Wann haben wir eigentlich das Träumen verlernt? – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 5 Min.

Wann haben wir eigentlich das Träumen verlernt? – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Prof. Dr. Julia Enxing, Dresden, veröffentlicht am 14.5.22 von ARD/daserste.de

Darum geht es

In ihrem "Wort zum Sonntag" zum diesjährigen Eurovision Song Contest liefert Frau Prof. Dr. Enxing ein Musterbeispiel für religiösen Bullshit.

Wie jedes Jahr, in dem ein Eurovision Song Contest stattfindet, nutzt die Kirche auch diesmal wieder die Chance, sich ans Publikum des öffentlich-rechtlichen Rundfunks heranzuwanzen.

Diesmal hat es den, wie wir inzwischen wissen, Verlierersong von Malik Harris erwischt. Der glücklose Interpret wünscht sich darin, wieder träumen zu können.

Träume in der Bibel

Wie praktisch, dass auch in der Bibel ausgiebig geträumt wird:

[…] Träume können uns entführen, in andere Welten. In der Bibel kommen übrigens sehr viele Traumgeschichten vor. Auch Gott kommt nicht ohne unsere Träume aus. Gott spricht dann im Traum zu den Menschen, eröffnet ihnen neue Perspektiven. Gott begegnet denjenigen, die zur Ruhe gekommen sind. In der Bibel heißt es: „Wenn ich Prophet:innen unter euch etwas mitteilen will, erscheine ich ihnen in einer Vision oder spreche im Traum zu ihnen“. Viele sind dann total überrascht. Hat Gott echt zu mir gesprochen? Soll ich wirklich den Mut fassen und den anderen Weg einschlagen? Mal was riskieren und ausprobieren – ohne schon zu wissen, ob ich erfolgreich sein werde?

(Wann haben wir eigentlich das Träumen verlernt? – Wort zum Sonntag, verkündigt von Prof. Dr. Julia Enxing, Dresden, veröffentlicht am 14.5.22 von ARD/daserste.de)

Genauso wie Frau Enxing ihrem Publikum eine Beantwortung dieser Fragen erspart, erspare ich der geschätzten Leserschaft und mir eine Erörterung des aktuellen Forschungs- und Wissensstandes zum Thema Traum und Vision an dieser Stelle.

Allein der Umstand, dass Anhänger aller möglichen Gottesvorstellungen behaupten, im Traum oder in Visionen Botschaften ihrer jeweils geglaubten Götter zu empfangen zeigt, dass die Annahme, Träume und Visionen seien tatsächlich Botschaften (auch noch bestimmter) Götter unplausibel und unglaubwürdig ist.

Stattdessen möchte ich kurz auf einen anderen Aspekt eingehen, der sich bezüglich der Aussagen von Frau Prof. Dr. Enxing praktisch aufdrängt:

Was unterscheidet eigentlich Bullshit von einer Lüge?

Die Antwort auf diese Frage findet sich in einem Facebook-Post von rbb Kultur vom 11. Mai:

  • „Bullshit“ – dieser Begriff hat sich in der Alltagssprache durchgesetzt. Doch wie definiert er sich überhaupt? Einen Ansatz dafür hat der Philosoph Harry Frankfurt geliefert. Indem er definiert, was Bullshit nicht ist – nämlich eine Lüge. Lügner haben ein Interesse ihr Gegenüber zu täuschen. Wer Bullshit von sich gibt, verfolgt einen anderen Zweck: Es geht darum, etwas zu verkaufen oder gut da zustehen. Meist ist es auch überhaupt nicht möglich, den Wahrheitsgehalt von Bullshit zu klären. (Quelle: rbb Kultur via Facebook)

Frau Enxing hat sicher nicht die Absicht, ihr Publikum zu belügen. Schließlich glaubt sie ja vermutlich selbst, was sie erzählt.

