Wort zum Wort zum Sonntag: Gesicht zeigen

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Wort zum Wort zum Sonntag: Gesicht zeigen, verkündigt von Lissy Eichert (kath.), veröffentlicht am 26.08.2016 von ARD/daserste.de (öffentlich-rechtlicher Rundfunk)

Es ist unser aller gutes Recht, den Mitmenschen zu erkennen, auch wiederzuerkennen.*

Auf welches Recht berufen Sie sich bei dieser Aussage?

[…] Und Gott – Gott bleibt unsichtbar. Das ist ein Problem. Für viele ein Distanzproblem. Was Gott selber aber originell gelöst hat: In Jesus Christus zeigt Gott sein Gesicht.

Gesicht von Mithras
Mithras, aka Sol Invictus****

Frau Eichert, woher wissen Sie, dass es Gott war, der dieses Problem „selber aber originell gelöst hat“?

Welchen Gott meinen Sie überhaupt? Jahwe, über den in den biblischen Mythen und Legenden berichtet wird?

Wenn ein allmächtiger, allwissender und allgütiger Gott keine andere Möglichkeit hat sein Gesicht zu zeigen, als einen Menschen auf die Erde zu schicken, den er sich dann selbst als Menschenopfer zu seiner eigenen Befriedigung zu Tode foltern lässt, dann bin ich sehr froh, dass dieser Gott in Wirklichkeit unsichtbar bleibt.

Und sich von der Erde genauso distanziert wie alle anderen Götter, Göttinnen, Göttersöhne und -mütter, die sich die Menschheit bisher schon ausgedacht hat. Würde er sich zeigen, man müsste ihn sofort u. a. wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen.

Woher wissen Sie, dass nicht zum Beispiel der unbesiegte Mithras das wahre Gesicht des wahren Sonnengottes war?

Nicht „viele“ haben ein Distanzproblem. Sondern Gott. Genauer: Die Menschen, die davon leben, dass andere Menschen an ihren Gott glauben. So wie Sie, Frau Eichert.

Wissen? Oder wünschen?

Oder wissen Sie das gar nicht, sondern wünschen es sich vielleicht nur ganz dolle? Dann sollten Sie das aber auch so verkündigen. Denn sonst könnten leichtgläubige Menschen nicht den Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit erkennen. Und denken, Sie meinen das alles ernst.

In Jesus Christus werden die Trennwände zwischen Männern und Frauen, Juden und Griechen, Freien und Sklaven niedergerissen, heißt es bei Paulus. (vgl. Eph 2,14, Gal 3,28)

Wenn Sie sich auf den biblischen Jesus Christus*** berufen, dann sollten Sie nicht vergessen zu erwähnen, dass es sich bei diesem um eine literarische Kunstfigur handelt. Eine Figur, die mit dem möglicherweise historisch belegbaren Jesus bestenfalls den Namen (und genau genommen nicht mal den) und vielleicht noch einige unwichtige Eckdaten gemeinsam hat.

Sie wissen ja sicher auch, warum der oder die Autoren, die ihre Legenden unter dem Pseudonym „Paulus“ verfassten, Jesus Christus in den von Ihnen zitierten Geschichten zu einem Mittler zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen machen mussten. Ohne diese späteren Einfügungen, Veränderungen und Weglassungen wäre die jüdische Endzeitsekte niemals als römische Staatsreligion anerkannt worden.

Man scheint sehr genau gewusst zu haben, welche Punkte an der jüdischen Grundlage verändert werden mussten, um eine staatskompatible, bedarfsgerechte Religion auf den Glaubensmarkt bringen zu können.

Religiöse Kompatibilitäts-Updates

Frauen kommt in der biblischen Gesamtaussage trotz aller gegenteiliger Bemühungen entsprechend der damaligen Zeit immer nur die Rolle als ein dem Mann untergeordnetes Wesen zu. Auch für die Ursünde, an der alle Menschen, die daran glauben bis heute noch tragen, wurde von einer Frau verursacht. Ein denkbar perfektes Setting für ein Patriarchat – bis heute.

Juden und Griechen mussten natürlich von Paulus, dem Gründer des Christentums gleichgestellt werden. Ohne die hellenistischen und auch andere heidnische Anteile wäre das Christentum wie schon oben angedeutet genauso kläglich gescheitert wie zahllose andere Endzeitsekten damals auch. Und niemals als Staatsreligion in Frage gekommen.

