Zum Vergessen!? – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Gedenken

Lesezeit: ~ 7 Min.

Zum Vergessen!? – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Gedenken, verkündigt von Stefanie Schardien, veröffentlicht am 17.04.2021 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Anlässlich der Gedenkfeier für die Kranken und Toten während der Corona-Pandemie sinniert Frau Schardien über die Bedeutung des Gedenkens. Der genuin religiöse Beitrag umfasst wie so oft gerade mal eine Randnotiz.

Zum Einstieg erzählt Frau Schardien von einer Frau, die sie darum gebeten hatte, für ihre an Corona erkrankten Tochter zu beten:

Kurz vorher kam ein Anruf. Eine Frau. Ihren Namen hat sie gar nicht gesagt. Nur ein paar Sätze geschluchzt: Dass ihre Tochter schwer krank mit Corona in der Klinik läge. Und dann: „Beten Sie für sie. Bitte, denken Sie an meine Tochter.“ Und ich? Bin rüber in die Kirche, hab die Kerze angezündet, und dann hab ich eben an die junge Frau mit ihrer Mutter gedacht. Und ja: Ich hab mich zwischendurch schon auch gefragt: Was tust Du hier eigentlich?
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Zum Vergessen!? – Wort zum Sonntag, verkündigt von Stefanie Schardien, veröffentlicht am 17.04.2021 von ARD/daserste.de)

Wer anderen Menschen von seinen Sorgen und Nöten erzählt, der empfindet sicher eine gewisse Erleichterung. Selbst dann, wenn man sich gar keine konkrete und tatsächlich effektive Hilfe erhofft, kann sich schon allein die Vorstellung beruhigend anfühlen, die Last nicht alleine tragen zu müssen, wenn sie erst mal ausgesprochen ist.

Denn dadurch, dass Frau Schardien jetzt an eine Frau und ihre Tochter denkt, die sie gar nicht kennt, ändert sich ja an der Situation, abgesehen vom Wissen der Frau, dass jetzt noch jemand von ihren Sorgen weiß faktisch nichts.

Was tust du hier eigentlich?

Genausowenig hat die entzündete Kerze eine positive Auswirkung auf den Gesundheitszustand der Erkrankten.

GedenkenWer eine Opferkerze entzündet, gaukelt sich nur vor, damit die Dringlichkeit seines Anliegens noch verstärkt zu haben: „Schau mal, lieber Gott, ich habe sogar in eine Kerze investiert, die ich jetzt dir zuliebe völlig sinnlos verbrenne, um so dir gegenüber meinem Anliegen noch mehr Nachdruck zu verleihen.“

Dieses Vorgehen erscheint wie ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Opferkultur, wie sie in anderen Religionen heute noch so intensiv und umfassend betrieben wird, dass die ganze Priesterkaste und, je nach Religion, auch noch zum Beispiel heilige Ratten oder Kühe gut davon leben können.

Einen wirklich konkreten Nutzen hat das Abbrennen einer Opferkerze natürlich trotzdem: Für den Kerzenverkäufer.

Abgesehen davon verschafft sich der/die Opfernde damit das gute Gefühl, etwas in das eigene Anliegen investiert zu haben. Ob sich Götter durch Opfer dazu bringen lassen, ihre göttlichen Pläne im Sinne der/des Opfernden zu ändern, lässt sich nicht feststellen.

Zumindest Christen können davon schon ausgehen – schließlich ist von ihrem Gott ja ein Faible für Opfer überliefert. Für die Kollektiv-Vergebung menschlicher Schuld braucht es da freilich schon mindestens die Inszenierung eines Menschenopfers. Während für kleinere Anliegen vielleicht auch schon das Abbrennen einer billigen Opferkerze ausreicht. Wer weiß.

Dass Beten für Menschen diesen auch schaden kann (natürlich nur, wenn sie davon wissen), dürfte Frau Schardien vermutlich nicht bewusst sein.

Gedenken: Bringt das was?

