Mal wieder Gott fragen – eine mutige Irritation – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 11 Min.

Mal wieder Gott fragen – eine mutige Irritation – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Lissy Eichert (kath.), veröffentlicht am 31.10.2020 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Frau Eichert mag keine Angst vor Gott haben. Deshalb bastelt sie sich ihren Gott so zurecht, wie er ihr gefällt.

Corona in der Kirche

Zum Einstieg plaudert Frau Eichert über ein Aha-Erlebnis, das sie in einer Kirche hatte. Die hatte sie aufgesucht, um endlich mal nichts von Corona zu sehen oder zu hören. Und dann das:

[…] Die Nachbarkirche war offen, ich ging hinein – und dann das: Steht da doch tatsächlich „Corona“ unter einer Heiligenfigur. Corona sapientiae timor domini. Die Krone der Weisheit ist die Gottesfurcht.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Mal wieder Gott fragen – eine mutige Irritation – Wort zum Sonntag, verkündigt von Lissy Eichert (kath.), veröffentlicht am 31.10.2020 von ARD/daserste.de)

Na was sagt man da! Corona in der Kirche! Ein Zeichen! Halleluja!

Die Krone der Weisheit ist die Gottesfurcht?

Wäre die „Krone der Weisheit“ tatsächlich die Gottesfurcht, dann wüssten wir heute freilich nichts von der Existenz von Viren. Dann gäbe es vermutlich auch heute noch eine Priesterkaste, die ihren Untertanen weis machen würde, Gottesfurcht, zum Ausdruck gebracht in Bittgebeten (und gerne auch Almosen), sei das beste Mittel, das, wenn überhaupt, gegen die Pandemie helfen würde.

Das müssten die Berufschristen dann nur so lange durchhalten, bis sich die Bevölkerung so stark dezimiert hat, dass sich das Virus irgendwann nicht mehr verbreiten würde. Bei der Pest hatte das ja auch schon bestens funktioniert.

Anschließend müssen sie dann nur noch von Bitt- auf Dankgebet umstellen. Und ihren Gott für seine unendliche Güte und Gnade zu loben und preisen. Dafür, dass er wenigstens einen kleinen Prozentsatz vor seinem göttlichen Zornausbruch verschont hatte. Seltsamerweise völlig unabhängig vom jeweiligen Glaubensbekenntnis.

Die zwangsläufig folgenden Dankprozessionen könnten dann noch ein paar weitere Jahrhunderte lang zur Verbreitung und zur Festigung des Glaubens beibehalten werden.

Frau Eichert ist irritiert

Ich bin irritiert. Gottesfurcht – so ein antiquiertes Wort. Sagt heute keiner mehr.

Dass BerufschristInnen von ihren eigenen Glaubensgrundlagen irritiert sind, kommt selten vor. In der Regel ignorieren sie alles, was auch nur ansatzweise irritieren könnte.

Die Vorstellung, dass heute niemand mehr von Gottesfurcht spricht, zeugt von einer reichlich naiven und/oder beschränkten Wahrnehmung.

Denn überall dort, wo die Kirche heute noch maßgeblichen Einfluss hat oder gerade wieder gewinnt, spielt die Furcht vor Gott genau die Rolle, wie sie die biblische Grundlage liefert. Und da geht es nicht um Ehrfurcht. Sondern um ganz reale Furcht.

Ich hab gar keine Angst, Ätschi!

Und ich mag es auch nicht besonders. Ich soll doch keine Angst haben vor Gott. Und ich habe auch keine.

Verständlich. Wer mag sich schon real vor etwas fürchten. Egal, ob es sich dabei um eine tatsächliche oder um eine nur eingebildete, fiktive Bedrohung handelt.

Gerade als gläubige Katholikin hätte Frau Eichert natürlich gute Gründe, sich sehr wohl vor ihrem Gott zu fürchten. Da sie getauft und gläubig ist, bleibt sie, der katholischen Mythologie zufolge zumindest vor Dauer-Höllenfolter verschont.

Aber auch ihr als Berufschristin droht zumindest ein Zwischenstop unbestimmter Dauer und mit ungewissem Qual-Faktor im „Fegefeuer.“ Allein schon wegen ihres Mensch-Seins.

