Alternativen für Europa – Das Wort zum Wort zum Sonntag über Katharina von Siena

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Alternativen für Europa – Das Wort zum Wort zum Sonntag über Katharina von Siena, verkündigt von Gereon Alter, veröffentlicht am 29.04.2017 von ARD/daserste.de

„Ihr müsst ehrlich sein. Und Ihr müsst Euch Europa etwas kosten lassen.“ So hat sie es zwar nicht gesagt. Aber ich glaube, sie würde es heute genau so sagen. Katharina von Siena, die Patronin Europas. Heute jährt sich ihr Todestag.*

Katharina von SienaCaterina Benincasa, so der bürgerliche Name der Katharina von Siena, war eine Mystikerin, „geweihte Jungfrau“ und Kirchenlehrerin im 14. Jahrhundert. Ihre Biographie verrät, dass sie ganz offensichtlich unter einigen gravierenden Störungen gelitten haben muss.

So ist in ihrer Biographie zum Beispiel von bizarren Visionen und einem ausgeprägten Hang zur Selbstbestrafung durch Geißelung und andere Maßnahmen die Rede.

Mit den heutigen europäischen Werten hat Frau Benincasa indes eher nichts zu tun. Erst 1999 war sie zur Co-Patronin (wieso eigentlich nicht Matronin?) Europas ernannt worden. Zu ihren Lebzeiten herrschte in Europa gerade das ziemlich genaue Gegenteil dessen, was Europa ausmacht.

Ihr geistiger Horizont lässt sich zum Beispiel an diesem Zitat einschätzen:

  • „Und selbst wenn der Papst ein fleischgewordener Teufel wäre, statt eines gütigen Vaters, so müssten wir ihm dennoch gehorchen, nicht seiner Person wegen, sondern Gottes wegen. Denn Christus will, dass wir seinem Stellvertreter gehorchen.“ – Brief 207

Wie man einen fleischgewordenen Teufel von einem göttlichen Stellvertreter unterscheiden kann, verrät Katharina von Siena nicht.

Und dass die Werte unseres heutigen Europas eben nicht auf dem Gehorsam vor göttlichen Stellvertretern und auf dem Willen von angeblichen Gottessöhnen beruhen, liegt auf der Hand.

Wie stehts mit der eigenen Ehrlichkeit, Katharina von Siena?

Das Erste: Eben dieses „Ihr müsst ehrlich sein.“ Katharina von Siena ist eine Frau des offenen und ehrlichen Wortes gewesen. Was sie gesehen hat, das hat sie beschrieben.

Zum Beispiel ihre Stigmata, also ihre Jesus-Wundmale? Die allerdings nur für sie selbst sichtbar waren? Und wie steht es um Offenheit und Ehrlichkeit in Bezug auf wahrlich bizarre Visionen, unter denen Frau Benincasa offenbar gelitten hatte? Kann von Ehrlichkeit die Rede sein, wenn jemand von einer mystischen Hochzeit mit Jesus berichtet?

Natürlich mag es sein, dass religiöse Wahngedanken den Betroffenen wie wahre, ehrliche Tatsachen erscheinen. Aber was ist wahrscheinlicher: Dass es sich bei den Schilderungen der Katharina von Siena um Zeugnisse einer gravierenden Wahnerkrankung handelte oder um tatsächlich göttliches Wirken? Ihr müsst ehrlich sein.

Mit politischer Korrektheit und geistigen Schubladen konnte sie nicht viel anfangen.

Nein. Dafür war sie hoffnungslos in ihrer religiösen Schublade gefangen. So sehr, dass sie sich regelmäßig mit Eisenketten schlug. Über ihrem politischen Engagement stand immer ihre Verbundenheit zur Kirche.

Ums Haar wäre sie als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen gelandet, schaffte es dann aber doch irgendwie, den Klerus davon zu überzeugen, dass sie, obwohl weiblich und wohl auch aufrührerisch, doch zu den „Guten“ gehörte.