Auch Frau Schardien hat scheinbar erstmal Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihrer Aktion:

Bringt das was? Wenn morgen der große ökumenische Gottesdienst und die nationale Gedenkfeier für die 80.000 Toten und die vielen Leidenden der Pandemie stattfinden, fragen sich das vermutlich auch viele: Braucht es so etwas? Große Worte, große Gesten. Es ist doch ohnehin schon alles traurig und schwer genug.

Eine Gedenkfeier hat den Sinn, eine Problematik, in diesem Fall menschliches Leid in das Bewusstsein der Menschen zu bringen. Außerdem signalisiert es den Betroffenen, dass auch Leute, die nicht direkt betroffen sind an ihrem Leid Anteil nehmen. Ein Zeichen von Empathie und Solidarität.

Dass es damit freilich nicht getan ist, war am Beispiel der Klatsch-Aktionen für Pflegekräfte gut zu erkennen: Natürlich freut man sich, wenn man für sein Engagement Beifall erntet. Nur: Kaufen kann man sich dafür auch nichts. Und solange sich auch an den kritischen Arbeitsbedingungen nichts nachhaltig ändert, verschallt der Applaus genauso wirkungslos wie jedes Gebet.

Er wird gar zur Farce: Das applaudierende Publikum hat sich selbst das gute Gefühl verschafft, den Einsatz gewürdigt zu haben. Genauso wie fürbittende Gläubige, die sich selbst mit ihren Bittgebeten oder auch Opferkerzen das gute Gefühl verschaffen, doch schließlich auch etwas unternommen und sogar investiert zu haben.

Whataboutism als Strohmann

Manch einer hat auch gleich kräftig draufgehauen auf die gute Absicht: Warum auf einmal für Corona-Opfer? Was ist mit allen anderen, die leiden oder sterben? Die Toten im Straßenverkehr? Die Opfer der Umweltverschmutzung? Oder, oder, oder. Und?

Dieses Phänomen bezeichnet man auch als „Whataboutism„: „Du machst/sagst/forderst/kritisierst/kümmerst dich um x, aber was ist mit y!?!“

Zweck eines solchen Manövers ist es meist, von einem unliebsamen Thema abzulenken. Es handelt sich dabei, wie auch beim verwandten Tu quoque-Scheinargument, um eine konfrontative rhetorische Taktik, die sich recht einfach entkräften lässt, wenn man sie denn durchschaut hat.

Oder man macht es wie Frau Schardien und bastelt sich daraus einen „Strohmann„, um das eigene Handeln zu rechtfertigen:

Was soll mir das sagen? Dann also lieber gefälligst an niemanden denken? Lieber keine Kerze für diese eine Frau und ihre Mutter anzünden, weil ich es nicht auch für alle anderen auf der Intensivstation tue?

Hier macht sich Frau Schardien die Schwäche des von ihr zuvor vermutlich eigens zu diesem Zweck eingeführten Whataboutism-Argumentes zunutze. Weil dieses natürlich nicht dagegen spricht, an jemanden zu denken. Auch wenn man dabei an viele andere Notleidenden in diesem Moment nicht denkt.

Auch in Bezug auf das Entzünden von Opferkerzen ist das Whataboutism-Argument nur ein Scheinargument. Der Trick von Frau Schardien besteht jetzt darin, durch die Widerlegung dieses Argumentes den Anschein zu erwecken, das Abbrennen von Opferkerzen sei ja doch eine irgendwie sinnvolle Aktion. Und das gilt es schließlich zu beweisen. Um eine befriedigende Antwort auf ihre eingangs genannte rhetorische Frage, was sie denn da eigentlich tue zu finden.

Indem sie ein schlechtes Gegenargument bringt, das sie leicht widerlegen kann, umschifft sie das eigentliche Gegenargument, nämlich die Frage, was das Entzünden einer Opferkerze denn nun konkret bezwecken soll.

Schwer zu beschreiben?

