Du siehst mich! … – Gedanken zu Nachgedacht… (229)

Lesezeit: ~ 7 Min.

Du siehst mich! … – Gedanken zu Nachgedacht… (229), Originalbeitrag verfasst von Christina Lander, veröffentlicht am 28.5.2017 von osthessennews

Die Losung des diesjährigen evangelischen Kirchentages […] Es ist der Bibelvers: „Du siehst mich!“*

Wie immer, wenn Sätze oder Halbsätze aus der Bibel zitiert werden, lohnt sich ein Blick auf den Text, aus dem das Fragment stammt. Und so ist es auch hier einmal mehr interessant, wer diesen Satz laut biblischem Mythos eigentlich überhaupt gesagt hat und in welchem Zusammenhang.

Die Stelle stammt aus dem Alten Testament. Also aus dem Teil der Bibel, der von Christen gerne als „nicht mehr gültig, weil durch das Neue Testament „aufgehoben“ bezeichnet wird. Mit diesem Trick versucht man, das widerlich-grausame, inhumane und über weite Strecken geradezu lächerlich-groteske Gottesbild zu bewältigen.

Und wenn man dann doch wieder irgend ein paar Worte aus diesem Teil der Bibel für irgendeine gewünschte Interpretation gebrauchen kann, dann beruft man sich einfach darauf, dass ja die ganze Bibel Gottes Wort sei. Diese Argumentationstaktik erinnert an Strategien, die gerne von spielenden Kindern angewendet werden: „Die Bibel wäre halt Gottes Wort.“ – „Das Alte Testament wäre halt nicht mehr gültig.“ usw.

Du siehst mich – sagte wer, und warum?

Der Text, aus dem „Du siehst mich“ stammt, scheint offenbar nicht zu den Teilen des Alten Testaments zu gehören, die durch das Neue Testament aufgehoben wurden. Da auffallend viele Christen die biblischen Mythen und Legenden nicht kennen, hier eine kurze Zusammenfassung des Textes:

Die Frau von Abram konnte keine Kinder bekommen, weil der „HERR“ sie verschlossen habe. Um ihrem Mann den Kinderwunsch zu erfüllen, schickte sie ihn zu ihrer ägyptischen Magd. Bei der klappte es dann auch direkt mit dem schwanger werden. Mit einem Kind vom Chef im Bauch hatte die Magd nun keine Lust mehr, sich ihrer Herrin unterzuordnen. Das passte der Frau Sarai (so hieß die Herrin) natürlich gar nicht.

Zum Ausgleich für diese Ungerechtigkeit verwünschte sie ihren Mann: „Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich!“,** verwünschte sie daraufhin ihren Mann, weil dessen Kinderwunsch ja erst zu dieser Situation geführt hatte. Der wies alle Schuld von sich: „Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt.“

Diese Anweisung sagt einiges über das damals wohl übliche Verhältnis zwischen Herrscher(innen) und ihren Angstellten aus. Die Bezeichnung „Magd“ darf man deshalb wohl auch eher als euphemistische Umschreibung für „Sklavin“ betrachten.

Das ließ sich die düpierte Ehefrau nicht zwei Mal sagen. Und sie demütigte ihre Untergebene, woraufhin die das Weite suchte. Da hatte Gott offenbar die Faxen dicke. Und mischte sich, quasi als Mediator, in das Geschehen ein. Durch einen Engel ließ er der geflohenen Magd ausrichten: „Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand.“

Und in anschaulichen Bildern schwärmte der Engel der Leihmutter vor, was für ein toller Sohn da in ihr heranwuchs: „Er wird ein Mann wie ein Wildesel sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen.“

Quasi als Entschuldigung für ihr Verhalten rechtfertigte die Leihmutter ihre Pflichtverletzung als Magd: „Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“ – „Ich bin ja extra geflohen, um nach dir, lieber Gott, zu schauen, weil du ja auch nach mir schaust!“

Faule Ausrede

Der zu „Du siehst mich“ verkürzte Satz stammt also aus dem Mund einer ägyptischen Sklavin, nachdem Gott ihr hatte befehlen lassen, sich wieder ihrer Herrin unterzurdnen, von deren Mann sie auf deren Anraten hin schwanger geworden war und nachdem diese sie gedemütigt hatte, weil sie, die Sklavin, sich offenbar in den Kindsvater verliebt hatte.

Im biblischen Kontext ist dieser Satz also einfach nur eine ziemlich lahme Ausrede einer ägyptischen Untergebenen für ihr, aus damaliger Sicht unrechtmäßiges Verhalten, ihr Arbeitsverhältnis wegen Mobbings fristlos zu beenden.

Weiter räumt die Sprecherin mit diesem Satz ein, dass sie die Allwissenheit Gottes anerkennt. Und dass sie weiß, dass sie nicht mal ihre geheimsten Gefühle, die sie offenbar für den Kindsvater und Mann ihrer Herrin hegt, vor Gott verstecken kann.