Die Kirche empfiehlt auch Almosen, Ablässe und Bußwerke zugunsten der Verstorbenen

Da kann sie eigentlich nur hoffen, dass ihre Hinterbliebenen dereinst mit dem Katechismus der Katholischen Kirche vertraut sind (Hervorhebungen von mir):

  • 1032 Diese Lehre [vom Fegefeuer, Anm. v. mir] stützt sich auch auf die Praxis, für die Verstorbenen zu beten, von der schon die Heilige Schrift spricht: „Darum veranstaltete [Judas der Makkabäer] das Sühnopfer für die Verstorbenen, damit sie von der Sünde befreit werden“ (2 Makk 12,45). Schon seit frühester Zeit hat die Kirche das Andenken an die Verstorbenen in Ehren gehalten und für sie Fürbitten und insbesondere das eucharistische Opfer [Vgl. DS 856] dargebracht, damit sie geläutert werden und zur beseligenden Gottesschau gelangen können. Die Kirche empfiehlt auch Almosen, Ablässe und Bußwerke zugunsten der Verstorbenen.
    (Quelle: Katechismus der Katholischen Kirche, III Die abschließende Läuterung – das Purgatorium – 1032, Zit. n. vatican.va)

Das Wissen darum, was ihr lieber Gott jenen antut, die sich ihm zu Lebzeiten nicht unterwerfen wollten, während sie dann nach dem Purgatorium auf alle Ewigkeit mit der „beseligenden Gottesschau“ beschäftigt sein wird, scheint Frau Eichert nicht weiter zu kümmern.

Die Bibel bezeugt – garnix

Frau Eichert scheint die unmenschliche, geradezu widerwärtige, psychopathische Seite des Gottes, den sie verehrt und bewirbt einfach auszublenden. Da merken sie dann nicht mal, wie grotesk widersinnig ihre rhetorischen Tricks bei Licht betrachtet erscheinen:

In der Heiligen Schrift ist viel von Gottesfurcht oder von „Ehrfurcht vor Gott“ die Rede. Und das hat nichts mit Angst oder Unfreiheit zu tun, sondern – mit Respekt. Mit Respekt vor einer unendlichen Liebe: „Gott ist die Liebe“, bezeugt die Bibel. Diese Liebe vertreibt die Furcht.

Die Bibel bezeugt gar nichts. Die Bibel enthält Behauptungen, die sich Menschen ausgedacht hatten, die nicht wussten, wohin die Sonne jeden Abend verschwindet. Und die zu einer Zeit lebten, in der magisch-esoterisches Denken das Weltbild und Göttermythen die Moral bestimmten.

Die Liebe des in der Bibel beschriebenen Gottes ist keine Liebe, sondern eine Nötigung.

Auch noch Respekt für einen zu fordern, der die Ablehnung seiner Liebe mit zeitlich unbegrenzter physischer und psychischer Dauerfolter mit Höllenqualen bei vollem Bewusstsein bestraft, halte ich für mindestens so pervers wie das Vorgehen, diesen Umstand einfach zu verschweigen und so zurechtzubiegen, dass dabei ein zumindest unverfängliches Gottesbild herauskommt.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich möge sich Frau Eichert ihre/n persönliche/n Lissy-Eichert-Privatgott so vorstellen, wie immer es bzw. er oder sie ihr gefällt.

Anders sieht es aus, wenn sie ein in seinem Fundament moralisch höchst fragwürdiges und unmenschliches Glaubenskonstrukt, das schon unvorstellbar viel Leid verursacht hat und bis heute verursacht durch ihre persönliche Wunschvorstellung verharmlost. Wenn sie ausgerechnet diesen armseligen, kleinlichen, ungerechten und unmenschlichen Gott mit Liebe gleichsetzt.

Geistlicher Missbrauch

Auch Frau Eichert scheint zu dämmern, dass biblische Mythologie als Quelle für überzeugende Argumente nicht wirklich gut geeignet ist. Deshalb bemüht sie schnell noch einen „nicht wahren Schotten„, um die christlich-religiös motivierten und legitimierten Verbrechen zu bewältigen:

Leider wurde – und wird – der Name Gottes auf Erden missbraucht – von Politikern, manchen Kirchenleuten oder religiösen Gruppierungen. Biblisch ist das nicht. Aber praktisch für alle, die ihre Macht ausspielen, um andere kleinzuhalten. Wer mit Gott Ängste schürt, betreibt geistlichen Missbrauch.

