Staunen lernen – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 5 Min.

Staunen lernen – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündet von Elisabeth Rabe-Winnen (ev.), veröffentlicht am 23.12.2017 von ARD/daserste.de

Ich freue mich auf morgen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, und besonders freue ich mich auf die Kinder -. die werden morgen in unserer Kirche wieder mit staunenden Augen vor dem großen Baum stehen. Und dann singen sie mit roten Wangen: „Alle Jahre wieder kommt das Christuskind auf die Erde nieder wo wir Menschen sind.“ Kinder können das noch: Staunen über das Wunder der Weihnacht.*

StaunenWas für eine großartige Leistung: Kindern einreden, es handle sich bei der eigenen für wahr und bedeutsam gehaltenen Wüstenmythologie um etwas Staunenswertes. Kinder können das mitunter noch nicht: Zuverlässig zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden. Diesen Umstand macht sich die Kirche perfiderweise zu Nutze. Und setzt genau hier mit ihrer frühkindlichen Indoktrination an.

Dass in Wirklichkeit das Christuskind bestenfalls so alle Jahre wieder auf die Erde nieder kommt wie die Sieben Zwerge abends von der Arbeit im Bergwerk zu Schneewittchen zurückkommen, verschweigen die Erwachsenen. Und sind noch stolz auf sich, wenn es ihnen gelingt, ihre Kinder erfolgreich in die Irre zu führen.

Sehnsucht nach Staunen?

[…] Wir als Erwachsene sind nüchterner als die Kinder. Der Zauber und das Geheimnis – dem sind wir entwachsen. Zugleich schmücken wir die Häuser, entzünden Kerzen, kaufen Geschenke, schreiben Weihnachtspost. Ich glaube: Weil die Sehnsucht nach dem, was die Kinder staunen lässt, doch auch noch in uns wohnt.

Die irdische natürliche Wirklichkeit bietet doch so viel mehr Spannendes und Faszinierendes als eine absurde und noch dazu abgekupferte Geburtslegende, die Menschen im Vormittelalter zu bestimmten Zwecken aufgeschrieben hatten.

Die frühkindliche religiöse Inodktrination wirkt mitunter so stark, dass manche Menschen es ein Leben lang nicht schaffen, diese Inhalte als menschliche Fiktion zu durchschauen. So stark kann die Hoffnung sein, dass die Illusion vielleicht doch mehr als das sein könnte, was sie ist: Eine Illusion.

Das Staunen ist, denke ich, die Haltung, die am besten zur Weihnacht passt.

Das Staunen ist, denke ich, die Haltung, die wir uns abgewöhnen sollten:

Es war einmal…

Weihnachten – versteht sich nicht von selbst. Die Hirten trauten ihren Augen kaum. So erzählt es die Geschichte, die altbekannte. Wir lesen sie morgen wieder in den Kirchen. „Es begab sich aber zu der Zeit…“

Um wieviel ehrlicher und redlicher wäre diese Geschichte, wenn sie stattdessen mit „Es war einmal…“ anfangen würde. Denn historisch betrachtet ist es höchst unwahrscheinlich, dass auch nur wenigstens Teile dieser Geschichte tatsächlich so geschehen sind, wie sie in den biblischen Texten berichtet werden. Vielmehr deutet die kritische Bibelforschung darauf hin, dass die ganzen Gottessohn-Geburtslegenden frei erfunden sind.

Und dann kam der Engel und sprach seine Worte gegen die Angst. Weihnachten ist nicht selbstverständlich. Auch wenn wir die Geschichte schon so oft gehört haben, dass wir nicht mehr staunen wie die Kinder. Es ist eine erstaunliche Geschichte: Gott zeigt sich – so glauben Christen – als echter Mensch. Verwundbar geboren. Dreckig und klein. Und lässt sich verwunden – später – als Mann. Schweiß tropft, Blut und Tränen. Gott bleibt nicht im Himmel. Sondern auf ein Mal wird der Himmel ganz nah. Und aus dem Himmel flüstert es „Fürchte dich nicht!“ und Gesang erfüllt die Erde.

Erstaunlich finde ich an dieser Geschichte bestenfalls den Umstand, dass es offenbar auch im 21. Jahrhundert noch erwachsene, ansonsten vermutlich aufgeklärt und klar denkende Menschen gibt, die sie für irgendwie bedeutsam oder tröstlich halten.

Fürchte dich nicht – aber nur, wenn du glaubst

Betrachtet man die Geschichte innerhalb der religiös erweiterten Scheinwirklichlichkeit, dann ist wahrlich nichts Besonderes daran, dass ein Allmächtiger mal eine Jungfrau schwängert, um selbst in der Form eines Vertreters der von ihm bevorzugten Trockennasenaffenart auf Erden zu wandeln. Im Gegenteil, es erscheint geradezu lächerlich, dass einer, der ja auch das ganze Universum geschaffen haben soll, einen solch umständlichen Weg gewählt haben soll, um mal mit einer seiner drei Persönlichkeiten auf Erden vorbeizuschauen. In früheren Kulten waren praktisch alle Herrschersöhne auch gleichzeitig Gottessöhne.

Und in der irdischen Wirklichkeit spielt lediglich die Vorstellung von Menschen eine Rolle, die im vermeintlichen Namen und Auftrag Gottes schon alles Mögliche veranstaltet haben – von Nächstenliebe bis zum Angriffs- und Vernichtungskrieg.

Im Staunen üben – aber warum eigentlich?

