Gedanken zu NACHGEDACHT 198 – Filmreif!?, Originalartikel zum Thema Wirklichkeit verfasst von Christina Lander, veröffentlicht am 23.10.16 von Osthessennews
Geradezu aufklärerisch setzt sich die Autorin in ihrem heutigen Beitrag mit der Wirklichkeit auseinander. Und so kann ich ihr nur zustimmen, wenn sie fordert, dass man im Film des eigenen Lebens nicht nur die Hauptrolle spielen, sondern nach Möglichkeit auch selbst Regie führen sollte.
Wie schön es ist, einen Film zu sehen, der wie auf magische Weise in einen Bann zieht. Mehrere Minuten abtauchen. In eine andere Welt versinken.*
Die Formulierung deutet es schon an: Die Evolution hat das menschliche Hirn mit unglaublichen Fähigkeiten ausgestattet. Menschen sind tatsächlich in der Lage, gedanklich in eine andere Welt zu versinken.
Manche Filmwelten wirken aber auch so real, dass man manchmal kaum noch zwischen erfundener und wirklicher Welt unterscheiden kann.
Wer sich schon mal in einer virtuellen 3D-Welt aufgehalten hat wird bestätigen können, wie verblüffend einfach es ist, die menschliche visuelle Wahrnehmung zu überlisten.
Kein Wunder – das rasend schnelle Verarbeiten von Informationen über Wahrnehmungen war und ist überlebenswichtig. Auf die Gefahr hin, mal etwas für wahr gehalten zu haben, was sich später vielleicht doch als irreal herausstellt.
Lieber einmal irren – als gefressen zu werden
So hat das Gehirn zum Beispiel nicht immer die Zeit, erst noch lang die Plausibilität eines Säbelzahntigers zu prüfen, der gerade auf einen zurennt. Und veranlasst deshalb sicherheitshalber eine entsprechende Reaktion. Erst mal in Sicherheit bringen. Dann nur wer überlebt hat noch Zeit, sich anschließend mit der Wirklichkeit näher zu befassen.
So real ein Film oder ein Traum auch wirken mag: Wohl niemand wird die Handlung eines Spielfilms ungeprüft für wahr halten. Und das, obwohl man sie ja gerade mit eigenen Augen gesehen und damit womöglich sogar emotional miterlebt hat.
Selbst wenn Menschen wissen, dass zum Beispiel Emotionen in einer Liebesschnulze nur gespielt sind, kann ein Filmkuss dieselben Reaktionen hervorrufen wie „echte“ Emotionen. Wem beim Filmeschauen schon mal das eine oder andere Tränchen gekullert ist, wird das bestätigen können.
So weit, so gut. Kommen wir jetzt zu einer anderen Art von Scheinwirklichkeit. Auf die die liberal-theologische Autorin leider nicht eingeht. Dabei spielt gerade das Thema Wirklichkeit die zentrale Rolle, wenn man sich mit religiösen Glaubensinhalten auseinandersetzt.
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Wer sich für den Wirklichkeitsbegriff interessiert, wird früher oder später auch beim österreichischen Psychologen Paul Watzlawick landen. Der Vertreter des so genannten radikalen Konstruktivismus lieferte mit Büchern*** wie Anleitung zum Unglücklichsein (1), Die erfundene Wirklichkeit (2) oder Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (3) wichtige Beiträge zum Umgang mit der Realität.
Ohne an dieser Stelle zu sehr in die Tiefe gehen zu wollen, hier einige Gedanken von Marcus Müller** zur Unterscheidung der Begriffe Realität und Wirklichkeit:
- Da wir die Welt nur indirekt wahrnehmen, kann es nie eine letzte Gewissheit geben. Deswegen ist eine gesunde Portion Skepsis und Zweifel geboten.
- Ich unterscheide zwischen „REALität“ und „WIRKlichkeit“. Wir können nur erkennen wie die Welt auf uns WIRKT. Es ist nur ein verzerrtes, selektiv eingefärbtes Abbild der Realität. Selbst Raum, Zeit und Kausalität scheinen nur eine Art Interface in unserem Weltmodell zu sein, das uns die Welt „nutzbar“ macht.
- Würden wir die Realität „sehen“, könnten wir vermutlich gar nichts damit anfangen und wären enttäuscht, keine von uns ersehnte letzte Wahrheit darin zu erkennen, keinen vorgegebenen Sinn und Zweck, kein liebevolles Wesen, das uns sagt: Alles nur ein Spiel, du bist in guten Händen und wirst für immer glückselig sein.
