Das Wort zum Wort zum Sonntag, Thema Selbstoptimierung: Sein Herz an Gott verschenken

Lesezeit: ~ 6 Min.

Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Selbstoptimierung: Sein Herz an Gott verschenken verkündigt von Annette Behnken (ev.), veröffentlicht am 29.10.2016 von ARD/daserste.de

„Woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott“, Martin Luther hat das gesagt.*

Einiges von dem, was Martin Luther auch gesagt hat und was heute nur noch selten zitiert und von Religionsvertretern gern komplett weggelassen wird, ist auf www.martin-luther-2017.de nachzulesen. Gott kann alles Beliebige sein. Und das genaue Gegenteil davon. Gott ist eine vollkommen beliebig definierbare Größe. Sein Herz kann man an alles Beliebige hängen.

Nicht alles Götter – sondern…?

Also, mein Herz hängt ja an Vielem! Ohne, dass das alles Götter wären.

Frau Behnken, woran können Sie unterscheiden, was Götter sind und was nicht? Woran könnte jemand anders erkennen, was Götter sind und was nicht? Und wie passt eigentlich die Vorstellung von Göttern zu einer monotheistischen Religion?

Am Montag, am Reformationstag wird an so etwas wie einen Urknall der Erkenntnis gedacht, die Luther und die Menschen damals ergriffen hat.

Ausgerechnet die Urknalltheorie als Metapher für religiöse „Erkenntnisse“ zu verwenden, ist wahrlich paradox. Die Erkenntnisse, auf denen die Urknalltheorie basiert, wurden nicht durch religiöse Wahngedanken, sondern u. a. durch die Überwindung derselben gewonnen. Mit wissenschaftlichen Methoden.

Gott liebt nicht bedingungslos, jedenfalls nicht der biblische

Der Moment, in dem Luther sein Herz neu verloren, oder vielmehr: verschenkt hat. An Gott, der bedingungslos liebt.

Da Götter nur in der Phantasie von Menschen existieren, kann es natürlich schon sein, dass zum Beispiel der von Frau Behnken imaginierte Gott in ihrer Wunschvorstellung möglicherweise tatsächlich bedingungslos liebt.

Ein solcher Gott hat dann allerdings nichts mit dem biblischen Gott Jahwe zu tun, den auch die evangelische Kirchenlehre behauptet. Die angebliche Liebe dieses Wüstengottes, den sich Menschen in der Bronzezeit ausgedacht hatten, ist ist nämlich alles andere als bedingungslos. Im Gegenteil: Praktisch nichts in der Bibel ist so unmissverständlich formuliert wie die Tatsache, dass Gottes Liebe eben nicht bedingungslos ist. Zusammengefasst liest sich das so (Hervorbebung von mir):

  • Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden;
    wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.
    (Quelle: Markus 16,16 LB)

Demzufolge hätte der Mensch nicht mal eine Wahl, ob er sich von Gott lieben lassen möchte oder nicht. Vielmehr wird er mit ewigen physischen und psychischen Höllenqualen bedroht. Und zwar nicht etwa dafür, dass er zu Lebzeiten ein Arschloch war. Sondern einfach nur dafür, dass er sich von diesem Gott schlicht nicht geliebt fühlen mochte. Dabei hatte er vielleicht nur Glück und war vor Jahwe verschont geblieben?

Wie sollte das christliche Belohnungs-Bestrafungskonzept bei Menschen funktionieren, die mit diesem Gott niemals in Berührung gekommen waren? Das ist nur eine der vielen Absurditäten, mit denen Gottgläubige irgendwie klarkommen müssen. Wozu immer weniger bereit sind.

Glauben kann man alles beliebige – und das genaue Gegenteil

Aber glauben kann man wie schon angedeutet alles Beliebige. Und auf Wunsch auch das genaue Gegenteil. Wer keinen Wert auf die eigene intellektuelle Redlichkeit legt, kann sogar beides gleichzeitig glauben: An einen schizophrenen Gott und dessen angeblich bedingungslose Liebe, die aber nach biblischer Aussage eben ausdrücklich nicht bedingungslost ist.

