Warum das Universum nicht nach einem Schöpfer aussieht

Lesezeit: ~ 3 Min.

Warum das Universum nicht nach einem Schöpfer aussieht. Ein Gastbeitrag von Marcus Müller.

1. Universum: Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen

Durch empirische Wissenschaft fügen sich die Puzzleteile zunehmend ineinander, die deutlich auf eine autopoietische Entstehung unseres Daseins und eine „emergente“(*) Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen hinweisen.

(*) Emergenz ist nur ein Begriff der mangelnden Erkenntnisfähigkeit unserer begrenzten Wahrnehmung und Kognition, nicht der wundersamen Entstehung neuer Eigenschaften aus dem Nichts, wenn sich Teile zu einem neuen Ganzen zusammenfügen.

  1. Das Universum ist auch ohne Schöpfer als physikalischer Prozess aus Quantenfluktuationen, als Entfaltung von mathematischen Möglichkeiten in einem Multiversum, als in sich selbst basierte Simulation von Möglichkeiten vorstellbar und erklärbar. Nicht lückenlos und nicht bis ins letzte Detail evident, aber detaillierter und plausibler als durch „Es war ein Gott“…
  2. Das Leben ist als einer von vielen thermodynamischen Prozessen entstanden, die sich als offene Systeme durch Nutzung von Energiezufuhr wie Inseln in der allgemeinen Entropie dieser entgegnen stellen, genauso wie Wirbel, die Energie aus Strömungen dissipieren oder Kristalle, die durch Verringerung der Enthalpie energetisch exergonisch bleiben und so trotz zunehmender Entropie kleine Oasen der Ordnung und Komplexität erreichen.
  3. Der biologische Evolutionsprozess erreicht zunehmende Ordnung ebenso nur auf Kosten von Myriaden verstorbener Fehlversuche, deren Leichenberge wir nicht sehen, und so fälschlich von einer lenkenden, konstruierenden Kraft ausgehen. Die systemtheoretische Autopoiesis (Selbsterschaffung) der Evolution basiert auf dem einfachen Prinzip der Selbstreplikation, wobei das Erzeugnis wiederum ein Erzeuger ist und so keinen externen Schöpfer benötigt, da einerseits durch einen mutativen Drift eine Anpassung an sich ändernde energetische Nischen möglich ist, wobei andererseits ein Scheitern dieser Adaption selektiv zum Aussterben dieser Linie führt.
  4. Der Zusammenschluss zu Mehrzellern brachte den Vorteil, durch Aufgabenteilung einen Überlebensvorteil zu erreichen. Eine große Rolle spielte für die kambrische Explosion der Artenvielfalt der erste biologisch verursachte Klimawandel zu einer energetisch „praktischeren“ Sauerstoffatmosphäre.
  5. Die evolutionär vorteilhafte Selektion der sexuellen „Zuchtwahl“, dass gesunde fitte überlebensfähige Partner einander bevorzugen, hat uns zugleich die Erweiterung der Neigung zur Selbsterhaltung auf Partner und Kinder als Phänomen der empathisch Liebe, aber auch den komplementären und antagonistischen Komplex der Geschlechtlichkeit gebracht.
  6. Diese Voraussetzungen wiederum ermöglichten den nächsten Schritt der komplexen Dynamik sozialer Zusammenschlüsse zu Schwärmen, Horden, Rudeln und Sippen.
  7. Das wiederum eröffnete den Vorteil des Phänomens der Kommunikation, um im Rahmen der Empathiefähigkeit, sich ins soziale Gegenüber besser hinein zu versetzen, aber auch Emotionen weiterzugeben, um besser kooperieren zu können.
  8. Kommunikation mit dem anderen aber ermöglichte, mit sich selbst zu kommunizieren, aus einem sich sein Dasein und homöostatischen Zustand bewusst fühlenden ein über sich wissendes erinnerndes autobiographisches Selbst zu machen. Aus einer unbewussten neuronalen seinen aktuellen Zustand wertenden Musterverarbeitung wurde schrittweise eine bewusste rekursive mentale Spiegelung des körperlichen Daseins in ein geistiges.

Diese Puzzleteile fügen sich zu einem einheitlichen Bild: Kein Schöpfer war erforderlich. Wir haben uns selbst erschaffen, indem wir uns blind als Spiel der Moleküle im thermonuklearen Sonnenlicht aus einfachen Molekülen in immer effektivere thermodynamische Energie-Nischen als Lebensmedium hineingetastet und so schließlich das Universum und uns selbst erkannt haben.

2. Theodizee

Man könnte nun sagen, dass vielleicht Gott die physikalischen Voraussetzungen geschaffen hat, damit das alles, Raum und Zeit, die Naturgesetze und -konstanten, die Mathematik und die Gesetze der Evolution entstehen konnten und voraus geplant hat, um seinen großen göttlichen Plan des Lebens, des Geistes und des Bewusstseins zu verwirklichen. Aber auch das ist ein logischer Trugschluss.

Die erweiterte Theodizee, nicht nur die Frage, warum Gott Leid zulässt, sondern überhaupt das Universum so geschaffen hat, dass unser evolutionärer Weg so schmerzhaft, so qualvoll auf dem Rücken von Myriaden Opfern, auf gigantischen, heute unsichtbaren und vergessenen Leichenbergen beschritten werden musste… Kann das der Plan, die beste aller möglichen Welten eines liebenden, allwissenden, allmächtigen Wesens sein?

3. Gott als Symbol

UniversumAlles was die Menschheit an Mythen erdacht und glaubend verfolgt hat, sind ganz offensichtlich menschliche Versuche, die Sehnsucht nach einer Welt mit weniger unnötigem kontraproduktivem Leid auszudrücken, Mut und Kraft zu erlangen, das Unmögliche anzustreben, um das Mögliche zu erreichen, Sinn, Identität und Gemeinschaft zu stiften und quälende Unwissenheit und Ungewissheit zu überwinden. Aber sie drücken nicht die Realität aus wie sie ist, sondern unseren eigenen Wunsch, unsere Werte, wie sie sein sollte.

Es geht also nicht darum, ob Gott als Wesen real existiert, sondern darum, dass es ein Symbol dafür ist, wie die Welt nach unseren Wünschen sein soll und den unerschütterlichen Glauben, dass wir es schaffen und nicht scheitern werden.

An diesen Gott glaube ich. Aber auch daran, dass wir pathologische Mythen abschütteln und gesündere Mythen entwickeln sollten, die uns trotz aller realistischen Anzeichen unseres baldigen Untergangs als Spezies aufgrund mehrerer durch unser ungeschicktes und traumatogenes Verhalten angestoßenen sozialen, ökologischen, klimatischen, ökonomischen und technologischen „Apokalypsen“ Mut machen, trotzdem nicht resigniert und zynisch aufzugeben, sondern einen Weg zu finden, unsere Linie nicht ihre energetische Nische verlieren zu und die Entropie gewinnen zu lassen.

Dazu müssen wir die Mythomotorik, die kulturgenerierende Kraft von Mythen, besser verstehen und ebenso von feudaler Macht befreien und selbst kreativ weiterentwickeln. Ich glaube daran, dass wir das schaffen werden und uns nicht auf das Wunschdenken an ein Level 2 im Jenseits verlassen und so in selbst verneinender Todessehnsucht selbst vernichten, sondern gemeinsam versuchen, diese Welt lebensbejahend zu einem erträglicheren Ort zu machen.

*Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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