Allerdings hat sie sehr wohl etwas zu verkaufen. Ihr Broterwerb hängt ja schließlich davon ab, dass sie noch ausreichend viele Menschen dazu bringen kann, ihr das abzukaufen, was sie ihnen anzubieten hat. Und das ist nicht gerade preiswert…

Und in Anbetracht des (zum größten Teil selbst verschuldeten) katastrophalen Images der katholischen Kirche hat sie natürlich zudem auch viele Gründe, gut dastehen zu wollen. Oder wenigstens ein klein wenig besser als Woelki und Konsorten.

Theologisch-rhetorische Winkelzüge

Schauen wir uns die Aussagen von Frau Prof. Dr. Enxing nochmal genauer an.

Eines muss man Frau Enxing lassen: Sie beherrscht das Handwerk der zweckdienlichen und unverfänglich erscheinenden Vermischung von religiöser Fiktion und irdischer Wirklichkeit nahezu perfekt:

  • Träume können uns entführen, in andere Welten.
    Ein banaler Allgemeinplatz, dem wohl niemand widerspricht, solange mit „Welten“ Vorstellungswelten gemeint sind.
  • In der Bibel kommen übrigens sehr viele Traumgeschichten vor.
    Auch das mag sicher zutreffen, sagt aber noch nichts über den Wahrheitsgehalt der eigentlichen Aussage aus.
  • Auch Gott kommt nicht ohne unsere Träume aus.
    Dass diese Aussage nur innerhalb der biblischen Mythologie gilt, verschweigt Frau Enxing.
  • Gott spricht dann im Traum zu den Menschen, eröffnet ihnen neue Perspektiven.
    Ja, in der biblischen Mythologie ist das so. Frau Enxing suggeriert durch ihre Formulierung jedoch, dass das auch in Wirklichkeit so sei.
  • Gott begegnet denjenigen, die zur Ruhe gekommen sind.
    In der biblischen Mythologie: Ja. In der Realitiät: Höchstwahrscheinlich nicht. A propos „zur Ruhe gekommen“: Biblische Schilderungen von Visionen legen die Vermutung nahe, dass diese im Zusammenhang mit epileptischen Anfällen zustande gekommen sein könnten.
  • In der Bibel heißt es: „Wenn ich Prophet:innen unter euch etwas mitteilen will, erscheine ich ihnen in einer Vision oder spreche im Traum zu ihnen“.
    Aufgrund der Absurdität schustert Frau Enxing dieser Aussage sicherheitshalber wieder der Bibel zu.
    A propos Prophet:innen: In keiner deutschsprachigen Bibelausgabe lassen die anonymen Autoren ihren Gott gendern. Und an der genannten Stelle werden die vier in der Bibel namentlich genannten Prophetinnen nicht gesondert erwähnt.
  • Viele sind dann total überrascht. Hat Gott echt zu mir gesprochen? Soll ich wirklich den Mut fassen und den anderen Weg einschlagen? Mal was riskieren und ausprobieren – ohne schon zu wissen, ob ich erfolgreich sein werde?
    Jetzt switcht Frau Enxing mit rhetorischen Fragen wieder zurück von der biblischen zur irdischen Wirklichkeit.

….nur mal für Spaß…

Das Manöver an sich ist alt bekannt. Leser, die neben AWQ auch den Ketzerpodcast mitverfolgen, erinnern sich vielleicht noch an das legendäre Segment, in dem die Ketzer eine Veröffentlichung von Harald Lesch (wie Frau Enxing auch Professor, allerdings in einem wissenschaftlichen und nicht im theologischen Fach) besprechen, die Lesch (lt. Interview auf evangelisch.de „Protestant vom Scheitel bis zur Sohle“) mit der Prämisse beginnt:

„Nehmen wir doch mal an, nur mal für Spaß, nur mal für Spaß, es gäbe Gott“ – um dann allen möglichen Unsinn zu erzählen, ohne jedoch nochmal daran zu erinnern, dass die Prämisse ja „nur mal für Spaß“ war.