Irdische Wirklichkeit vs. religiöse Scheinwirklichkeit

Oder, liebe Frau Merkel: Wenn Sie denn der Auffassung sind, dass eine Türkei, wie sie sich gerade neu konstituiert, nicht zu Europa passt, dann sagen Sie es doch bitte ganz klar und ziehen Sie die entsprechenden Konsequenzen. Bei aller notwendigen Diplomatie: ich glaube nicht, dass uns ein fortwährendes Taktieren hier weiter bringt.

Einmal mehr stelle ich mir die Frage, was jemand zu politischen Themen beitragen kann, der in einer religiös erweiterten Scheinwirklichkeit lebt? Der noch nicht mal bereit ist, die irdische Wirklichkeit so anzunehmen, wie sie nun mal ist? Der noch ernsthaft auf die Existenz und das Wirken von überirdischen Wesen hofft und vertraut?

Natürlich mag jeder gerne seine Meinung öffentlich kundtun. Aber wieso muss das auch 2017 noch auf Staats- und damit auf unser aller Kosten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sein? Wieso muss u. a. auch ich dafür zahlen, dass mir jemand seine persönlichen politischen Ansichten mitteilt?

Jemand, der noch dazu in einer anderen Wirklichkeit lebt? Und vorgibt, Dinge zu wissen, die er nicht wissen kann? Nach dessen Glaubensauffassung er um so tugendhafter gilt, je unkritischer er Dinge selbst wider besseres Wissen für wahr hält?

Und das Zweite: „Ihr müsst Euch Europa etwas kosten lassen.“ Einheit und Friede haben ihren Preis.

Stimmt genau. Einen hohen Preis. Einheit und Friede wurden von Aufklärung und Säkularisierung gegen den erbitterten Widerstand des Christentums erkämpft. Erst nachdem die Macht der Kirche gebrochen war, konnte eine Entwicklung (wieder) beginnen, die über 1000 Jahre lang von der christlichen Kirche unterdrückt worden war.

Europa: Der Preis der Freiheit

Ausgerechnet eine zwar vielleicht unerschrockene, aber sicher auch psychisch schwerkranke, unter ekklesiogenen Neurosen und masochistischen Zwangsstörungen leidende Frau aus dem 14. Jahrhundert zur Patronin Europas zu erklären, erscheint mir geradezu absurd. Und geradezu ein Hohn denen gegenüber, die für die Schaffung der europäischen Grundlagen ihr Leben gelassen haben.

Bei der Patronin Europas kommt diese Einsicht aus einer tiefen Verbundenheit mit Jesus Christus. Dem war das Wohl anderer wichtiger als sein eigenes Wohl. Und das hat er sich etwas kosten lassen – am Ende sogar sein eigenes Leben. Das wird vielleicht nicht jeder nachvollziehen können. Aber doch zumindest den Grundgedanken: Ohne „die Anderen“ geht es nicht.

Wenn Jesus das Wohl der Anderen wichtiger gewesen wäre als sein eigenes Wohl, dann hätte er seine Todesfolterung abwenden und dafür noch länger für die Anderen da sein müssen.

Sich selbst zu Tode foltern zu lassen, hat genau nichts gebracht. Kein Gott hat sich dadurch mit den Menschen versöhnt. Keine Sünden wurden erlassen.

Und nach drei Tagen war die qualvolle Todesfolterung ja auch sowieso schon Geschichte – für alle Ewigkeit.

Indem sich Jesus hat kreuzigen lassen, hat er in keiner Weise zum Wohl auch nur eines einzigen anderen Menschen beigetragen. Dazu müsste es ja irgendwen oder etwas geben, der, die oder das dieses Menschenopfer angenommen hätte. Nach deren/dessen Maßstäben ein Menschenopfer überhaupt eine Bedeutung haben kann.

Und der, die oder das daraufhin seinen/ihren Allmachtsplan auch noch nachweislich geändert hätte. Nichts dergleichen ist, zumindest außerhalb menschlicher Phantasie, der Fall.

Risikofaktor Religiöse Beliebigkeit

Ein barsches „Britain zuerst!“ oder „Frankreich zuerst!“ stiftet weder Einheit, noch Frieden. Und ein deutschtümelnder Neonationalismus schon gar nicht.

