Geschichten aus dem Hinterhof – Das Wort zum Wort zum Sonntag zu Urban Prayers

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Geschichten aus dem Hinterhof – Das Wort zum Wort zum Sonntag zu Urban Prayers von Dr. Wolfgang Beck (kath.), veröffentlicht am 4.8.2018 von ARD/daserste.de

[…] Bewusst aufgesucht hat solche Hinterhöfe der Schriftsteller und Theaterschaffende Björn Bicker. Der hat dort Spannendes entdeckt und Gespräche geführt. In früheren Büro- und Geschäftsräumen hat er Religionsgemeinschaften gefunden, die irgendwie ihr Zusammenleben auf engem Raum organisieren. Da sind freikirchliche Christen, Muslime und Hindus und die meisten von ihnen haben Migrationsgeschichten. Praktisch und pragmatisch geht es zu, alle verbindet ein ähnliches Schicksal, die Sorge um unbezahlte Rechnungen und die Zukunft der Kinder zum Beispiel. Hier werden nicht die Fragen zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund diskutiert. Hier wird eher angepackt, statt debattiert.*

Die Themen, die die Menschen, um die es hier geht vereint, ist das ähnliche Schicksal: Wie bewältigen wir unser Dasein, wie kommen wir über die Runden, wie sieht unsere Zukunft aus? Und die unserer Kinder?

Zur Beantwortung dieser Fragen sind praktische und pragmatische Lösungen unerlässlich. Denn Gebete, egal zu welchen Göttern, verhallen ungehört oder zumindest unerhört.

Urban Prayers: Welche Rolle können und sollen Religionen heute noch spielen?

Da stellt sich mir die Frage, welche Rolle Religionen hier und heute überhaupt spielen. Sie bieten den jeweiligen Anhängern ein Identifikationsmerkmal. Etwas, das sie vereint. Sie halten sich an die gleichen Regeln und Vorschriften, verehren die gleichen Götter, lesen die selbe „Heilige Schrift“…

Dabei wird auch sichtbar, wie wichtig vielen Menschen ihre Religion und die Gemeinschaft darin ist, gerade wenn sonst für sie so viel unsicher ist.

Die Sicherheit, die Religionen bieten können, ist ein gesellschaftliches Phänomen. Nicht, weil ihre Religion irgendwie wahrer oder ihr jeweiliger Gott irgendwie mächtiger wäre.

Sondern weil es sich gut anfühlt, von Menschen umgeben zu sein, die so ähnlich denken und handeln wie man selbst fühlen sich Religionen für ihre Anhänger wohlig-beschützend an. „Ich bin nicht allein, andere glauben das Gleiche wie ich.“

Gerade bei den monotheistischen Religionen dienen diese vereinenden religiösen Elemente in erster Linie dazu, den Zusammenhalt innerhalb der Glaubensgemeinschaft zu stärken und um sich gegen Glaubensfreie und Andersgläubige abzugrenzen bzw. die eigene Gruppe über diese zu überhöhen („Auserwähltes Volk, Kinder Gottes, Unwürdige, Heiden...“).

Monotheistische Religionen: Im Kern abgrenzend und trennend

Auch wenn liberale(re) Religionsanhänger das heute gerne anders darstellen (oder auch tatsächlich anders sehen): In ihrem Kern sind monotheistische Religionen auf Abgrenzung ausgelegt. Und nicht auf Völkerverständigung. Besonders deutlich wird das bei den religiösen Ideologien, die einen Missionsauftrag im Programm haben und die den Anspruch erheben, die jeweils einzig wahre Religion zu sein.

Diese Lehren fordern von ihren Anhängern ein Verhalten, das kaum den Standards einer offenen und freien Gestellschaft entspricht.

Welche Rolle können bzw. sollten Religionen also in einer offenen und freien Gesellschaft spielen? Haben sie ein friedliches, offenes Miteinander aller Menschen zum Ziel? Oder behindern sie dieses eher?

Wenn ich die Aussage von Urban Prayers richtig interpretiert habe, dann gelingt das Zusammenleben von Menschen mit verschiedener religiöser Identität dann, wenn diese Menschen beginnen, die trennenden und ausgrenzenden Elemente ihrer Religionen zu ignorieren und sich stattdessen „praktisch und pragmatisch“ um ein friedliches Miteinander bemühen.

Mitmenschlichkeit statt Abgrenzung

Vereinfacht gesagt: Je weniger Gläubige bestimmte Vorschriften ihrer Religion ernst nehmen, desto besser klappt’s mit dem Zusammenleben.