Verständlicherweise lässt sich mit dieser, aus heutiger Sicht grotesken Geschichte nur noch wenig anfangen. Was Christen aber nicht davon abhält, sich einen einzigen Satz aus dem Zusammenhang zu picken. Und diesen so umzuinterpretieren, dass er den eigenen Wünschen und Sehnsüchten entspricht:

Diese paar Worte lassen sich wunderbar brandaktuell auslegen: Gott sieht den Menschen, er blickt ihn an.

Das klingt natürlich gleich viel sympathischer als die eigentliche Aussage: „Gott weiß selbst deine geheimsten Gedanken. Du hast keine Chance, irgendetwas vor ihm zu verheimlichen. Deine Gedanken sind nicht frei, sondern sie werden lückenlos und jederzeit von einem göttlichen Kontrollfreak überwacht. Und jetzt marsch-marsch, zurück an die Arbeit, wo du dich gefälligst demütigen lassen sollst. Dafür bekommst du auch einen Sohn wie ein Wildesel, versprochen.“

Sehen und gesehen werden

Und die Menschen von heute wollen doch gesehen werden:

Ja. Und zwar von anderen Menschen. Ob und wenn ja wie wir außerdem noch von außerirdischen übernatürlichen Wesen gesehen werden, spielt keine Rolle, solange diese Wesen sowieso nicht in Erscheinung treten. Es macht keinen Unterschied, ob Jahwe, das Fliegende Spaghettimonster, Käpt`n Blaubeer oder =§fel5rG uns angeblich „ansieht.“

[…] Der Wunsch, gesehen zu werden, ist natürlich: Ein Mensch möchte wahrgenommen werden, denn wer gesehen wird, existiert.

Götter haben demnach offensichtlich nicht den Wunsch, gesehen zu werden. Für einen Allmächtigen müsste es ja ein Kinderspiel sein, von allen und eindeutig erkennbar gesehen zu werden. Dann bräuchte niemand mehr einfach nur so zu tun, als würde der jeweils behauptete Gott tatsächlich existieren.

Aus irgendwelchen Gründen scheint der Christengott aber lieber (wie seine tausenden Götterkollegen auch) ein riesen Geheimnis aus seiner Existenz machen zu wollen. Und darauf zu hoffen, dass er trotzdem von möglichst vielen Vertretern einer bestimmten Trockennasenaffenart für existent gehalten und verehrt wird. Man könnte fast Mitleid haben mit einem solch armseligen Gott, wenn man ihn nicht mindestens im Punkt „unterlassene Hilfeleistung trotz Allmacht“ anklagen müsste.

Immer mehr Menschen durchblicken den Bluff. Sie erkennen, dass es sich bei religiösen Heilsversprechen um nichts weiter als um menschliche Fiktion handelt. Immer mehr Menschen legen keinen Wert mehr darauf, Götter für wahr zu halten. Der Vorstellung, sich ständig und bis ins Innerste hinein von einem Gott beobachtet zu fühlen, sorgt bei immer mehr Menschen eher für befremdliche Abscheu als für ein Gefühl von Geborgenheit. Die Folge: Drastischer Besucherschwund beim evangelischen Kirchentag 2017, die Schäfchen verlassen in Scharen die Herde. Oder bleiben gleich von der Mitgliedschaft verschont…

Wirklichkeit, Sein und Schein

Doch erfüllt das Gesehenwerden, so wie es mit Fotos und Videos forciert wird, tatsächlich den Zweck, dass wir wirklich wahrgenommen werden? Dass wir wirklich angeblickt werden? Kann ein „(Ab-)Bild“ von uns unsere Person würdigen? Oder sind Bilder mehr Schein als Sein?

Selbst ein virtuelles „Angesehen-werden“ ist realer als die Idee, ein Gott würde uns ansehen. Natürlich können Personen durch Fotos und Videos gewürdigt werden. Denn Bilder können tatsächlich wahrgenommen werden. Anders als Götter. Die sind bis zum Beweis des Gegenteils nämlich ausnahmslos alle Schein. Eine zweckdienliche Kollektivillusion. Das Angesehen-werden, die Anerkennung durch einen Gott ist völlig wert- und belanglos.

Deswegen sollten wir uns überlegen, wie tatsächliches Ansehen im Sinne der Nächstenliebe, im Sinne Gottes gemeint ist: Gott sieht nicht auf die Fassade, er sieht das wahre Innere, das den Menschen ausmacht, was ihn beschäftigt, was ihn berührt.

