Kirchweihfest: Wenn Gemeinschaft zur Glaubenspropaganda wird

Lesezeit: ~ 6 Min.

Gedanken zum Impuls von Stadtpfarrer Stefan Buß: „Was bedeutet das Kirchweihfest?“ – mehr als ein Dorffest, veröffentlicht am 8.11.25 von osthessen-news.de

Darum geht es

Stadtpfarrer Buß verkauft menschliche Grundbedürfnisse wie Gemeinschaft und Zusammenhalt als exklusives religiöses Angebot und präsentiert unbelegte Glaubensbehauptungen als Tatsachen, obwohl säkulare Gemeinschaften dieselben Werte ohne metaphysische Ideologie bieten.

In seinem jüngstem „Impuls“ erklärt Stadtpfarrer Stefan Buß seinen Schäfchen, was das Kirchweihfest „wirklich“ bedeutet. Der Text ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Kirche universell menschliche Bedürfnisse vereinnahmt und an ihre religiöse Ideologie koppelt. Zeit für eine nüchterne Betrachtung.

Metaphysik als Tatsache verkauft

Gleich zu Beginn wird klar: Hier schreibt jemand, der seine Glaubensbehauptungen als objektive Realität präsentiert. Da „wohnt der lebendige Gott mitten unter uns“ in einem Gebäude, das durch eine Weihezeremonie vom „bloßen Gebäude“ zum „heiligen Ort“ verwandelt wurde.

Die unbequeme Wahrheit: Es gibt keinerlei empirische Belege für die Existenz von Göttern. Die „Heiligkeit“ eines Raumes ist keine messbare Eigenschaft, sondern eine soziale Zuschreibung. Ein Kirchengebäude ist und bleibt ein Steinbau – ob mit oder ohne Weihwasser. Die behauptete Transformation ist pure Inszenierung, ein magisches Denken, das im 21. Jahrhundert mit sehr viel Wohlwollen bestenfalls pittoresk und, wenn jemand darauf einen tatsächlichen Wahrheitsanspruch erhebt, wahnhaft wirkt.

Der Pfarrer hätte zumindest die intellektuelle Redlichkeit aufbringen können, seine Aussagen als Glaubensüberzeugungen zu kennzeichnen. Stattdessen werden sie als Fakten präsentiert – eine Rhetorik, die kritisches Denken systematisch untergräbt.

Die Vereinnahmung menschlicher Grundbedürfnisse

Der Kern des Textes dreht sich um Gemeinschaft, Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung. Das sind tatsächlich wichtige menschliche Bedürfnisse. Doch Buß macht daraus ein religiöses Exklusivrecht:

„Kirche ist der Ort, wo Menschen zusammenkommen – mit all ihrer Freude, ihrer Schuld, ihren Zweifeln und Hoffnungen.“

Die perfide Botschaft: Nur in der Kirche könne man wirklich Gemeinschaft erfahren, nur dort sei man „nicht allein“, nur dort finde man „Heimat“. Das ist faktisch falsch und manipulativ.

Menschen organisieren sich weltweit in unzähligen säkularen Strukturen, die Gemeinschaft, Solidarität und Zusammenhalt bieten – ohne metaphysische Ideologien:

  • Sportvereine und Kulturzentren
  • Nachbarschaftsinitiativen und Bürgerhäuser
  • Humanistische Organisationen
  • Freiwillige Feuerwehr und Hilfsorganisationen

Die Kirche hat kein Monopol auf Gemeinschaft. Tatsächlich ist ihre Form der Gemeinschaft an Bedingungen geknüpft: Man muss die religiöse Ideologie zumindest tolerieren, bestenfalls teilen. Säkulare Gemeinschaften sind oft inklusiver, weil sie keine Glaubensbekenntnisse voraussetzen.

„Lebendige Steine“ – Menschen als Baumaterial Gottes

Besonders aufschlussreich ist die verwendete Bibelstelle: „Ihr seid selbst lebendige Steine, die zu einem geistlichen Haus erbaut werden.“

Diese Metapher offenbart das hierarchische Weltbild: Menschen sind Baumaterial in Gottes Bauplan. Nicht autonome, selbstbestimmte Individuen, sondern Bausteine in einem göttlichen Konstrukt. Der Pfarrer mag dies positiv meinen, aber die Metapher entmenschlicht: Steine haben keinen eigenen Willen, keine eigene Richtung – sie werden verbaut.

Humanistische Alternative: Menschen sind keine Bausteine in fremden Plänen. Sie sind eigenständige Wesen mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die aus eigenem Antrieb Gemeinschaften formen – nicht weil ein Gott sie dazu zusammenfügt, sondern weil Kooperation ein evolutionärer Vorteil und ein menschliches Grundbedürfnis ist.

Schuld, Sünde und die Infantilisierung des Menschen

Subtil, aber deutlich, schleicht sich die christliche Schuldideologie ein: Menschen kommen mit ihrer „Schuld“ in die Kirche. Nicht mit ihren Fehlern oder Irrtümern – nein, mit „Schuld“. Und wer ist schuldig? Der Mensch vor Gott.