Wahrheit? Völlig egal

Quelle: rbbKultur via Facebook
Quelle: rbbKultur via Facebook

Die Frage, ob ein bestimmter Wetter-Berge-Wüsten-Kriegs-Rache-Provinizal-Stammesgott, den sich ein halbnomadisches Wüstenvolk in der ausgehenden Bronzezeit aus früheren Gottesbildern zusammengebastelt hatte tatsächlich vermittels Träumen und Visionen mit Menschen kommuniziert oder ob es vielleicht eine weit plausiblere Annahme gibt, spielt für Frau Enxing überhaupt keine Rolle.

Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung scheint ihr schlicht egal zu sein.

Und genau das zeichnet Bullshit aus.

Unterschiedliche Bedeutung von Begriffen: Auch egal!

I wish there was a way to go back dreaming.“

Neben der Gleichgültigkeit gegenüber dem Wahrheitsgehalt ihres rhetorisch kaschierten Bullshits scheint es Frau Prof. Dr. Enxing genauso egal zu sein, dass mit dem Begriff „dreaming“ hier die Hoffnung eines Menschen auf ein besseres Leben oder auf bessere Umstände gemeint ist: Eine mehr oder weniger realistische, aber eben bewusste Wunschvorstellung.

Im Sinne von: „Ich träume von einer besseren Zukunft.“ Oder, bezogen auf die zitierte Textzeile sinngemäß: „Ich wünschte, es gäbe/ich fände einen Weg zurück, wieder (so wie früher) hoffen zu können.“

Das geht auch aus dem Liedtext eindeutig hervor.

Diese Bedeutung ist eine grundlegend andere als wenn die Träume gemeint sind, die Menschen erleben, während sie schlafen. Also die Träume, die der Gott der biblischen Mythologie laut dieser Mythologie angeblich zur Kommunikation mit Menschen nutzt.

Auch die Wurschtigkeit gegenüber solchem zweckdienlich vernebelndem Umgang mit Begriffen halte ich für ein typisches Zeichen von Bullshitting.

Fazit

Des Kaisers neue Kleider

Wer sich einer Bullshit-Rhetorik bedient, legt keinen Wert darauf, sinnvolle, überprüfbare und argumentativ belegbare Aussagen zu treffen.

Es geht – in diesem Fall – einfach nur darum, das Publikum von einer Relevanz der biblischen Mythologie zu überzeugen.

Frau Enxing preist die Stoffe, Schnitte und Muster von des Kaisers neuen Kleidern. Und dabei ist es ihr (und vermutlich auch dem gläubigen Anteil ihres Publikums) völlig egal, dass dieser in Wirklichkeit nackt ist. Um auch mal wieder dieses (hier, wie ich meine perfekt passendes) Bild aus der Märchenwelt verwendet zu haben.

Jetzt stellt sich natürlich noch abschließend die spannende Frage, was Frau Prof. Dr. Enxing und Kolleg:innen legitimiert, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur Primetime und auf Kosten der Allgemeinheit Bullshit zu verbreiten.

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5 Gedanken zu „Wann haben wir eigentlich das Träumen verlernt? – Das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Und wie oder woran erkennt man den Unterschied zwischen Träumen, die von Gott kommen und denen, die mir ein böser Dämon (z.B. Satan) geschickt hat? Ach Frau Enxing …

    Antworten
  2. Die abschliessende Frage lässt sich ganz einfach beantworten:

    „Might makes right!“
    So lange wie genügend Geld auf dem Konto eingeht, von Leuten, die diesen BULLSHIT tatsächlich glauben, oder meinen, es wäre Tradition.
    Deshalb: Kirche raus aus Politik, Bildungssystem und öffentlich rechtlichem Fernsehen!!!

    „Gibts für euch keine Kohle mehr, fällt freies Denken nicht mehr schwer!“

    Antworten
  3. Es immer wieder aufs Neue sehr, sehr erstaunlich, wie alltägliche Begebenheiten, willkürlich mit Gott in den Zusammenhang zu bringen, um anschließend eine salbungsvolle Aussage über die Wirksamkeit des Glaubens zu machen.

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