- Diese Erkenntnis wollen die meisten gar nicht haben. Zwischen Flucht in das warme Gefühl eines Drogenrausches und religiöser Glückseligkeit ist zwar ein gewisser Unterschied – aber vielleicht entspricht das unserem Wesen, uns eine Welt nach unseren Wünschen zu konstruieren, in die wir uns einigeln und wohlfühlen können…
Packende Filme, Alkohol, Drogen, Rollenspiele und der Glaube an einen wohlmeinenden Gott haben eines gemeinsam: Sie bieten eine bestenfalls hoffnungsvolle Illusion.
Bestenfalls hoffnungsvolle Illusionen
Ist der Film vorbei, lässt die emotionale Wirkung nach. Löst sich der religiöse oder sonstwie erzeugte geistige Nebel auf, bleibt die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die, besonders verglichen mit einer wodurch auch immer rosarot gefärbten Watte-Wunschwirklichkeit, möglicherweise erstmal ernüchternd erscheinen könnte.
Der Filmheld war eben doch nur eine Phantasiegestalt. Wenn der Körper den Alkohol oder sonstige Rauschmittel abgebaut hat, verschwindet auch das vermeintlich angenehme, wohlige Gefühl.
Und hat man erkannt, dass der bislang für wahr gehaltene Gott ebenso fiktiv ist wie der Filmheld und dass Gebete in Wirklichkeit von keinen überirdischen Wesen erhört werden, so muss man erstmal damit klar kommen, dass man mit seiner eigenen Existenz selbst klarkommen muss.
Eine riesige Herausforderung. Und eine genauso riesige Chance. Genaugenommen die einzige Chance, derer man sich sicher sein kann.
Anfangen, selbstbestimmt zu denken und handeln
Was auf den ersten Blick für Gläubige vielleicht wie ein kaum zu bewältigender Verlust erscheinen mag, kann sich bei näherer Betrachtung durchaus als der größte Gewinn überhaupt entpuppen:
Ist es nicht aber Zeit, vom Sofa aufzustehen, die Chipskrümel abzuschütteln und die Kamera für den eigenen Film zu starten?
Ich ergänze: …statt weiter auf eine illusorische Belohnung im ebenso illusorischen Jenseits zu hoffen und sich vor einer ebenso illusorischen Bestrafung zu fürchten – für das „Vergehen“, den illusorischen Gott nicht als reales Wesen anzuerkennen?
Ja, es ist an der Zeit! Höchste Zeit! Die natürliche Wirklichkeit ist um Lichtjahre spannender, faszinierender, atemberaubender als jeder brennende Dornbusch, jedes menschliche Todesfolterungsopfer und alle sonstigen antiken Legenden zusammen!
Je mehr man sich mit der natürlichen Wirklichkeit befasst, also mit der, in der auch streng gläubige Christen nach links und rechts schauen, bevor sie eine viel befahrene Schnellstraße zu Fuß überqueren und in der auch Kirchen mit Blitzableitern ausgestattet sind, desto absurder dürfte es mit der Zeit erscheinen, sich als erwachsener, ansonsten aufgeklärter und kritisch denkender Mensch noch in religiöse Scheinwirklichkeiten zu flüchten.
Denn diese existieren bis zum Beweis des Gegenteils nur in der menschlichen Phantasie. Science Fiction ohne Science.
Unterscheidung von Schein und Sein
Wer trotzdem nicht darauf verzichten möchte, sollte aber – nicht zuletzt im Interesse der eigenen intellektuellen Redlichkeit – religiöse Gedanken genauso behandeln wie andere Illusionen und Fiktionen auch.
Man würde ja zum Beispiel Kindern auch nicht erzählen, dass sie ernsthaft die Ghostbusters® rufen sollen, wenn ihnen etwas unheimlich vorkommt… Denn deren Unterstützung ist genauso wenig realistisch und plausibel wie die von Göttern, Geistern oder Gottessöhnen.
Oder bleiben wir in der Statistenrolle und lassen andere in die Kamera lächeln?
…und traben weiter mit in der Herde? Weil wir uns dort so gut aufgehoben fühlen? Obwohl der Sinn einer Herde nur darin besteht, Nutztiere möglichst effizient zu führen?
Willkommen in der Wirklichkeit!
*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalartikel.
**Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Urhebers.
***Wir haben keinen materiellen Nutzen von verlinkten oder eingebetteten Inhalten oder von Buchtipps.
****Quelle: fb.com/datheisten
!!! „Und den Auftrag der Schulen, diese Werte, ihre Ursprünge und Grundlagen, auf denen sie basieren zu lehren, statt Kinder…