Frau Eichert, evangelikale Spinner oder katholische Konservative tun sich wesentlich leichter, ihre inhumanen, unethischen Standpunkte biblisch zu „begründen“, als Sie, die Sie versuchen, den Bibelgott zum lieben Gott umzudefinieren.

Sie werden staunen, wie viele und vor allem welche Bibelverslein Sie da um die Ohren gehauen bekommen, von denen Sie womöglich gar nicht wissen (zumindest aber sicher nicht wissen wollen), dass sie ebenso Teil der göttlichen Offenbarung wären, wenn ein Gott sie denn tatsächlich geoffenbart hätte. Werfen Sie dazu gerne mal einen Blick auf unser Projekt bibelblind.de.

Die Bibel: Als Moralquelle unbrauchbar

Den genannten Gruppierungen kann man sicher „geistigen Missbrauch“ vorwerfen. Nicht vorwerfen kann man ihnen jedoch eine missbräuchliche Interpretation des biblisch-christlichen Belohnungs-Bestrafungskonzeptes.

Die halten sich einfach nur an das, was da unmissverständlich steht und was in Mk 16,16 auf den Punkt gebracht wird. Die versuchen nicht, das Heulen und Zähneklappern der wie Unkraut Ausgerissenen und in den Feuerofen geworfenen Frevler als Gottesferne schön zu reden und verharmlosen.

Hier kommt das Elend zum Vorschein, wenn man seine Weltanschauung auf einer „Heiligen Schrift“ wie der Bibel aufbaut: Die Bibel repräsentiert den sozio-kulturellen Entwicklungs- und Erkenntnisstand eines halbnomadischen Wüstenstammes in der ausgehenden Bronze- und beginnenden Eisenzeit. Alle Versuche, die darin enthaltene Moral irgendwie so zurechtzubiegen, dass sie immer noch überlegen, zumindest aber wenigstens unverfänglich erscheint, wirken hilflos und verzweifelt.

Und generell stellt sich die Frage, welche Daseinsberechtigung eine Moralquelle überhaupt als solche haben kann, wenn sich damit auch Verbrechen aller Art (innerhalb der biblischen Ontologie) problemlos legitimieren und schlüssig rechtfertigen lassen können.

Christliches Stockholm-Syndrom?

Freier von Angst werden. Mir hilft da Urvertrauen in das Leben. Die Freundschaft mit Gott.

Jau, genau. Freundschaft mit dem, der sich seinen eigenen Sohn als Menschenopfer zu seiner eigenen Befriedigung und im Interesse Dritter (vorübergehend) zu Tode quälen lässt. Der alle Menschen dafür bestraft, dass sein erstes weibliches Exemplar seine Anordnung nicht befolgt hatte. Obwohl der Mensch und die Frau zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gelernt hatten, Gut und Böse zu unterscheiden.

Freundschaft mit dem, der sich keinen besseren Rat wusste, als praktisch seine gesamte verpfuschte Schöpfung nochmal zu ersäufen. Der tatenlos jegliches Leid geschehen lässt.

Frau Eichert, können Sie sich vorstellen, wie befreiend es ist, sich von Göttern, Geistern und Gottessöhnen zu verabschieden? Sich einzugestehen, dass man hier einem ganz banalen, wenngleich über viele Jahrhunderte erschreckend effektivem Schwindel aufgesessen war? Und dass die Angst vor Gott genauso irreal ist wie die dessen eingebildete Liebe?

Einmal mehr sei darauf hingewiesen, dass ein möglichst wirklichkeitskompatibles Weltbild viele Vorteile bringt. Selbst wenn man dafür eine Illusion, die man sich vielleicht vielleicht ein Leben lang als hoffnungsvoll eingeredet hatte aufgeben muss.

Für ein „Urvertrauen in das Leben“ braucht es keine eingebildete Freundschaft mit eifersüchtigen Wüstengöttern.

Entängstigen

Wer sich auf das Leben einlassen kann, wer zu Gott „Du“ sagen kann wie zu einem Freund, einer Freundin, „entängstigt“ sich.

Die Vorstellung, ein freundschaftliches Verhältnis zu einem magischen Himmelswesen sei ein probates Mittel gegen Ängste, erinnert an die Vorstellung des Alkoholikers, sein Schnaps könne seine Probleme lösen.

Keine Frage: Die Wirklichkeit beinhaltet viele Anlässe, Ängste aller Art zu entwickeln.