Es geht morgen bei den Gedenkfeiern einmal um die vielen Tränen in dieser Pandemie, um die geweinten und die ungeweinten. Nur wozu ist Gedenken gut? Was bringt das, an andere zu denken? Kerzen in der Kirche anzünden für Menschen, deren Schicksale man kaum kennt. Namen nennen von denen, die man nie getroffen hat.

Was dadurch passieren kann, das lässt sich schwer beschreiben.

Was das Gedenken an sich angeht, lässt sich das Phänomen nicht schwer beschreiben: Es geht um Solidarität, Mitgefühl, Mit-Leid als menschliche Form der Anteilnahme.

Empathie aktiviert das Belohnungssystem dessen, der sich so verhält. Es fühlt sich gut an, mitzufühlen und sogar auch mitzuleiden.

Dieser Effekt lässt sich ganz natürlich evolutionär erklären: Solches Verhalten war für Arten, die in Sozialgemeinschaften zusammenleben und auf ihre Peergroup angewiesen sind überlebenswichtig.

Und was das Entzünden von Kerzen in der Kirche angeht: Das lässt sich aus christlicher Sicht tatsächlich schwer beschreiben. Weil man dann ja eingestehen müsste, dass dieser Vorgang nur dann einen Sinn ergeben würde, wenn man tatsächlich davon ausgehen würde, damit den allmächtigen allgütigen allwissenden Gott dazu bringen zu können, seinen ewigen göttlichen Allmachtsplan im Interesse des Bittenden auf dessen (heute nur noch eher symbolisches) Brandopfer hin zu ändern.

…auf ganz besondere Weise…

[…] Geteiltes Leid ist halbes Leid. Manchmal ist auch an Kalendersprüchen viel dran. In der Gemeinde erlebe ich das an jedem Sonntag im Gottesdienst: Da gehört das Erinnern von Menschen und ihrer Not immer dazu. Im Fürbittengebet. In der Hoffnung, dass Gott auf ganz besondere Weise das Leiden mit uns teilt.

Formulierungen wie „dass Gott auf auf ganz besondere Weise das Leiden mit uns teilt“ vernebeln nichts anderes als den schlichten Umstand, dass sich diese göttliche Anteilnahme ausschließlich in der Wunschvorstellung der Gläubigen abspielt und auswirkt.

Ausgerechnet da, wo es mal drauf ankäme, wo es darum ginge, was Götterglaube Menschen mit Sorgen denn nun exklusiv und tatsächlich zu bieten hat, vernebelt Frau Schardien die Aussage mit inhaltsleeren Phrasen.

Die Hoffnung auf mitleidende Götter ist eine bestenfalls hoffnungsvolle Illusion. Bei Licht betrachtet ist diese Illusion aber nicht mal hoffnungsvoll. Weil die Vorstellung, Götter würden ins irdische Geschehen eingreifen, wenn man sie darum bittet von einer rein menschlichen Phantasievorstellung nicht zu unterscheiden ist.

Diese Hoffnung ist vergleichbar mit der (vergeblichen) Hoffnung des Teenagers, das Popidol möge doch jetzt endlich mal auf die ihm oder ihr entgegengebrachte Liebe reagieren.

Waren Seuchen und andere Katastrophen früher willkommene Anlässe für den Klerus, die Schäfchen an ihre Abhängigkeit und Sündhaftigkeit zu erinnern und sie somit wieder auf den „rechten Weg“ des Glaubens zu scheuchen, ist davon heute zumindest im christlichen Mainstream nicht viel mehr als eine nichtssagend formulierte Randnotiz übrig geblieben.

Solidarität fühlt sich gut an

Statt näher darauf einzugehen, was sie denn nun mit dieser „ganz besonderen Weise“ konkret meint, belässt es Frau Schardien bei der Erwähnung, dass Christen das halt so machen. Und schwenkt schnell wieder zurück vom menschlichen Gedenken:

Wer in dunklen Momenten schon einmal erlebt hat, dass Menschen an einen denken, der ahnt etwas von dieser Kraft, die im Erinnern und Gedenken stecken kann. Sich nicht allein zu wissen in traurigen Zeiten, das tröstet.