Wie können wir das Staunen wieder lernen? Vielleicht so – ganz vorsichtig: Wir können dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten. Warten. Hoffen. Und dann: überrascht werden. Berührt sein. Ich weiß: Es spricht viel dagegen. Ich weiß: wir sind keine Kinder mehr. Ich weiß: der Zauber von damals und diese ungestüme ungebremste Freude mussten mit den Jahren weichen oder wurden von Tränen und Enttäuschungen überlagert. Und doch sehnen wir uns. Ich will mich im Staunen üben. Darin, alles zu hören und zu sehen als wäre es das erste Mal.

Um Staunen in diesem Sinn wieder zu lernen, muss man nicht dem Wunder die Hand hinhalten. Sondern vielmehr mit der Hand den eigenen Verstand, die Vernunft und die eigene intellektuelle Redlichkeit abdecken. Dinge für wahr und bedeutsam halten, die bis zum Beweis des Gegenteils nun mal nicht wahr sind. Man muss sich schrittweise selbst täuschen. Und kann dann darüber staunen, wenn das funktioniert.

Überrascht wird man dann allerdings höchstens, wenn einem bewusst wird, dass es ja faktisch überhaupt keinen Unterschied macht, ob man irgendwelche absurden Gottessohnlegenden für wahr und bedeutsam hält oder nicht. Nicht auf Erden lässt sich redlicherweise in einen ursächlichen Zusammenhang mit magischen Himmelswesen bringen. Oder deren Söhne. Wohingegen die Herausforderungen , aber auch die eigenen Möglichkeiten und Chancen sehr real sind.

Erwachsen staunen?

Wie meine Tochter – und doch auch anders: Ich will erwachsen staunen – mit dem Kind in mir und zugleich mit allen Erfahrungen, die ich gemacht habe.

Dann sollten Sie am besten Strategien entwickeln und kultivieren, mit denen Sie das unangenehme Gefühl der kognitiven Dissonanz zwischen Ihrem irrealen religiösem Wunschdenken und der natürlichen, täglich beobacht- und erlebbaren Wirklichkeit bewältigen können.

Vermeiden Sie es am besten, sich mit der Frage nach der Plausibilität Ihrer Glaubensgewissheiten auseinanderzusetzen. Je bereitwilliger Sie diese Behauptungen für wahr halten und je weniger Sie diese hinterfragen, desto frommer und tugendhafter gelten Sie in Ihrer Religionsgemeinschaft.

Je weniger Sie denken, desto einfacher und bereitwilliger glauben Sie. Tun Sie das gerne, wenn Sie es für sinnvoll halten. Aber bitte auf eigene Kosten. Und vielleicht lieber in Ihren eigenen vier Wänden statt im Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen, jedenfalls dann, wenn Sie auch weiterhin ernst genommen werden möchten.

Gott legt nichts in unsere Hand

Halten wir dem Wunder leise die Hand hin. Und warten. Und dann legt Gott etwas hinein. „Ein Kind ist uns gegeben.“ Gott drückt es der Welt in die Arme.

Um es sich später als Menschenopfer temporär zu Tode foltern zu lassen, um so den Menschen seine Liebe zu beweisen. Welch beeindruckender Ausdruck göttlicher Allmacht und Allgüte!

Und morgen steh ich wieder an dieser Krippe und unter dem Kreuz und lasse mein Herz füllen vom Weihnachtswunder . Die Geschichte, die altbekannte, sie endet so: „alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten…“, also wundern wir uns wieder! Ich wünsche Ihnen gesegnete Weihnachten!

Oder hören wir einfach mal auf uns zu wundern! Und freuen wir uns stattdessen, dass wir in einer offenen und freien Gesellschaft leben dürfen! Die täglich unseren Einsatz verlangt! Weil es Göttern völlig egal ist, was hienieden vor sich geht.

Und wenn wir uns schon unbedingt wundern müssen, dann wundern wir uns, dass es uns bisher noch nicht aufgefallen war, dass wir so lange auf einen von Menschen zu bestimmten Zwecken erdachten, groß angelegten Schwindel hereingefallen waren. Alle Jahre wieder.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag.

FacebooktwitterredditpinterestlinkedintumblrmailFacebooktwitterredditpinterestlinkedintumblrmail

Deine Gedanken dazu?

Fragen, Lob, Kritik, Ergänzungen, Korrekturen: Trage mit deinen Gedanken zu diesem Artikel mit einem Kommentar bei!

Wenn dir der Artikel gefallen hat, freuen wir uns über eine kleine Spende in die Kaffeekasse.

Bitte beachte beim Kommentieren:

  • Vermeide bitte vulgäre Ausdrücke und persönliche Beleidigungen (auch wenns manchmal schwer fällt...).
  • Kennzeichne Zitate bitte als solche und gib die Quelle/n an.
  • Wir behalten uns vor, rechtlich bedenkliche oder anstößige Kommentare nicht zu veröffentlichen.

Schreibe einen Kommentar

Ressourcen

Gastbeiträge geben die Meinung der Gastautoren wieder.

Wikipedia-Zitate werden unter der Lizenz Creative Commons Attribution/Share Alike veröffentlicht.

AWQ unterstützen

Jetzt einfach, schnell und sicher online bezahlen – mit PayPal.

Wir haben, wenn nicht anders angegeben, keinen materiellen Nutzen von verlinkten oder eingebetteten Inhalten oder von Buchtipps.

Neuester Kommentar