Kommentar zu NACHGEDACHT 187 – Nächstenliebe, was ist das?

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Kommentar zu NACHGEDACHT 187 – Nächstenliebe, was ist das? – Originalartikel verfasst von Christina Lander, veröffentlicht am 07.08.16 von Osthessennews

Nächstenliebe - (c) Jacques Tilly
Nächstenliebe: Alle Rechte vorbehalten? © Jacques Tilly

Wohl keinen anderen Begriff beansprucht das Christentum so vehement für sich wie das Gebot der Nächstenliebe. Nicht wenige Christen möchten heute am liebsten gar die christliche Gesamtaussage auf diesen Begriff reduzieren. Weil er sich, anders als der überwiegende Teil der restlichen biblischen Aussage, scheinbar noch am ehesten mit den Wertvorstellungen der heutigen Gesellschaft in Einklang bringen lässt.

Dabei ist die Nächstenliebe keineswegs eine christliche Erfindung oder Errungenschaft. Sie findet sich in praktisch jeder Gesellschaftsordnung, auch schon lange bevor sie das Christentum für sich beansprucht hatte. Diese Beanspruchung war unerlässlich, denn mit dem Wertebild des Alten Testaments hätte man niemals eine Staatsreligion erfinden und etablieren können. Für die Umgestaltung der zugrundeliegenden Jüdischen Lehre hin zu einer staatskompatiblen Religion hatte man die literarische Figur Jesus Christus erfunden. Den ließ man, viele Jahre nach seinem Tod, die nötigen Änderungen gegenüber der bisherigen Lehre „verkünden.“ Dazu gleich mehr.

Auf den ersten Blick scheint es auch kaum Einwände gegen ein Liebesgebot geben zu können. Doch wie verhält es sich wirklich mit der christlichen Nächstenliebe? Wie passt der Aufruf zu Nächstenliebe zur 10bändigen Kriminalgeschichte des Christentums, in der umfassend dokumentiert ist, wie es die Kirche selbst mit der von ihr geforderten Nächstenliebe die meiste Zeit gehalten hat? Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden auch Atombomben als Werkzeuge der Nächstenliebe bezeichnet und vor ihrem Abwurf christlich gesegnet.

Ein klarer Blick auf die christliche Nächstenliebe

Schaut man etwas genauer und ohne einen religiös verschleierten Blick hin, ergibt sich ein anderes Bild der christlichen Nächstenliebe. Schon diese Aussage über die Grundlage des Gebots zeugt von einer verzerrten Wunschvorstellung:

[…] Wie nehmen wir es denn mit diesem Gebot, das uns Jesus immer gepredigt hat

Der historisch möglicherweise belegbare Jesus war ein jüdischer Wanderprediger, der seine jüdischen Glaubensgenossen auf die vermeintlich kurz bevorstehende Ankunft seines Gottes vorbereiten wollte. Wer sich selbst in der „Nachfolge“ des Jesus von Nazaret versteht, müsste also Jude sein, um sich überhaupt von ihm angesprochen fühlen zu können.

„Uns“, also den Menschen im 21. Jahrhundert, hat Jesus gar nichts gepredigt. Er wollte weder eine Religion gründen, noch eine bestimmte Ethik für das Zusammenleben der Weltbevölkerung festlegen. Wozu auch, wenn doch die vermeintliche Apokalypse sowieso unmittelbar bevorstand? Alle Gebote hatten das einzige Ziel, nämlich im eigenen Interesse ein möglichst gottgefälliges Leben zu führen, um seine eigenen Chancen auf „Erlösung“ zu erhöhen.

Der biblische Jesus Christus ist eine literarische Kunstfigur, die den überwiegend anonymen Bibelschreibern als Vorlage für einen erfundenen Gottessohn diente. Diesem legten sie die Worte nach ihren Vorstellungen in den Mund und „belegten“ seine Göttlichkeit, indem sie ihm viele der damals schon lang bekannten Heldenlegenden, Wundertaten und Göttermythen zuschrieben. Nicht Gott erschuf die Menschen nach seinem Vorbild, sondern die Menschen erdachten sich Gott nach ihrem Wunschbild. Gleiches gilt für seinen Sohn.