Durch einen Gott, der alle bestraft, die sich ihm nicht oder nicht ausreichend (nach unbekannten Maßstäben) unterwerfen und dessen Untätigkeit und/oder Desinteresse, wenn es um die Verringerung oder Vermeidung von Leid geht mit der „Unergründlichkeit“ seiner „Wege“ entschuldigt werden muss, kommt völlig unnötig eine weitere, allerdings rein fiktive und irreale Angst dazu.

Im „Du-Sagen“ schwingen die Gedanken und Gefühle weg von meinem Ich hin zum größeren Du Gottes. Weg vom ängstlichen Kreisen um mich selbst und meine Sorgen. Deshalb beginne ich ein Gebet oft mit der Frage: „Was denkst Du, Gott?“

Es erscheint mir nur sehr schwer vorstellbar, dass ein erwachsener, geistig gesunder Mensch im 21. Jahrhundert tatsächlich diese Frage stellen kann, ohne entweder einen Lachanfall zu bekommen oder vor Scham im Boden zu versinken.

Noch schwerer fällt es mir zu begreifen, was jemand dazu bewegen könnte, das öffentlich-rechtliche Fernsehpublikum an seiner Realitätsverweigerung teilhaben zu lassen.

Weg vom Ich, hin zum größeren Du Gottes – und direkt wieder zurück

GottesfurchtFrau Eichert scheint nicht bewusst zu sein, dass sie natürlich genau das macht, was sie eigentlich verhindern möchte: Um sich selbst kreisen.

Durch die Projektion der eigenen Gedanken auf eine Gottesvorstellung verstärkt sich diese Ich-Zentriertheit sogar noch. Das Gehirn, das sich das ausdenkt, was Gott angeblich denkt, ist das selbe Gehirn, das auch diese Frage formuliert hatte.

Götter „denken“ stets das, was die denken, die sich diese Götter vorstellen.

Was wünscht sich Gott eigentlich von uns?

Auch hier lautet die Frage eigentlich: „Was wünsche ich mir eigentlich von mir, von uns?“

Indem sich Frau Eichert den Bibelgott sowieso schon zum „ausschließlich lieben Gott“ umprogrammiert hat, weil sie keine Angst vor ihrem Gott haben möchte, ist sie bereits auf dem besten Weg zum Atheismus.

Gott: kaum gefragt

Ob bei Corona oder Zukunftsängsten: mir fällt auf, nach Gott wird kaum gefragt.

Frau Eichert, was meinen Sie, warum das so ist?

Während Gläubige versuchen, mit den abenteuerlichsten Behauptungen alles Mögliche als untrügliche Zeichen für das Wirken und die Absicht ihres Gottes darzustellen, erkennen anderswo immer mehr Menschen, dass es sich auch beim Bibelgott wie bei den vielen tausend anderen Göttern auch um ein rein menschliches Phantasieprodukt handelt.

Vielleicht können Sie das Desinteresse an den Gedanken Ihres Gottes besser nachvollziehen, wenn Sie sich mal überlegen, warum Sie bei Corona oder Zukunftsängsten vermutlich kaum nach Zeus, Anubis oder nach dem Fliegenden Spaghettimonster fragen.

Genausowenig, wie Sie erwarten, dass Ihr Gott ein strafender Gott ist, erwarten andere, von ihrem Gott geliebt oder beschützt zu werden.

Mit uns allein

Wir streiten und diskutieren – und bleiben doch mit uns allein.

Wenn Sie mit Menschen streiten und diskutieren, sind Sie nicht mit sich allein. Das sind Sie nur, wenn Sie mit Ihrem Gott sprechen.

Nachdem Sie jetzt Ihren Wunschgott gebastelt, dessen unmenschliche Seiten den Glaubensbrüdern und -schwestern angelastet haben, die Ihre Heilige Schrift falsch interpretieren fehlt jetzt noch die Kritik an Menschen, die ganz ohne Götter glücklich sind. Und was wäre da als Scheinargument besser geeignet als eine falsche Dichotomie:

Es gibt einen praktischen Atheismus, eine Betriebsamkeit ganz ohne Gott. Leider auch im Kirchenbusiness. Wie oft fehlt es an der Suche nach einer tieferen Lebensweisheit! Oder daran, nach der Weisheit Gottes Ausschau zu halten!

Frau Eichert, grundsätzlich stimme ich Ihnen, wenn auch vermutlich nicht in Ihrem Sinne zu: Auch das Kirchenbusiness funktioniert, wie alles andere auch, ganz ohne Gott. Sogar wie geschmiert, sozusagen.