Die Trennwände zwischen Freien und Sklaven werden nach der „Moral“ der biblischen Gesamtaussage keineswegs niedergerissen. Sklaven werden vielmehr dazu aufgefordert, ihren Dienst klaglos, ja freudig zu verrichten (heute bekannt als „Onkel-Tom-Mentalität“). Wofür ihnen eine jenseitige Belohnung in Aussicht gestellt wurde.

So schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe: Arbeit- und duldsame Sklaven, die sich für eine rein fiktive Belohnung gottergeben zu Tode schuften. Sklaverei als probates Mittel der Erlösungsvorbereitung Das Ertragen von Leid, Qual und Ausbeutung als Zeichen größter Tugendhaftigkeit.

Mündliche Überlieferungen aus unbekannter Quelle

Es gibt keine Zeitzeugenberichte und keine zeitgenössischen schriftlichen Aufzeichnungen darüber, was Jesus gesagt hat. Alle angeblichen Aussagen von Jesus in der Bibel stammen aus unbekannten Quellen mündlicher Überlieferung, die von ebenso unbekannten Menschen aufgeschrieben worden waren.

Mit den biblischen Legenden verhält es sich genauso wie mit den Geschichten aller anderen Gottheiten auch: Sie entspringen menschlicher Phantasie.

Die Bibelforschung kann heute sehr sicher sagen, welche biblischen Aussagen einer historischen Gestalt dieser Zeit zumindest theoretisch einigermaßen plausibel zugeordnet werden könnten. Und welche Texte ganz sicher erst später eingefügt, verändert, umformuliert, falsch übersetzt, wieder verändert… wurden.

Dazu zählen so gut wie alle Aussagen, die heute gerne für christliche Verkündigungen verwendet werden. Wohingegen ausgerechnet die Aussagen und Geschichten, die historisch gesehen plausibel erscheinen, praktisch nie in solchen Verkündigungen auftauchen.

Ein Jesus, der die Welt brennen sehen will und der nicht Frieden, sondern das Schwert und Spaltung auf die Erde bringt? So möchte man sich das Gesicht Gottes heute nicht mehr vorstellen.

Die Bibel: Ein Paradies für Rosinenpicker

Das bietet religiösen Verkündigern den Vorteil, sich aus diesen Aussagen alles Beliebige herauspicken zu können. Und einfach so zu tun, als handle es sich bei allem, was laut Bibel Jesus gesagt haben soll, um tatsächliche Aussagen eines tatsächlichen Jesus. Der dann bei Bedarf Mensch oder auch das Gesicht Gottes sein kann – je nachdem, was gerade besser passt.

Dass ein Gottessohn, noch dazu einer mit einem komplett von einem früheren Kult abgekupferten „Lebenslauf“ nur eine menschliche Erfindung sein kann, wird stillschweigend übergangen. Man tut einfach so, als handle es sich bei Jesus um die reale Verkörperung eines bestimmten Wüstengottes, den sich ein primitives Wüstenvolk in der Bronzezeit ausgedacht hatte.

Das kann man natürlich alles machen – der menschlichen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Kritikwürdig wird es dann, wenn jemand, der noch an Götter, Geister und Gottessöhne glaubt, meint, sich vor diesem Hintergrund zu politischen Themen der Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert äußern zu müssen. Auch das kann man natürlich trotzdem tun. Wenn man keinen Wert darauf legt, dass andere einen dann noch irgendwie ernst nehmen.

Warum eine solche Verkündigung aber im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und damit auf Staatskosten geschehen muss, bleibt mir einmal mehr rätselhaft.

Jesus als Gesicht Gottes?

Und Jesus will uns auch persönlich begegnen. Er erklärt ganz praktisch, wie ich ihn beispielsweise in den „Geringsten“ (vgl. Mt 25,40), in den Schwächsten der Gesellschaft, erkennen kann – wenn ich ihnen auf Augenhöhe begegne, von Angesicht zu Angesicht.

Ich habe es getan. Ich habe, wie vorgeschlagen, Mt25,40 „verglichen“, genauer gesagt: Ich habe mir die gesamte Bibelstelle angeschaut, aus der dieser scheinbar so ethisch wertvolle Satz passend zur gewünschten Aussage herausgepickt wurde.