Was aber bleibt dann von Religionen noch übrig? Nicht viel mehr als das, was zum Beispiel auch Sport-, Gesangs- oder sonstige Vereine oder vergleichbare Gemeinschaften zu bieten haben: Eine Privatveranstaltung für Menschen mit ähnlichen Interessen. Dagegen ist freilich nichts einzuwenden, solange keine gleichberechtigten Interessen Anderer verletzt werden.

Aber wäre das im Sinne der Gläubigen? Und vor allem im Sinne der jeweiligen Religionsführer? Die ja, je nach Religion, oft großen Wert darauf legen, dass Glaube eben keine Privatsache sei?

Nicht alle sagen da freundlich „Hallo“ und „Willkommen“, nur weil ein Mensch vom Theater vorbeikommt und sich auf einmal für sie interessiert. Da gibt es Misstrauen.

Hier wäre es interessant zu erfahren, woher genau dieses Misstrauen rührt. Offenbar gibt es doch noch Unterschiede zwischen zum Beispiel einem Gesangsverein und einer Glaubensgemeinschaft.

Gründe für Misstrauen?

Fürchten die Gläubigen ihrerseits eine Ausgrenzung aufgrund ihres Glaubens? Oder haben sie schlicht kein Interesse daran, mehr als unbedingt nötig in Kontakt mit der restlichen Welt zu kommen? Beide Fälle wären ein Beleg dafür, dass Religionen für das Zusammenleben von Menschen in einer offenen und freien Gesellschaft eher hinderlich als förderlich sind.

Für mich bleibt aber mit dem Theaterprojekt die Faszination für die pragmatischen alltäglichen Lösungen, mit denen ganz unterschiedliche Menschen und auch Religionsgemeinschaften miteinander auskommen.

Die Faszination für Dinge, die tatsächlich funktionieren, teile ich mit Herrn Dr. Beck:

  • Im Pragmatismus bemisst sich die Wahrheit einer Theorie an ihrem praktischen Erfolg, weshalb pragmatisches Handeln nicht an unveränderliche Prinzipien gebunden ist. (Quelle: Wikipedia)

Genau das scheint hier der Fall zu sein: Wenn Menschen aufhören, sich an die unveränderlichen Prinzipien ihrer Religionen zu halten und stattdessen ihr Handeln am praktischen Erfolg messen, gelingt auch das Zusammenleben.

Faszination pragmatischer alltäglicher Lösungen

Ob es Herrn Dr. Beck bewusst ist, dass seine Ausführung impliziert, dass die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft offenbar eine zusätzliche, wenn auch frei erfundene Unterscheidung bedeutet? Eine Abgrenzung, die, wie andere Unterschiede auch, erst durch pragmatische alltägliche Lösungen überwunden werden muss?

Religionen scheinen demzufolge keine pragmatische alltägliche Lösungen für das friedliche Miteinander unterschiedlicher Menschengruppen zu bieten.

[…] Wenn Papst Franziskus in seinem jüngsten Schreiben von den „Heiligen nebenan“ spricht, könnte er vermutlich auch an solche Hinterhöfe gedacht haben.

Nach meiner Auffassung scheint Franziskus zu versuchen, mitmenschliches Verhalten für seine Zwecke zu vereinnahmen:

Päpstliche Vereinnahmung

  • Der Papst bezieht sich in seinen Mahnungen und Ermutigungen auf Alltagsszenen, in denen sich Heiligkeit zeige. Er denkt dabei an „Eltern, die ihre Kinder mit so viel Liebe erziehen“, an „Männer und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen“, an die Kranken und an Menschen, die sich für Hilfsbedürftige einsetzen. […]
  • Zur Erfüllung dieser Forderungen braucht es nach seinen Worten menschliches Wissen, Begegnung mit der Heiligen Schrift und der Lehre der Kirche, das Gebet sowie Geduld und Offenheit für Transzendenz. (Quelle: augsburger-allgemeine.de)

Er erklärt einfach mitmenschliches Verhalten im Alltag zur „Heiligkeit.“ Ein solches Verhalten ist allerdings mindestens genauso gut möglich, ohne Begegnungen mit abstrusen Narrativen aus der Bronze- und Eisenzeit oder mit der mehr als fragwürdigen Lehre der Kirche. Und erst recht ohne Urban Prayers.

Statt Geduld und Offenheit für Transzendenz empfehle ich Geduld und Offenheit im Umgang mit den Mitmenschen. Urban humanity statt urban prayers.

Denn Würde und Freiheit des Individuums sind Werte, die über alle Unterschiede – tatsächliche und erfundene – hinweg vereinbart werden können. Wer welche Götter verehrt oder in wessen Religion dies als „heilig“ gilt, spielt dafür keine Rolle.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag über Urban Prayers.

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