Gott der Verlorenen – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Benedikt Welter, veröffentlicht am 13.05.2023 von ARD/daserste.de
Darum geht es
Der Text eines erfolglosen ESC-Songs und das Schicksal einer obdachlosen Frau, die Pfarrer Welter während seiner Raucherpause in Hamburg beschnupperte bilden die Grundlage der heutigen Kirchen-Werbesendung.Schon wieder ist ein Jahr vorbei und der diesjährige Eurovision Song Contest steht an.
Diesmal ist es an Herrn Welter, das öffentliche Interesse am ESC wie jedes Jahr für die Kirchenreklame im „Wort zum Sonntag“ anzuzapfen.
Lord of the lost
Lord oft the lost, „Gott der Verlorenen“ – wenn das keine Steilvorlage für das Wort zum Sonntag ist! Ihr Song: Blood and Glitter, Blut und Glitzer. Darin heißt es immer wieder: blood and glitter / saint and sinner / we do fall before we rise: Blut und Glitzer / Heiliger und Sünder / wir fallen, bevor wir aufstehn.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Gott der Verlorenen – Wort zum Sonntag, verkündigt von Benedikt Welter, veröffentlicht am 13.05.2023 von ARD/daserste.de)
In der Tat: Irgendein „Lord“, „Verlorene“, Heilige und Sünder, Blut und Glitzer…
Ginge es nicht um das erfolglose Werk einer unbekannten Hamburger Dark-Rock-Band – man könnte tatsächlich meinen, man sei versehentlich in einen katholischen Gottesdienst geraten.
Hard Rock Hallelujah
Noch mehr Christliches hätte höchstens die finnische Hard-Rock- und Heavy-Metal-Band Lordi mit ihrem Hit „Hard Rock Hallelujah“ beim ESC 2006 zu bieten gehabt. Aber soweit ich das recherchieren konnte, war die damals zuständige WzS-Betschwester Jordana („Musik ist cool“) nicht näher auf den mindestens genauso religiotisierten Text der Finnen eingegangen.
Worum es im diesjährigen Song geht, bzw. ob es bei dem Text überhaupt um irgendetwas Bestimmtes gehen soll, spielt für die religiöse Vereinnahmung keine Rolle. Die Übereinstimmung einiger Keywords und vor allem der typisch dualistischen Stichwort-Paare genügen völlig.
Herr Welter plaudert nun über eine Begegnung mit einer offenbar obdachlosen Frau, die ihn während einer Raucherpause vor einem Hamburger Restaurant erst um etwas Geld und dann noch um eine Zigarette gebeten hatte.
Tabakwaren sind Allgemeingut…
„Klar“, sage ich, „Tabakwaren sind Allgemeingut“.
Diese Aussage ist mir bisher hauptsächlich als Ausrede begegnet, mit der Raucher das Rauchen rechtfertigen. Argumentativ in etwa so Banane wie: „Geräuchertes Fleisch hält länger.“ Oder auch das Gegenargument eines bestimmten „Jugendpfarrers“ aus Hammelburg: „Hätte Gott gewollt, dass wir rauchen, hätte er uns mit Nasenlöchern nach oben geschaffen.“
Dass zumindest Tabak- und Alkoholkonsum grundsätzlich der Allgemeinheit und nicht nur bestimmten Kreisen zur Verfügung steht heißt allerdings weder, dass man deswegen auch rauchen und trinken sollte. Noch heißt es, wie offenbar auch im geschilderten Fall, dass sich auch alle den Konsum leisten können.
Aus politischer und natürlich auch aus medizinischer Sicht gilt die Bezeichnung von Tabakwaren als Allgemeingut heute als längst überholt.
…außer im Vatikan
Fun Fact am Rande: Die Freiheit des Konsums von Tabak- und anderen Rauschmitteln gehört zu den vielen Freiheiten, die erst gegen den Widerstand der Kirche erkämpft werden mussten.
Oder die, im Fall von Cannabis, hierzulande gerade erst noch gegen den Widerstand u. a. auch von der Kirchenlobby beeinflussten und entsprechend religiotisch argumentierenden Politikern erkämpft werden müssen:
Im Mittelalter verbot die Kirche, die Rauschzuständen und Vergnügungen feindlich eingestellt war, Cannabis als Rauschmittel. Es wurde kurzerhand als Teufels- und Hexenmittel verbannt.
(https://www.feel-ok.ch/de_CH/jugendliche/themen/cannabis/start/infos/infos/geschichte.cfm)
Die Frau hatte Glück, dass sie Herrn Welter in Hamburg und nicht im Vatikan wegen einer Zigarette angeschnorrt hatte:
Mit dem Datum vom 1. Januar 2018 ging Papst Franziskus noch einen Schritt weiter. Er verfügte, dass im Vatikan keine Zigaretten mehr verkauft werden dürfen.