Diese permanente Schuldeinrede ist psychologisch destruktiv. Sie etabliert ein Machtverhältnis: Hier der schuldige, unvollkommene Mensch – dort die erlösende Instanz Kirche/Gott, vertreten durch Pfarrer Buß und Konsorten. Eine Abhängigkeit wird geschaffen, die die Institution als unverzichtbar erscheinen lässt.

Säkulare Ethik kommt ohne diese Infantilisierung aus: Menschen machen Fehler, lernen daraus, übernehmen Verantwortung – ohne sich vor übernatürlichen Instanzen rechtfertigen zu müssen. Ethisches Handeln entspringt der Vernunft und dem Mitgefühl, nicht der Angst vor göttlichem Urteil.

Der missionarische Auftrag: Christliche Liebe als Alleinstellungsmerkmal

Gegen Ende wird Buß deutlicher: Die „wahre Kirchweih“ geschehe, wenn Menschen „aus dem Glauben heraus handeln – in Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.“

Die implizite Botschaft: Wer nicht aus dem (christlichen) Glauben heraus handelt, dessen Nächstenliebe ist weniger wert oder gar nicht authentisch. Das ist eine Beleidigung für Millionen Atheisten, Agnostiker und Andersgläubige, die ethisch handeln – aus innerer Überzeugung, aus Empathie, aus Vernunft und nicht zuletzt auch aus Eigennutz: Es fühlt sich einfach gut an, kein Arschloch zu sein.

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Zahlreiche Studien belegen: Religiosität korreliert nicht mit höherer Moral oder Hilfsbereitschaft. Säkulare Menschen sind genauso zu Mitgefühl, Solidarität und ethischem Handeln fähig – oft sogar reflektierter, weil sie ihre Werte selbst begründen müssen statt sie einer überlieferten Autorität zu entnehmen.

Das eigentliche Problem: Privilegierung religiöser Weltsichten

Der Text erschien in einer Regionalzeitung, vermutlich ohne kritische Einordnung. Das ist symptomatisch: Religiöse Autoritäten erhalten unkritische Plattformen für ihre Weltsicht, während säkulare oder religionskritische Stimmen oft als „militant“ oder „respektlos“ abgetan werden.

Dabei wäre Respekt eine Zweibahnstraße:

  • Respekt vor Menschen – immer
  • Respekt vor Ideen und Ideologien – nur, wenn sie es verdienen

Die im Text geäußerten Behauptungen (Existenz Gottes, Heiligkeit von Räumen, exklusive Gemeinschaftserfahrung in der Kirche) verdienen keine unkritische Ehrfurcht. Sie sind diskutierbar, anzweifelbar, kritisierbar.

Fazit: Gemeinschaft ja – religiöse Bevormundung nein

Das Kirchweihfest mag für viele Menschen ein schönes Dorffest sein. Daran ist nichts auszusetzen. Problematisch wird es, wenn universell menschliche Erfahrungen – Gemeinschaft, Zusammenhalt, gegenseitige Hilfe – religiös vereinnahmt und mit metaphysischen Behauptungen verknüpft werden.

Was wir brauchen:

  • Mehr säkulare Gemeinschaftsräume, die allen offenstehen
  • Ethik auf Basis von Vernunft und Mitgefühl statt göttlicher Gebote
  • Respekt für Menschen, aber kritische Distanz zu religiösen Wahrheitsansprüchen
  • Anerkennung, dass gutes, solidarisches Handeln keine religiöse Grundlage braucht

Das nächste Mal, wenn jemand behauptet, nur in der Kirche finde man wahre Gemeinschaft, könnte man antworten: „Nein, danke. Ich finde meine Gemeinschaft auch ohne Bronze-zeitliche Mythologie und mittelalterliche Hierarchien.“

Denn Menschlichkeit braucht keine Götter – nur Menschen, die sich für Menschen interessieren.

Zusammenstellung relevanter Studien, die zeigen, dass Religiosität nicht mit höherer Moral oder Hilfsbereitschaft korreliert:

Wichtige Erkenntnisse aus der Forschung:

1. Meta-Analyse: Religiöse überschätzen ihre Prosozialität

Eine umfangreiche Meta-Analyse von 701 Studien mit über 800.000 Teilnehmern ergab, dass Religiosität deutlich stärker mit selbstberichteter Prosozialität (r = .15) als mit tatsächlich gemessenem prosozialem Verhalten (r = .06) korreliert. Das deutet darauf hin, dass religiöse Menschen ihre eigene Moral systematisch überschätzen.

2. Luke Galen: Kritische Überprüfung der „religiösen Prosozialität“

Eine kritische Untersuchung der Literatur zur religiösen Prosozialität fand, dass viele scheinbar religiöse Effekte durch allgemeine nicht-religiöse psychologische Mechanismen erklärt werden können, wobei methodische Probleme wie unangemessene Kontrollgruppen zu irreführenden Schlussfolgerungen führen.