Wer behauptet, zu wissen, was im Sinne Gottes ist, gibt vor, etwas zu wissen, was er nicht wissen kann. Nicht, weil es angeblich irgendeinen obskuren Kontrollgott gibt, der vollen Zugriff auf das Bewusstsein aller Menschen (oder nur aller Christen?) hat, sollte man sich mit den Mitmenschen nicht nur oberflächlich befassen. Sondern der Mitmenschen wegen.

Und anders als dieser himmlische Voyeur sollten wir uns und unseren Mitmenschen natürlich und auch bei noch so großer Neugierde eine ganz persönliche und höchst private Gedankenwelt zugestehen.

Gott sieht auch, was der Mensch Gutes tut, er erfreut sich daran. Sollten wir nicht auch unsere Mitmenschen so anschauen?

Nach welchen Maßstäben beurteilt Gott, was gut ist und was nicht? Könnten das zufällig immer genau die eigenen Maßstäbe sein? Wenn er sich daran erfreut, warum hat er die Menschen dann nicht so geschaffen, dass sie nur Gutes tun? Warum verzichtet er augenscheinlich darauf, sich diese Freude zu machen?

Gott zu Gast beim evangelischen Kirchentag 2017 in Berlin…

Wie soll man sich das überhaupt konkret vorstellen? Da existiert also irgendwo ein übernatürliches (was auch immer damit gemeint sein soll) Wesen, das der Menschheit so zuschaut und sich dann immermal so denkt: „Minsch, dit haste jetz aber ma juti jemacht, ick freu mir! Und nu lass dir ma hübsch weiter demütijen, wa! Ick schau mal solang, wat die annern so treiben… Wir sehn uns!“ ?

Was für einen Charakter, was für moralische Standards hat ein Gott, der sich eine Welt wie diese – offenbar zu seinem Amusement – erschafft? Wie lässt sich diese Welt mit der Vorstellung eines allmächtigen und allgütigen Schöpfers in Einklang bringen? Jedenfalls nicht mit klarem Menschenverstand.

Ich halte es für ein arges Armutszeugnis, wenn jemand die zurechtinterpretierte Vorstellung eines allwissenden Gottes, der sich an „Gutem“ erfreut als Begründung braucht, um darauf zu kommen, dass man seinen Mitmenschen grundsätzlich mit Respekt bzw. Toleranz und Offenheit begegnen sollte.

Fazit: Es ist völlig irrelevant, ob uns irgendwelche Wesen, die bis zum Beweis des Gegenteils nicht außerhalb der menschlichen Phantasie existieren, sehen oder nicht. Genauso unsinnig wie diese Behauptung aufzustellen ist es, daraus irgendwelche angebliche göttliche Eigenschaften oder Absichten abzuleiten. Oder gar Verhaltensregeln für das Zusammenleben der Menschen im 21. Jahrhundert.

Keine Sache der Götter

Das (zwischen-)menschliche Verhalten ist eine rein menschliche Angelegenheit. Selbst wenn es, entgegen jede Wahrscheinlichkeit, Plausibilität und Logik den biblischen Gott mit den dort genannten Eigenschaften tatsächlich geben würde: Es würde keinen einzigen Unterschied machen, ob dieser uns sieht und was er dabei empfindet.

Und selbst wenn es zwar nicht diesen, aber irgendeinen anderen der vielen tausend Götter geben sollte, die sich die Menschheit schon ausgedacht hat: Solange keiner dieser Götter seriös belegbar in Erscheinung tritt, gibt es keinen vernünftigen Grund, einen davon als tatsächlich existierend anzuerkennen.

Vermeintlicher göttlicher Wille ist eine denkbar schlechte Basis für ethische Standards. Denn der göttliche Wille kann quasi beliebig so umgebogen werden, dass er zu jeder beliebigen Sichtweise passt.

Und so können sich auch welche, die den Willen Gottes besser zu kennen behaupten, ganz schnell auch wieder Sätze wie diese schreiben:

  • „Mein Führer! In dieser Stunde, wo Sie dabei sind, die letzten Reste der Gottlosigkeit und der Unwahrhaftigkeit und des Mordens zu bekämpfen und dem gottlosen Bolschewismus ein Ende zu machen, versichern wir Ihnen, dass die ganze Evangelische Kirche hinter Ihnen steht mit ihren Gebeten für Sie und unsere unvergleichlichen Soldaten …“ (Quelle: MIZ 1/17 Seite 8. Aufsatz von Karsten Krampitz „Jedermann sei untertan“ – Deutscher Protestantismus.)

Und selbst das Filetstück der christlichen Ideologie, die Nächstenliebe, wird gerade eben in gewissen Kreisen wieder zu dem umgedeutet, was es im biblischen Sinne tatsächlich meinte: Liebe deinen Nächsten – vom Fernsten war nie die Rede…

*Quelle der in diesem Abschnitt kursiv gekennzeichneten Stellen: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
**Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag.
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