Jesus: Ich bringe nicht den Frieden, sondern das Schwert

Jesus hat also nicht uns etwas gepredigt. Und das, was er gepredigt hat, war keineswegs immer Nächstenliebe, im Gegenteil (Hervorhebung von mir):

  • Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
    Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.
    (Quelle: Mt10, 34-37 EU)
  • Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!
    Ich muss mit einer Taufe getauft werden und ich bin sehr bedrückt, solange sie noch nicht vollzogen ist.
    Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen? Nein, sage ich euch, nicht Frieden, sondern Spaltung. Denn von nun an wird es so sein: Wenn fünf Menschen im gleichen Haus leben, wird Zwietracht herrschen: Drei werden gegen zwei stehen und zwei gegen drei, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter, die Schwiegermutter gegen ihre Schwiegertochter und die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter.

    (Quelle: Lk 12, 49-53 EU)

Nächstenliebe: Keine christliche Errungenschaft

[…] und das in zahlreichen biblischen Quellen zu einem der zentralsten ethischen Gebote geworden ist.

Wie oben schon angedeutet, ist dieses ethische Gebot auch in den allermeisten anderen Gesellschaftsordnungen enthalten. Dass es auch in der Bibel zu finden ist ändert nichts daran, dass sich mit der Bibel bei Bedarf auch alles andere als „Nächstenliebe“ begründen lässt.

Weitergehend heißt es in der Bibel, dass Nächstenliebe Gottesliebe sei. In einem Bild erklärt heißt das: „Die Liebe hat zwei Arme; der eine umfasst Gott, der andere den Nächsten.“

Genau hier liegt der Hund begraben. Das ist der Haken an der christlichen Nächstenliebe: Sie wird im Zusammenhang mit einer Gottesliebe gesehen. Wie ist aber von der Liebe eines Gottes zu halten, der trotz angeblicher Allmacht und Liebe seine Schöpfung ihrem Schicksal einschließlich Leid und Elend überlässt? Der sich einen Menschen, zu dem er ein Vater-Sohn-Verhältnis hat, als Menschenopfer zu seiner eigenen Befriedigung zu Tode foltern lässt, um so einigen Menschen seine Liebe zu beweisen?

Der seine beinah komplette Schöpfung auch schon mal ertränkt, weil sie ihm doch nicht so geraten war wie gewünscht? Der Menschen nach ihrem Tod so lange quält, bis sie ihn lieben? Und der die, die ihn nicht lieben wollen, mit ewigen physischen und psychischen Höllenqualen bestraft? Der Herr ist kein Hirte und Gott ist nicht lieb – jedenfalls, was Jawhe betrifft.

Nächstenliebe kann dann Gottesliebe sein, wenn dieses Gebot nur für eine scharf abgegrenzte Gruppe Gleichgläubiger gilt. Eine Gruppe, in der alle den gleichen imaginären Herrscher verehren und anerkennen. Und genau dafür war das christliche Gebot der Nächstenliebe auch gedacht – als Regel für den Umgang mit den „Nächsten.“ Wie mit Un- und Andersgläubigen zu verfahren sei, wird in der Bibel unmissverständlich erklärt. Die landen im Feuerofen der ewigen Verdammnis – schon allein für das Vergehen, an keinen oder an einen anderen Gott zu glauben.

Religiöse Moralismen vs. moderne ethische Standards

Nächstenliebe
Nächstenliebe oder Fairness den Nächsten
und Fernsten gegenüber?

Es sollte unschwer zu erkennen sein, dass solche partikularen, inhumanen Moralismen nicht mehr als Grundlage für eine moderne Ethik der Weltbevölkerung im globalisierten 21. Jahrhundert taugen können.

In einer solchen Ethik kann kein erfundener Provinzial-Wüstengott aus der Bronzezeit mehr an oberster Stelle stehen, sondern die Würde und Freiheit des Menschen. Eine moderne Ethik muss für alle Menschen verbindlich gelten können, unabhängig von Geschlecht, Wohnort, Glaube, Gruppenzugehörigkeit, Hautfarbe, Wissensstand oder Weltbild.

Zum Glück verfügen wir heute über solch moderne ethischen Standards, wie sie etwa im Grundgesetz oder in den Menschenrechten definiert sind. Götter, Geister, Gottessöhne und vormittelalterliche Wüstenmythen sind dafür weder erforderlich noch dienlich. Weil bis zum Beweis des Gegenteils davon auszugehen ist, dass keine Götter existieren, sind auch alle Aussagen darüber, was Götter beabsichtigen oder wie sie sich verhalten, reine Fiktion. Menschliches Wunschdenken, das jeder realen Grundlage entbehrt.

