Staat. Dies umfasst nicht nur die Türkei, sondern auch andere Regionen mit türkischen Bevölkerungen, wie Teile Zentralasiens, des Kaukasus und der Balkanstaaten.
- Antikommunismus: Historisch gesehen sind die Grauen Wölfe vehemente Gegner des Kommunismus und des Sozialismus. Dies war besonders während des Kalten Krieges und der politischen Unruhen in der Türkei der 1970er Jahre ein zentrales Thema.
- Islamischer Konservatismus: Obwohl die Bewegung primär nationalistisch ist, enthält sie auch Elemente des islamischen Konservatismus. Die Werte des traditionellen sunnitischen Islams werden hochgehalten, wobei Religion als Teil der nationalen Identität betrachtet wird.
- Gegnerschaft gegenüber Minderheiten: Die Grauen Wölfe sind für ihre feindselige Haltung gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten in der Türkei bekannt, insbesondere gegenüber Kurden, Armeniern und Aleviten. Sie propagieren oft eine chauvinistische und exklusionistische Politik.
- Autoritarismus und Anti-Liberalismus: Die Bewegung neigt zu autoritären Strukturen und lehnt liberale demokratische Werte ab. Sie unterstützen oft starke, zentralisierte Regierungsformen und haben wenig Toleranz gegenüber abweichenden politischen Meinungen.
Die Grauen Wölfe sind in der Türkei und auch international umstritten, da sie oft mit Gewalt und Extremismus in Verbindung gebracht werden. Sie wurden in mehreren Ländern aufgrund ihrer extremistischen Aktivitäten verboten oder überwacht.
Und jetzt können wir mal überlegen, warum andernorts auf der Welt für genau die selben Ziele (bis auf Punkt Nr. 2) der christliche Glaube so hervorragend geeignet ist, dass ihn ganz aktuell zum Beispiel Trump so exzessiv wie erfolgreich für seinen Wahlkampf instrumentalisiert.
…von wegen „Jesus natürlich!“
Was Europa angeht: Dieses Konzept einer freien und offenen Gesellschaft basiert auf diesen sechs Werten. Religion kann hier ihren Platz haben, gehört aber nicht zu diesen Werten.
…allein die Geste zählt?
Es sind die kleinen Gesten, die verraten, wer und wie wir sind – und wie wir gemeinsam leben wollen. In den eigenen vier Wänden und auch als große europäische Gemeinschaft.
Entscheidend sind nicht die kleinen Gesten – sondern welche Werte Menschen vertreten und noch mehr, wie sie sich verhalten.
Wer sich schon mal mit Kriminalfällen (nicht nur, aber auch mit denen des Christentums) befasst hat, kennt sicher etliche Beispiele von Räubern, Betrügern, Mafiabossen, Kindervergewaltigern und Serienkillern, die stets durch auffallend gute Manieren (und nicht selten auch durch eine tiefe Religiösität) aufgefallen waren.
Mit Rückschlüssen von kleinen Gesten auf das Verhalten von Menschen sollte man also grundsätzlich vorsichtig sein. Besonders dann, wenn es sich nicht um bewusst zur Schau gestellte Symbolik, sondern um möglicherweise unbewusste Verhaltensmuster handelt.
Behütet von…?
Kommen Sie behütet durch die Nacht, hoffentlich ohne Tür-Knallen.
Was glauben Sie denn, wer Menschen nachts behütet, Herr Höner? Der selbe Gott, der Fußballspielern manchmal zum Sieg verhilft?
Und der alle, die sich ihm zu Lebzeiten nicht unterworfen hatten dafür mit ewiger phyischer und psychischer Höllenfolter bei vollem Bewusstsein und ohne Aussicht auf Begnadigung dauerbestraft?
…dann doch lieber mal eine zugeknallte Tür, als dass einen ein solch durchgeknallter Gott behütet…
Was war noch gleich der Unterschied zwischen der „Sport-Bild“ und dem „Wort zum Sonntag“???
Zum Thema kleine Gesten:
„Hier mein Kind, kriegst nen Lolli, wenn du brav dem lieben Pfarrer in die Sakristei folgst und anschliessend keinem davon erzählst!“
In dem Absatz „Wer sich schon mal mit Kriminalfällen …“ zeigen Sie schon ganz richtig, wie unzuverlässig diese „Rückschlüsse von kleinen Gesten auf das Verhalten von Menschen“ sind. Das mit dem „besonders“ kann man aber auch anders herum sehen.
Ich erkenne in der Argumentation von H. Höner einen typisch klerikalen, naiven (Aber-)Glauben an irgendwelche Wunderwaffen, die die ganze Welt, oder mindestens Europa, von Grund auf verbessern würden, wenn H.Höner meint: “Es entscheidet nämlich mit, wie wir uns als Menschen in Europa weiter entwickeln werden.“ Zum Positiven entscheidet sich da bestimmt nix, nur um der „kleinen Gesten“ willen. Erst muss sich die Einstellung ändern, dann ändern sich die kleinen Gesten von selbst. Und wenn nicht, ist jetzt auch nicht so tragisch, wenn mal eine Tür knallt,
Ich würde dem Herrn Pfarrer recht geben. Es geht im weiteren Sinne um Bescheidenheit und dass man sich selbst nicht als das Zentrum des Universums betrachtet.
Deswegen bestehen angenehme Menschen nicht darauf, immer das größte Haus im Zentrum der Stadt zu haben. Angenehme Menschen verbieten anderen nicht zu tanzen, nur weil sie selbst lieber beten möchten. Sie rufen ihre Religion nicht als die einzig wahre aus.
Sehr gut fand ich den Vergleich mit der Jugendherberge, wo manche Trampeltiere keine Rücksicht darauf nahmen, dass andere Bewohner länger schlafen wollten. Das passt sehr gut zum rücksichtslosen Gebimmel morgens um 7 Uhr, mit dem die Gläubigen zur Kirche und die Ungläubigen zur Reue gerufen werden. Das wird durch alle Gerichtsinstanzen geklagt. Beschwerde zwecklos.
Christen haben über Jahrtausende alles zertrampelt, was gegen ihre Religion verstieß. Bücher, Gemälde, Skulpturen, wissenschaftliche Beobachtungen, auch Menschen. Das sind die kleinen Gesten, die uns sagen sollen, mit wem wir es zu tun haben. Da stimme ich gerne zu.
Die letzten Worte der rumänischen Fußballmannschaft waren freundlich und dankbar. Wir wären schockiert, wenn sie geschrieben hätten: »Wir kommen bald wieder, und dann werden wir Euch erniedrigen und setzen den Fuß auf Eure Rücken«.
Doch was waren die letzten Worte von Mose, dem Sprachrohr Gottes? Er sagte zu den Israeliten, dem auserwählten Volk: »Deine Feinde werden sich vor dir erniedrigen und du setzt deinen Fuß auf ihre Rücken.«
Mit solchen Leuten möchte man nichts zu tun haben. Wenn der Herr Pfarrer uns dies mitteilen wollte, bin ich sofort einverstanden.