(https://www.osservatoreromano.va/de/news/2020-06/die-papste-und-der-tabak.html)
Aber zurück zu Herrn Welters Versuch, dem ESC irgendwas Religiöses unterzujubeln:
Schnupperpfarrer und Splitter-Experte
Um jetzt irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Liedtext-Fragment „Blood and Glitter“ und seiner Begegnung hinzubekommen, beschreibt Herr Welter, dass er an der Frau neben einem modrigen Geruch „…auch noch einen zweiten, einen zarten Duft: der von Seife“ wahrgenommen habe. Während diese ihm einen Splitter zeigte, der in ihrem Daumen steckte.
Statt zu untersuchen, ob es sich vielleicht, wie bei Holzsplittern im christlichen Kontext zu erwarten um einen Splitter vom Kreuze des biblisch-christlichen Gottessohnes handelt und die Begegnung somit schon mal als erstes von zwei erforderlichen Wundern für eine Heiligsprechung des Fernsehpfarrers gewertet werden könnte, rät dieser der Frau, den Daumen einzuweichen.
…sagen die Sterngucker
Ihre Frage nach dem Zeitpunkt des Weltuntergangs beantwortet Herr Welter nicht gemäß biblischer Aussage (Mk 9,1). Da verlässt sich der Priester lieber auf die „Sterngucker“:
„Danke! Glaubst du auch, dass die Welt untergeht?“ „Na, ja, irgendwie schon, aber nicht so schnell“, antworte ich, „so fünf Milliarden Jährchen hätten wir wohl noch – sagen die Sternengucker.“ Sie lächelt wieder. „Schönen Abend dir noch – und danke fürs Geld und für die Zigarette.“
Noch biblischer hätte es freilich geklungen, die Wissenschaftler, denen wir das Wissen über die zu erwartende Existenz unseres Planeten verdanken als „Sterndeuter“ zu bezeichnen. Auf deren Expertise beruht schließlich auch schon die zweckdienliche Deutung des ominösen „Sterns von Betlehem.“
O du Gott der Verlorenen! Genau jetzt sehe ich diese junge Frau vor mir: mit ihrem Duft von Moder und Seife um sich und überzeugt vom nahen Ende der Welt:
blood and glitter / saint and sinner / we do fall before we rise: Blut und Glitzer / Heiliger und Sünder / wir fallen, bevor wir aufstehn. Singt „Lord oft he Lost“ nachher.
…und schaffte es damit auf den verdienten letzten Platz.
Irgendwie scheinen die abgelutschten Gut-Böse-Dualismen, wie sie theatralischen Dark-Metal-Songs genauso anzutreffen sind wie im biblisch-christlichen Glaubenskonstrukt, in Grimms (und anderen) Märchen oder in entsprechenden Kinofilmen und Romanen nicht mehr zu zünden…
Wer jetzt meint, ich hätte mir das alles ausgedacht, um Herrn Welter der Lächerlichkeit preis zu geben, irrt. Die hier sinngemäß und in Zitaten wiedergegebene Fernsehpredigt, die man, passend zur heutigen norddeutschen Location dort wohl als „Gesabbel“ bezeichnen würde, stammt tatsächlich von Herrn Benedikt Welter selbst.
…auch die von Caritas und Sozialdienst katholischer Frauen
Wenn es um Obdachlose gibt, darf natürlich eine Erwähnung der kirchlichen Hilfsreinrichtungen nicht fehlen:
Vielleicht hoffen sie immer noch auf eine der vielen Initiativen, auch die von Caritas und Sozialdienst katholischer Frauen. Auf Gruppen und einzelne Menschen, die zum Schutz für wohnungslose Frauen und andere ringen und sich dabei oft mit den Verantwortlichen von Stadt oder Kommune anlegen. Housing first, zuerst schon mal eine Wohnung besorgen; dann sehen wir weiter, was an Unterstützung nötig und möglich ist.
Bei dieser Darstellung auch kirchlicher Einrichtungen als Robin Hoods, die sich für die Bedürftigen oft mit den Verantwortlichen von Stadt oder Kommune anlegen könnte man glatt übersehen, dass die kirchlichen Einrichtungen zum allergrößten Teil von eben dieser Allgemeinheit finanziert werden.
Hätte man Herrn Welter bis hierher noch wohlwollend positiv anrechnen können, dass er seine Reichweite nutzt, um auf das Schicksal von benachteiligten Menschen aufmerksam zu machen, macht er diesen Aspekt direkt wieder zunichte:
Menschliches Schicksal vs. (Selbst-)betrug
Der Gott der Verlorenen, so bete ich, soll doch bitte mit dafür sorgen, dass die junge Frau in der Langen Reihe in Hamburg und die vielen anderen auch noch viel viel mehr Gelegenheiten bekommen, lächeln können.