3. Ingroup-Bias: Religiöse helfen vor allem „ihresgleichen“

Forschung zeigt, dass religiöse Prosozialität häufig die eigene religiöse Ingroup gegenüber Outgroups bevorzugt – religiöse Menschen helfen also vor allem anderen Gläubigen, nicht universell.

4. Decety-Studie zu Kindern (später zurückgezogen)

Wichtiger Hinweis: Die ursprüngliche Studie von Jean Decety aus dem Jahr 2015, die zeigte, dass nicht-religiöse Kinder großzügiger teilten als religiöse, wurde 2019 zurückgezogen, nachdem Decety zugab, dass nicht die Religionszugehörigkeit, sondern das Herkunftsland der primäre Prädiktor war – er nannte es einen „dummen Fehler“.

5. Religiöse delegieren moralische Verantwortung

Eine Studie aus 2024 zeigte, dass religiöse Menschen eher Entscheidungen zwischen moralischen und eigennützigen unmoralischen Handlungen delegieren, wenn sie davon profitieren können – sie verhalten sich prosozial, wenn sie direkt entscheiden müssen, vermeiden aber Verantwortung durch Delegation.

6. Religiosität und moralische Selbstwahrnehmung

Die Verbindung zwischen Religiosität und moralischem Selbstbild wird hauptsächlich durch Persönlichkeitsmerkmale (Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit) und Empathie erklärt, nicht durch religiöse Faktoren selbst, wobei sozial erwünschtes Antwortverhalten nur minimal dazu beiträgt.

7. Nationale Unterschiede

Eine Analyse auf nationaler Ebene ergab, dass nationale Religiosität nicht mit dem World Giving Index oder ehrenamtlicher Arbeit zusammenhängt, und in wirtschaftlich entwickelten Ländern die Funktion der Religion bei der Förderung prosozialen Verhaltens durch andere Faktoren der sozialen Entwicklung ersetzt worden sein könnte.

8. Religiöse Moral: Mehr Gehorsam als Fürsorge

Forschung zeigt, dass Religiosität eine restriktive Moral impliziert, die soziale Ordnung, Loyalität, Autorität und Reinheit stärker betont als Fürsorge, mit einer deontologischen, nicht-konsequentialistischen Ausrichtung, die zu Schaden für andere führen kann.

Fazit:

Die Forschung zeigt konsistent, dass der Zusammenhang zwischen Religion und Moral deutlich komplexer und schwächer ist als allgemein angenommen. Religiöse Menschen überschätzen ihre eigene Prosozialität systematisch, helfen bevorzugt ihrer eigenen Gruppe und zeigen in kontrollierten Experimenten oft nicht mehr – manchmal sogar weniger – moralisches Verhalten als Nicht-Religiöse.

Quellen

  • Galen, L. W. (2012). „Does religious belief promote prosociality? A critical examination.“ Psychological Bulletin, 138(5), 876-906.
  • Preston, J. L., Ritter, R. S., & Hernandez, J. I. (2010). „Principles of religious prosociality: A review and reformulation.“ Social and Personality Psychology Compass, 4(8), 574-590.
  • Shariff, A. F., Willard, A. K., Andersen, T., & Norenzayan, A. (2016). „Religious priming: A meta-analysis with a focus on prosociality.“ Personality and Social Psychology Review, 20(1), 27-48.
  • Blogowska, J., & Saroglou, V. (2013). „For better or worse: Fundamentalists‘ attitudes toward outgroups as a function of exposure to authoritative religious texts.“ The International Journal for the Psychology of Religion, 23(2), 103-125.
  • Decety, J., Cowell, J. M., Lee, K., et al. (2015). „The Negative Association between Religiousness and Children’s Altruism across the World.“ Current Biology, 25(22), 2951-2955. [ZURÜCKGEZOGEN 2019 – siehe nächster Punkt]
  • Decety, J. (2019). Retraction notice zu obiger Studie – Die Religionszugehörigkeit war nicht der primäre Prädiktor, sondern das Herkunftsland.
  • Grossmann, I., Kaplan, H., & Miyamoto, Y. (2024). „Religious people are more likely to delegate moral decision-making to self-serving agents.“ Social Psychological and Personality Science.
  • Gomes, C. M., & McCullough, M. E. (2015). „The effects of implicit religious primes on dictator game allocations: A preregistered replication experiment.“ Journal of Experimental Psychology: General, 144(6), e94-e104.
  • Saroglou, V. (2013). „Religion, spirituality, and altruism.“ In K. I. Pargament et al. (Eds.), APA handbook of psychology, religion, and spirituality (Vol. 1, pp. 439-457).
  • Batara, J. B. L., et al. (2021). „Religiosity and moral self-perception: A structural equation modeling approach.“ Frontiers in Psychology, 12.
  • Stavrova, O., & Siegers, P. (2014). „Religious prosociality and morality across cultures: How social enforcement of religion shapes the effects of personal religiosity on prosocial and moral attitudes and behaviors.“ Personality and Social Psychology Bulletin, 40(3), 315-333.
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