Es ist sicher kein Zufall, dass in religiösen Verkündigungen stets ein kleines, aber nicht unwichtiges Detail weggelassen wird. Denn alle Heilsversprechen, alles, was in der Bibel aus heutiger Sicht wenigstens halbwegs ethisch akzeptabel erscheint, gelten nur für diejenigen, die sich Jawhwe bis zur Selbstaufgabe unterwerfen. Für alle anderen gibts zeitlich unbegrenzte physische und psychische Höllenqualen. Dort steht nämlich genauso:

  • Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! (Quelle: Mt 25,41 EU)
  • Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben. (Quelle: Mt 25,46 EU)

Wozu soll man erst in einem bedürftigen Menschen eine antike Phantasiegestalt erkennen müssen, um darauf zu kommen, diesem Menschen zu helfen? Reicht es nicht, dass da ein hilfebedürftiger Mensch ist? Hat es dieser Mensch nicht verdient, dass ihm seinetwegen geholfen wird? Und nicht, weil sich jemand dadurch einen Vorteil im Jenseits erhofft? Und deswegen erst das Gesicht eines Göttersohnes im Gesicht eines Bedürftigen erkennen soll?

Sollten nicht alle Menschen bedürftigen Menschen helfen? Unabhängig davon, mit welchen imaginären Freunden sie sich ihre persönliche Wirklichkeit erweitern? Wofür bedarf es in Zeiten von Menschenrechten und Grundgesetzen überhaupt noch Religionen, um das Miteinander zu regeln? Moderne ethische Standards müssen andere Anforderungen erfüllen als dualistisch-religiöse Moralismen, die dazu entworfen waren, ein primitives antikes Hirtenvolk in der jordanischen Wüste zu führen.

Nur die Brüder…

Nebenbei: Mit den „Geringsten“ sind in der Bibel nicht, wie hier behauptet, die Schwächsten der gesamten Gesellschaft gemeint. Die Aussage bezieht sich ausdrücklich auf einen meiner geringsten Brüder:

  • Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Quelle: Mt 25,40 EU)

Auch dieses kleine, aber nicht unwichtige Detail wird bei religiösen Verkündigungen aus der Bibel regelmäßig gerne außen vor gelassen: Dass sich nämlich Handlungsanweisungen von Jesus wie Nächstenliebe oder Hilfe des Geringsten nur auf die Zugehörigen der eigenen Glaubensgemeinschaft beziehen. Also auf Menschen mit jüdischem Glauben.

Wie mit Un- und Andersgläubigen zu verfahren ist, darüber gibt Jesus unmissverständlich und detailliert Auskunft: Sein Gott wird sie ausreißen wie Unkraut und dem Feuerofen übergeben. Im ewigen Höllenfeuer werden sie zeitlich unbegrenzt gequält werden. Nur dafür, weil sie an keinen oder an einen anderen Gott glauben. Kein Wunder, dass Gott sein Gesicht verbirgt.

Wer die Bibel heute noch als besonders bedeutsam oder als inhaltlich übergeordnet wertvoll betrachtet, hat sie entweder nicht gelesen, leidet unter (gewollter oder ungewollter) Wahrnehmungsschwäche – oder unter Realitätsverlust.

Menschlichkeit. Nicht Göttlichkeit

Wo echte Begegnung gelingt, passieren kleine und große Wunder der Menschlichkeit, ja, der Göttlichkeit. Mitten im Alltag.

Woher wissen Sie, dass „Wunder der Menschlichkeit“ ein Zeichen für Ihren Gott Jahwe sind? Und nicht für irgendeine beliebige Gottheit, zum Beispiel Xanu oder Baal? Oder ein anderes übernatürliches Wesen?

Wenn Sie sich durch neue Erkenntnisse davon überzeugen könnten, dass Menschen auch ohne jeglichen überirdischen Einfluss zu Altruismus und Empathie (wenn das mit „echter Begegnung“ gemeint sein soll?) fähig sind: Würden Sie dann immernoch sagen, Menschlichkeit sei ein Zeichen von Göttlichkeit?

Ihre Antworten auf diese Fragen würden mich wie immer sehr interessieren.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag.
**Wir haben keinen materiellen Nutzen von verlinkten oder eingebetteten Inhalten oder von Buchtipps.
***Bei Aussagen über Götter, Gottessöhne und andere übernatürliche Wesen wird von den Aussagen der schriftlichen Grundlage ausgegangen.
****Mithras-Darstellung (Sol Invictus), 2. Jahrhundert, British Museum von I, Sailko, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=14797121

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