Herr Welter, wenn Sie das Schicksal der jungen Frau in die Hände Ihres „Gottes der Verlorenen“ legen, dann zeigen Sie damit, dass Ihnen dieses Schicksal im Grunde sch***egal sein muss. Wäre es das nicht, müssten Sie erklären, was Ihr Bittgebet zu einem mythologischen Phantasiewesen anderes sein soll als ein absurder und auch reichlich arroganter (Selbst-)betrug:
Sie tun hier so, als seien Sie in der Lage, eine fiktive Entität mittels Ansprache (oder Gedankenübertragung?) dazu bewegen zu können, das irdische Geschehen auf Ihre Bitte hin und in Abweichung vom ewigen perfekten Masterplan dieser Entität zu verändern.
Unabhängig davon, worum es dabei konkret geht, haben wir es hier bis zum Beweis des Gegenteils mit Betrug zu tun. Sie betrügen damit sich selbst – und Ihr Publikum.
Und das auf Kosten der Frau, an der Sie während Ihrer Raucherpause herumgeschnuppert und deren Schicksal Sie heute für Ihre Kirchenreklame instrumentalisiert haben, um irgendeinen hanebüchenen Zusammenhang mit Wortfetzen aus einem erfolglosen ESC-Song herstellen zu können.
Ginge es Ihnen tatsächlich um das Schicksal dieser Frau, dann hätten Sie sinngemäß etwas sagen müssen wie: „Da ich leider zugeben muss, dass sich die Wirksamkeit von Bittgebeten an den Gott aus der biblisch-christlichen Mythologie nicht von einer rein menschlichen Wunschphantasie und -einbildung unterscheiden lässt, weil es sich dabei nur um einen antrainierten, meist anerzogenen chronischen Selbstbestätigungsfehler handelt und damit ich endlich wieder in den Spiegel schauen kann, höre ich ab sofort auf so zu tun, als seien Gebete irgendetwas anderes als geistige Selbstbefriedigung.“
On earthy ground, reality resides
Der Band Lord of the Lost wünsche ich viel Erfolg beim ESC – vielleicht schreiben sie ja mal einen Song „Mould and Soap“ / Moder und Seife.
Na, das hat ja geklappt mit dem „viel Erfolg beim ESC“ – vielleicht hätten Sie es mal mit einem „Schmerzhaften Rosenkranz„ versuchen sollen, Herr Welter…!?
Da wird Blut geschwitzt, gegeißelt, mit Dornen gekrönt und per Kreuzigung zu Tode gefoltert! Dass Sie da nicht von selbst darauf gekommen waren! Bei der Steilvorlage! Ganz klar: Sie haben`s verbockt mit Ihrer heidnischen Wünscherei!
Als kleinen Beitrag aus naturalistischer Sicht zum Abschluss noch eine Extra-Strophe für Herrn Welter, präsentiert mit künstlicher Unterstützung von ChatGPT:
In realms divine, faith’s fiction thrives,
Where mystic tales and hope contrive.
On earthly grounds, reality resides,
Seek truth’s light, where faith subsides.
In göttlichen Sphären gedeiht der Glaube als Fiktion,
Wo mystische Geschichten und Hoffnung sich verbinden.
Auf irdischem Grund herrscht die Wirklichkeit,
Suche das Licht der Wahrheit, wenn der Glaube sich legt.
Lord of the Lost haben im Anschluss an Pfarrer Welters gute Wünsche den letzten Platz gemacht. Ich vermute, er hatte sie vorher auch noch gesegnet. Was lernen wir daraus?
Was sollte das denn jetzt?
War das eine Laudatio auf einen unterirdischen Song aus Schland, nur weil da ein paar pseudoreligiöse Phrasen drin vorkommen?
Oder ist das Anwanzen an die seichte deutsche Popkultur – einschliesslich Trommelwirbel 😉 – Teil der Neu-Evangelisation, wie sie sich der Vatikan vorstellt?
Na, dann gute Nacht, schöne Grossmutter!
Ironie des Schicksals: Der liebe Gott, in Gestalt des Heiligen Geistes selbstverständlich, hat für den deutschen Song beim ESC mit einem klare Nein gestimmt. (Hätte ihm gar nicht soviel Geschmack zugetraut.)
Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl, Herr Welter.
Selbst der deutsch-synodale Gott scheint solch plumpe Anbiederei an den Zeitgeist nicht zu mögen.
Was sein Verhalten gegenüber dem jungen Mädchen betrifft, so muss man Herrn Welter zugute halten, dass er ja nur eine kurze Zigarettenpause Zeit hatte, sein Charisma, seine Weltanschauung und seine Caritas der jungen Frau teilhaftig werden zu lassen. Da musste er es mit ein paar Groschen, einer Fluppe, einem alten Hausrezept und einer kurzgefassten eschatologischen Vorlesung bewenden lassen. Das war auch Almosen genug, meine ich.
Immerhin hat er sie – wenn man seiner Geschichte überhaupt Glauben schenken darf – nicht mit salbungsvollen Sprüchen im Regen stehen lassen.
Ich weine täglich wegen des erbarmungswürdigen Zustands der heiligen Mutter Kirche heisse Tränen. Es ist aber immer nur die Art von Tränen, die man einem gewissen Reptil nachsagt. 😉