Es funktioniert allerdings nicht ohne die Behauptung eines Gottes. Und ohne die davon abgeleitete Legitimierung des eigenen Machtanspruches.

Gottlos glücklich

Ihr Fehlschluss besteht darin, dass Sie Menschen, die Ihren religiös vernebelten Umgang mit der Wirklichkeit nicht teilen offenbar das Interesse oder die Fähigkeit absprechen, die „Suche nach einer tieferen Lebensweisheit“, also die Fähigkeit oder das Interesse, nach einem sinnerfüllten Leben zu streben und ein solches Leben womöglich sogar führen. Für Sie scheint es entweder Ihren Götterglauben zu geben – oder oft geistige Leere („Betriebsamkeit“).

Damit das christliche Heilsversprechen überhaupt zumindest theoretisch einen Sinn ergeben könnte, bedarf es des Fürwahrhaltens von bis zum Beweis des Gegenteils unsinnigen, weil falschen Annahmen.

Ich frage Sie, worin die Weisheit Ihres Gottes bestehen soll, nach der man Ihrer Meinung nach Ausschau halten solle? Eines Gottes, der trotz angeblicher Allmacht, Allgüte und Allwissenheit keine weniger leidvolle als diese Welt zu erschaffen willens oder in der Lage war? Der alle grausam bestraft, die seine Liebe nicht annehmen möchten?

Und deshalb ergibt die Forderung des Jesus Sirach durchaus einen Sinn: Wer an diesen Gott glauben möchte, für den muss die „Krone der Weisheit“ die Furcht vor diesem Gott sein. Gäbe es diesen Gott wirklich, wäre Furcht die einzig sinnvolle Reaktion.

Was meinen Sie konkret mit dem Begriff „praktischer Atheismus“? Atheismus besagt lediglich, nicht so zu tun, als gäbe es Gott/Götter. Der Begriff sagt nichts über die Suche eines Menschen nach „tieferen Lebensweisheiten“ aus.

Und bedeutet „nach der Weisheit Gottes Ausschau halten“ bei Licht betrachtet nicht viel mehr: „Versuchen, sich einzubilden, die Weisheit eines imaginären Wesens, das sich per Definition der menschlichen Erkenntnis entzieht erkennen zu können?“

Frau Eichert, als Monotheistin sind Sie nur noch einen einzigen Gott vom Atheismus entfernt.

Ihren Ausführungen über Ihr selbst gebasteltes Gottesbild entnehme ich, dass Sie offenbar auf dem besten Weg sind, sich auch noch von diesem einen Gott zu verabschieden.

Paul Schulz beschreibt diesen Prozess in seinem Buch „Atheistischer Glaube“ wie folgt:

5. Gott – ohne Gott

(24)

  1. In der pluralistischen Gesellschaft heute hat jeder seine ihm eigene Gottesvorstellung. Die totale Freiheit des Denkens gerade auch in der Religion hat dazu geführt, dass sich nahezu jeder Gott so vorstellen kann, wie er es nach seinen Bedürfnissen möchte.
  2. Die heutigen Menschen haben eine Gottessehnsucht, ohne dass es für sie den Gott, den die Kirche verkündet, wirklich geben muss. Auf der Suche nach seiner Ich-Identität denkt der moderne Mensch nicht mehr von einem fremden Gott her, sondern auf einen eigenen Gott hin.
  3. Der Individualisierungsprozess wird erkennbar in Formulierungen wie Ich stelle mir Gott vor als… oder Für mich ist Gott… Der Mensch will einen ihm eigenen Gott, der zu ihm passt, der seine Bedürfnisse abdeckt, der seine persönlichen Voraussetzungen erfüllt.
  4. Gott bildet nicht mehr die fremdbestimmte Zentralmacht einer Institution, sondern die Individualkraft des Ich. Wenn Feuerbachs Satz stimmt, dass der Mensch sich Gott schon immer selber gemacht hat, dann kann auch der moderne Mensch das Recht wahrnehmen, sich seinen Gott selber vorzustellen, Gott für sich selber zu imaginieren.
  5. Gerade weil es einen jenseitigen Gott nicht gibt, drückt sich für den Menschen in seinem selbst erdachten eigenen Gott der wesentliche Leitwert seiner selbst aus. Im eigenen Gottesbild entsteht die Dimension des eigenen Selbst.