Kein Gott hat sich je darüber beschwert oder sich zumindest dazu geäußert, wie Menschen ihn sich vorstellen. Götter sind völlig beliebig definierbare, menschliche Angst- und Wunschprojektionsflächen. Die alle beliebigen Eigenschaften haben können.

Sie feiert nicht: dass sich im Zuge der Reformation wieder einmal die Kirche gespalten hat. Und dass dann Kriege gegeneinander geführt wurden. Sie feiert nicht, dass Luther sich katastrophal abschätzig über Juden, Frauen und Bauern ausgelassen hat.

Wie kommt es, dass Luther heute nicht mehr wegen dieser genannten Eigenschaften, sondern aus anderen Gründen gefeiert wird? Was hat diese Reformation unterm Strich der Menschheit tatsächlich gebracht? Abgesehen freilich von denen, die damit ihr Geld verdienen?

Wir feiern einen besonderen Moment der Geschichte, der bis heute nachwirkt.

Welche positiven Folgen dieses „besonderen Momentes“ könnten die negativen Folgen auch nur annähernd aufwiegen? Luther hat den Gut-Böse-Dualismus (wir sind die Guten, alle anderen die Bösen) weiter verstärkt. Was die Zugehörigen der neuen „ingroup“ (die, die dazugehören) als positiv wahrnehmen, weil Luther sie im Vergleich zur früheren Sichtweise aufgewertet hatte, führte in Wahrheit nur zu einer weiteren Abgrenzung gegenüber der „outgroup“, also denen, die Luthers Ansichten nicht teilen wollten. Das wirkt bis heute nach.

Nach demselben Mechanismus (und mit erstaunlichen Parallelen) haben auch heute noch bzw. wieder Ideologien Erfolg, die genau dies tun: Menschen das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein und ihnen einzutrichtern, sich gegen den Rest der Welt (also alle, die nicht die eigenen Ansichten teilen) abgrenzen zu müssen.

Kirchen leben von Angst

Zu Luthers Zeiten hatten viele Menschen ihr Herz an die Angst verloren.

Wer genau hat viele Jahrhunderte lang fürstlich von genau dieser Angst gelebt? Und versucht dies bis heute? Wer bedroht Menschen mit ewiger Bestrafung und führt sie mit fiktiven Versprechen in die Irre? Wer ist darauf angewiesen, dass möglichst viele Menschen „ihr Herz an die Angst verloren“ haben? Um ihre hoffnungsvolle Illusion an den Mann, die Frau und das Kind bringen zu können?

[…] Wir machen uns selbst zum Gott unseres eigenen Lebens, wenn wir meinen, dass wir alles selbst verantworten, Karriere, Gesundheit, Schönheit, Glück. Aber wenn‘s schief geht, ist es unser Versagen. Krankheit, Leid, Scheitern und Traurigkeit sind nicht vorgesehen. Selbst schuld.

Was soll das denn bedeuten? Was in unserer Macht steht, haben wir natürlich selbst zu verantworten. Auch wenns schief geht. Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben, können wir kaum verantworten. Soll diese sicher absichtlich schleierhaft-nebulöse Formulierung die Absurdität eines Vorbestimmungsglaubens umschiffen? Wer sollte es denn sonst verantworten?

Für ein beglückendes, erfüllendes Leben ist es hilfreich, hier klar zu sehen. Und sich seiner eigenen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Chancen, aber natürlich auch der Schwächen, Probleme und Hindernisse bewusst zu sein. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisung. Sondern um rationales, reifes und wertschätzendes Verhalten, in diesem Fall sich selbst gegenüber.

Wenn man mal erkannt hat, dass es nicht der Klapperstorch ist, der die Kinder bringt, muss man eben herausfinden, wo Kinder in Wirklichkeit herkommen. Wieso fällt dieses bewährte rationale Denken immernoch so vielen Menschen so schwer, wenn es um Götter, Geister, Gottessöhne geht?

Selbstoptimierung – hartherzig und unmenschlich?

Selbstoptimierung ist das Stichwort. Das ist hartherzig und unmenschlich.