Ja. Aber das hat nichts mit antiken christlichen Mythen und Legenden zu tun. Die eignen sich nämlich genauso perfekt zur Untermauerung von Nationalismus und Partikularismus. Wie ein Blick etwa zu unseren polnischen Nachbarn erschreckend eindrucksvoll belegt.

Es liegt einfach nur im Auge des Betrachters, wie er sich die christliche Glaubenslehre zurechtbiegt. Die für sich genommen eben keine eindeutige, unmissverständliche Aussage beinhaltet.

Ja, dann werden wir Toleranz auch gegenüber anderen Religionen aufbringen müssen. Aber das ist doch allemal besser, als ein „Christliches Abendland“ zu beschwören und damit ein „Europa gegen andere“ zu meinen.

Das „christliche Abendland“ beschwören in erster Linie Christen. Und solche, die sich dafür halten und die ganz offensichtlich keinen Schimmer von „Christlich“ und von „Abendland“ haben.

Wo die Grenzen der Toleranz liegen, beschreibt Dr. Michael Schmidt-Salomon in seinem gleichnamigen Buch.**

Und ja, dann werden wir uns auch unsere Sicherheit etwas kosten lassen müssen. Aber das ist doch allemal besser, als unsere Freiheit aufzugeben.

Eine Freiheit, die auch Gläubigen ihre Religionsfreiheit garantiert. Und allen anderen die Freiheit von Religion. Das würde die Kirchen sicher eine Menge kosten, verglichen zu ihrer heutigen (Noch-)Situation: Geld, Macht und Mitglieder.

Die eigentlichen europäischen Werte

„Ihr müsst ehrlich sein. Und Ihr müsst Euch Europa etwas kosten lassen!“ Ich glaube, dass uns die Patronin Europas da auf eine ziemlich gute Spur führt.

Wenn wir ehrlich sein müssen, dann dürfen wir nicht Menschen mit fragwürdigem Geisteszustand aus dem Mittelalter Zitate in den Mund schieben, die diese niemals gesagt haben. Nur weil sie uns gerade so in den Kram passen und weil man irgendwie eine Verbindung zwischen dem Gedenktag der Katharina von Siena und der Gegenwart herstellen möchte.

Mag sein, dass die vom Chef-Heiligsprecher Papst Johannes Paul II. zur Mit-Patronin von Europa erklärten Frau vielleicht zu ihrer Zeit Außergewöhnliches unternommen haben mag. Dass uns Katharina von Siena deshalb aber heute auf eine „ziemlich gute Spur führt“, bezweifle ich stark.

Ziemlich gute Spur?

Vielleicht führt sie ja den Vatikan auf die Spur, mal UNO-Mitglied zu werden und endlich mal die Menschenrechte anzuerkennen und umzusetzen? Oder die Kirchen in Deutschland, dass sie auf ihre völlig unverhältnismäßige Sonderprivilegierung und Subventionierung verzichten und ihre Interessen künftig als e.V. oder IG vertreten? So von wegen: „Ihr müsst Euch Europa etwas kosten lassen!“ und so?

Statt sich die Biographie einer Katharina von Siena irgendwie scheinbar passend zurechtzubiegen, halte ich es für wesentlich sinnvoller und wichtiger, sich mit den 6 europäischen Werten zu befassen, die die Grundlage von offenen und freien Gesellschaften darstellen.

Dazu ist es nicht erforderlich, sich Zitate für „Heilige“ aus dem finsteren Mittelalter auszudenken. Dies birgt nebenbei noch die Gefahr der Legendenbildung: Einer sagt: „Das hätte sie sagen können„, der nächste sagt: „Das hat sie gesagt“ usw. Auf diese Art und Weise lernten dereinst schon Götter das „Sprechen.“

Man kann sich stattdessen einfach direkt an den humanistischen Werten orientieren.

Sonst sieht es allzusehr nach einem verzweifelten Versuch aus, die eigenen Heldinnen und Helden und damit die Relevanz des Christentums noch irgendwie in der gegenwärtigen Wirklichkeit unterzubringen.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalartikel.
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***Bildquelle: Wikipedia/gemeinfrei

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