Auch dieses Phänomen lässt sich wieder evolutionär und damit ganz natürlich erklären: Es fühlt sich nicht nur gut an, sich solidarisch zu verhalten. Sondern natürlich auch, sich der Solidarität seiner Mitmenschen sicher sein zu können.

Dieser Effekt wirkt schon dann, wenn man nur die Gewissheit haben kann, seinem Schicksal nicht vollkommen allein überlassen zu sein. Die Gewissheit ist verbunden mit dem Vertrauen darauf, dass einem seine Mitmenschen auch tatsächlich aktiv helfen würden, wenn es noch schlimmer kommen sollte: „Jetzt wissen sie von meiner Lage, da werden sie mich schon nicht im Stich lassen, wenn es noch schlimmer werden sollte…“

Verantwortung abgeben

Gleichzeitig macht man damit seine Mitmenschen allerdings auch mitverantwortlich: „Du hast doch von meiner Situation gewusst, warum hast du mir nicht geholfen?“

Und genau darum geht es, wenn Gläubige diese zwischenmenschlichen Zusammenhänge auf ihr Verhältnis zu ihren Göttern übertragen: Um die Abgabe von Verantwortung – in diesem Fall an eine übergeordnete Instanz.

So kann man auch dem sinnlosesten Leid eine größere Bedeutung andichten. Indem man es auf die Unergründlichkeit göttlicher Wege schiebt. Der sich sicher schon etwas dabei gedacht haben wird, einen so leiden zu lassen. Lieber eine Quatsch-Antwort als keine Antwort, scheint hier die Devise zu sein.

Solange Gläubige diese Illusion für sich aufrecht erhalten können, können sie auch die Enttäuschung darüber umgehen, dass in Wirklichkeit, also außerhalb menschlicher Wunschphantasie noch kein einziger Gott jemals nachweislich ins irdische Geschehen eingegriffen hat. Auch ihrer nicht.

Menschliches Mitgefühl und menschliche Anteilnahme kann man tatsächlich erfahren. Man kann sie sich aber auch nur einbilden. Göttliche Anteilnahme kann man sich nur einbilden.

„Balsam für die Seele…“

Das, was andere gerade mitmachen, nicht einfach schnell zu vergessen, sondern es mitzutragen, mit uns zu tragen, zu Erinnern – das braucht es zum Heilen. Sonst bleibt die Seele wund.

Da der Begriff „Seele“ im religiösen Kontext schnell zu esoterischen Verwechslungen und magischen Unklarheiten führen kann (weshalb er da so gerne verwendet wird), wäre „Psyche“ hier sicher die bessere Formulierung. Wenn denn eigentlich diese gemeint sein soll.

Morgen sind wir alle eingeladen, es zu probieren mit diesem heilsamen Erinnern. Denken Sie an andere, denen es gerade nicht gut geht, die Sie vielleicht kaum kennen. Und vertrauen Sie darauf: Ja, das bringt was.

Und für dieses „heilsame Erinnern“ braucht es keine religiös vernebelte Scheinwirklichkeit. Es handelt sich um eine ganz natürliche, menschliche Angelegenheit.

Die religiöse Dimension ist auch hier einmal mehr nicht nur entbehrlich, sondern potentiell schädlich. Denn während Frau Schardien mit Kerzen und Fürbitten ihrem Gott demonstriert, dass sie mitmenschlich fühlt und das Leid Anderer nicht ignoriert, formieren sich andernorts „Christen im Widerstand“ mit einer Mischung aus Verschwörungsmythen, christlicher und anderer Esoterik, die mit krude noch sehr wohlwollend umschrieben ist.

Und Gott? Dem scheint es auch diesmal wieder völlig egal zu sein, ob seine Fans in seinem Namen Corona leugnen und Maßnahmen ablehnen – oder ob sie derer gedenken, die darunter leiden oder litten.

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