Das kommt darauf an, was man unter Selbstoptimierung versteht. Wenn Selbstoptimierung wie hier dargestellt heißt, dass ich mich selbst zum Glück zwinge und mich für Rückschläge schuldig fühle, dann würde ich kaum von Optimierung sprechen.

Vielmehr könnte man sich zur Selbstoptimierung aber auch an einem einfachen Grundsatz orientieren, wie es alle anderen Lebewesen auch machen: Nämlich sein Wohl zu mehren und Wehe zu vermeiden – als Mensch, ohne dabei gleichberechtigte Interessen Anderer zu verletzen. Oder im Volksmund: Ein jeder ist seines Glückes Schmied.

Eigennutz ist das genaue Gegenteil von hartherzig und unmenschlich. Jeder Mensch sollte sich der Herausforderung stellen, sein Leben nach seinen Möglichkeiten nach seinen Vorstellungen zu gestalten – ohne dabei gleichberechtigte Interessen Anderer zu verletzen. Dafür braucht es keine Götter, Geister, Gottessöhne. Und auch keine antisemitischen, rassistischen, frauenfeindlichen und obrigkeitshörigen Reformatoren aus dem Spätmittelalter.

Unmenschlich im wahrsten Wortsinn ist es hingegen, einen göttlichen Einfluss zu behaupten, für den es keinerlei seriöse Anhaltspunkte oder gar Belege gibt.

Worum gehts eigentlich?

Im Christentum hat nicht das Wohlbefinden von Menschen den höchsten Stellenwert. Sondern Jahwe. Zum Glück sieht das in unseren allgemeinverbindlichen modernen Gesellschaftsordnungen anders aus. Diese orientieren sich an der Würde und Freiheit des Menschen.

Wenn wir unser Herz verschenken, wie Luther, an Gott, der uns bedingungslos liebt – zuallererst und zuinnerst an ihn, was für eine Befreiung!

Es gibt ja auch Menschen, die es als befreiend empfinden, wenn sie gedemüdigt und erniedrigt werden. Und so kann man es sicher auch als befreiend empfinden, sein Herz an einen Gott zu verschenken. Der zwar nicht existiert, dessen Liebe man sich aber – genau deswegen – trotzdem als bedingungslos vorstellen kann – wenn einem die biblische Version nicht gefällt. Oder wie auch immer man es halt gerne hätte.

Wenn ich mein Herz verschenke an die Liebe zum Leben, an dieses große „Ja“, das mich trägt, mit allem Wunderbaren, allen Narben, allem Scheitern. Ein unfassbares Geschenk.

Was hat denn die Liebe zum Leben mit der angeblichen Liebe einer ebenso fiktiven Gottheit zu tun? Das Geschenk besteht darin, dass wir entgegen jeder Wahrscheinlichkeit einen Wimpernschlag lang als die Persönlichkeit auf Erden wandeln, die wir sind. Bevor wir wieder das werden, was wir vor der Geburt waren. Alles andere ist Spekulation.

Und wir müssen nichts tun, als es anzunehmen.

Die Herausforderung, unseres Glückes Schmied zu sein: Ja.

Was ist dein Gott?

Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott, sagt Luther.

Dazu heute mal ein Gedicht von Argyris Marneros:

  • DER GLÄSERNE GOTT
    Sie boten mir einen Gott an
    Aus Glas gemacht
    Und sie sagten mir knie nieder
    Ich hab‘ versucht
    Zu diskutieren zu erfahren –
    Und sie sagten mir knie nieder
    Ich sagte nein ich hab‘ gelacht
    Ich hab‘ geweint ich hab‘ gelitten
    Und sie sagten mir knie nieder
    Da ergriff ich den Götzen
    Und schleuderte ihn zu Boden
    Er zerbrach in tausend Stücke
    In jedem Stück
    Ein kleiner Gott
    Ein Lächeln
    In jedem Lächeln
    Das Bild meines Ichs
    Ich kniete nieder
    Vor meinen kleinen Göttern
    Und ich blieb
    Der Eine
    Der Einzige.
    – Argyris Marneros (geb. 1941)

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag.
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