Religion ist saugefährlich

Und das macht Religionen so „saugefährlich“, wie Pfarrer Meurer richtig erkannt hat: Der angebliche Wille Gottes kann beliebig zur Rechtfertigung aller beliebigen Verhaltensweisen verwendet werden. Egal, ob sich Menschen in seinem vermeintlichen Auftrag und Namen geliebt oder getötet haben: Kein Gott hat je Einspruch erhoben. Wenn heute Menschen ethisch korrektes Verhalten als den Willen ihres Gottes definieren, heißt das nicht, dass das morgen auch noch so sein muss. Und möglicherweise erhält auch die nächste Bombe wieder christlichen Segen.

Dann wäre es doch vielleicht besser, einfach zu sagen: Liebe deinen Nächsten so, dass es ihm gut tut?!

Auch dieser Aspekt der Nächstenliebe weckt weitere Zweifel an der Tauglichkeit des Begriffes Nächstenliebe. Ist es nicht geradezu anmaßend vorauszusetzen, dass der Andere die gleiche Liebe „wie ich selbst“ haben möchte? Und wie realistisch ist das Gebot der Nächstenliebe überhaupt? Dazu gleich noch mehr.

Jesus als Liebesbringer?

Und außerdem geht es bei Nächstenliebe doch wahrscheinlich auch um mehr als die Liebe zum Partner: Jesus hat Kranken, Aussätzigen, Geächteten und Ausgegrenzten Liebe gezeigt.

Dass sich Jesus mit seiner Botschaft vorrangig an gesellschaftlich weniger privilegierte Menschen gerichtet hatte, dürfte einen ganz einfachen, viel trivialeren Grund gehabt haben. Je schlechter es Menschen geht, umso offener sind sie für Heilsversprechen aller Art. Da spielt es dann keine Rolle, ob die versprochene Erlösung real oder nur erfunden ist. Und auch nicht, ob jemand es wirklich ihretwegen gut mit ihnen meint oder vielmehr deshalb, weil er sich dadurch bessere Chancen auf sein eigenes Seelenheil verspricht.

Er schenkte neues Leben, das ist also auch Nächstenliebe.

Ja, eine heuchlerische Form der Nächstenliebe. Nicht um des Nächsten Willen, sondern deshalb, um den angeblichen Willen eines ebenso angeblichen Gottes zu erfüllen. Abgesehen davon hatte der Exorzist und Wunderheiler Jesus auch schon berufsbedingt mehr als andere mit Kranken und Armen zu tun. Wer seine eigene soziale Tätigkeit als Nächstenliebe versteht, ist besonders anfällig für die Ausbildung eines Helfersyndroms.

Uneigennützige Liebe?

[…] Aber alles, was aus uneigennütziger Liebe geschieht, kann Gutes in unserer Welt hervorbringen.

Wie gerade beschrieben, ist weder Gottes angebliche Liebe, noch die menschliche Nächstenliebe uneigennützig. Gottes Liebe ist unmissverständlich an die Bedingung geknüpft, sich ihm vollständig zu unterwerfen. Jede noch so altruistische Handlung bedeutet immer auch einen Gewinn für den, der sich so verhält. Eigennutz schadet der Gesellschaft nicht. Egoismus schon.

Die Menschheit verfügt heute über ethische Standards, die denen aus der Bronzezeit und aus dem Vormittelalter weit überlegen sind. Als Beispiel dafür sei das 2. (An-)Gebot des evolutionären Humanismus genannt:

  • Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten! Du wirst nicht alle Menschen lieben können, aber du solltest respektieren, dass jeder Mensch – auch der von dir ungeliebte! – das Recht hat, seine individuellen Vorstellungen von „gutem Leben (und Sterben) im Diesseits“ zu verwirklichen, sofern er dadurch nicht gegen die gleichberechtigten Interessen Anderer verstößt.
    (Quelle: 10 (An-)Gebote des evolutionären Humanismus)

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalartikel.
**Wir haben keinen materiellen Nutzen von verlinkten oder eingebetteten Inhalten oder von Buchtipps.
***Aussagen über Götter, Gottessöhne und Geister beziehen sich auf die Aussagen der jeweils zugrundeliegenden Schriften.

****Cartoon von Jacques Tilly, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Urhebers

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