(25)

  1. Der Transformationsprozess von einem offenbarten zu einem erdachten Gott führt zu der Einsicht, dass ein selbst erdachter Gott natürlich gar kein eigenständiger Gott ist, sondern nur die Projektion des eigenen Menschseins, also letztlich nur der Mensch selbst.
    Sein Gott ist dem Menschen – wie Feuerbach sagt – sein eigenes Wesen.
  2. Diese Erkenntnis führt geradezu zwingend in den Atheismus. Wenn der Mensch einsieht und akzeptiert, dass Gott, sowohl der offenbarte jenseitige wie der selbst gedachte eigene, kein eigenständiger Gott ist, sondern ganz allein die Projektion menschlicher Bedürfnisse, dann muss er daraus einen letzten Entscheidungsschritt vollziehen.
  3. Dieser Entscheidungsschritt heißt: Ich nehme mich aus jeder Gottesvorstellung heraus. Ich kann aus mir selbst heraus als ein mich selbstbestimmendes und verantwortendes Individuum denken und leben ganz ohne Gott. Also bin ich Atheist.
  4. Der Mensch wird als Atheist nicht selbstherrlich Gott. Der Atheist ist immer nur Mensch – Mensch ohne Gott.
  5. Der Mensch wird als Atheist aber ein autonomer Mensch. Er erkennt, dass von seinem Starksein als Mensch, von seinem persönlichen Lebenseinsatz, von seiner Zuwendung vom Ich zum Du alles abhängt. Er weiß sich gerade als Atheist vom Leben voll gefordert.
    (Quelle: Paul Schulz: Atheistischer Glaube: Eine Lebensphilosophie ohne Gott, Seite 195 ff)

Keine mutige Irritation

Um zu entdecken, was Gott wichtig ist und wer ich bin, gehe ich gerne in eine Kirche oder in die Natur. Suche den Abstand vom Alltag. Ich staune über die Geheimnisse des Lebens. Und auch wenn ich so vieles nicht verstehe – ob Corona oder all das Leid der Welt – ich lerne die unverfügbare Größe Gottes zu respektieren. Wenn das mal keine mutige Irritation ist, so selbstbestimmt, wie ich gerne sein möchte…

Ich halte das nicht für eine mutige Irritation. Sondern für eine naive Irrationalität.

Was bedeutet „ich lerne die unverfügbare Größe Gottes zu respektieren“ anderes als „ich arbeite daran, der Theodizee-Frage möglichst aus dem Weg zu gehen“?

Willkommener Denkverzicht

Auch der Abschlusssatz geht in diese Richtung:

Auf das DU Gottes zu hören – und nicht gleich zu widersprechen – unterbricht mein Gedankenkarussell. Lässt neue Ideen aufblitzen. Wendet Angst in Mut. Und schenkt – Weisheit. Die Krone der Weisheit ist die Gottesfurcht.

Hier lässt sich gut erkennen, welchen Nutzen Götterglaube den Gläubigen bringt: Eine bequeme Flucht aus der Realität in die jeweilige religiöse Scheinwirklichkeit.

Man bildet sich ein, das „Du“ seines Gottes zu hören. Statt hellhörig zu werden, wenn sich innere Stimmen zu Wort melden, muss man sich wohl antrainieren, das selbstkritische Denken zu unterdrücken („nicht gleich zu widersprechen“, statt sich ehrlich zu fragen: „Wer spricht denn da gerade zu mir?“) – und schon kann man sich einbilden, in den Genuss göttlicher Weisheit zu kommen. Aber natürlich nur, wenn man die angemessene Gottesfurcht zur Schau stellt.

Das kann man natürlich alles tun. In einer offenen und freien Gesellschaft sind die Gedanken frei. Und Menschen bilden sich noch ganz andere Absurditäten ein.

Wer das Bedürfnis hat, seine Mitmenschen an seinen religiösen Fiktionen und Einbildungen teilhaben zu lassen, der möge auch das gerne tun. Dann aber bitte auf eigene Kosten.

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1 Gedanke zu „Mal wieder Gott fragen – eine mutige Irritation – Das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Der gute Ratzefaz hat doch die Vorhölle 2015 abgeschafft. Wo ist dein Dank dafür du Ungläubiger.
    :))) , das sind Leute schon für weniger in der Anstalt gelandet.

    Antworten

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