Kommentar zu: „Gib der Barmherzigkeit dein Gesicht!“

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Kommentar zu: „Gib der Barmherzigkeit dein Gesicht!“ – Weihbischof DIEZ mit osthessischen Jugendlichen auf Weltjugendtag in Polen, Originalbeitrag verfasst von Sebastian Pilz, veröffentlicht am 29.07.16 von Osthessennews

[…] „Es ist wichtig sich bewusst zu machen, was wir durch die Augen in uns hineinlassen“, so Diez.

Da stimme ich Herrn Weihbischof Diez uneingeschränkt zu. Ich halte es für sehr wichtig, kritisch zu hinterfragen, ob das, was wir durch die Augen, aber genauso auch durch die Ohren in uns hineinlassen, uns tatsächlich plausibel erscheint. Und zwar plausibel in der realen Welt. Und nicht in einer um religiöse Scheinwahrheiten erweiterten Welt. Also das, was es Kindern ab einem gewissen Alter ermöglicht, Phantasiewesen wie die Zahnfee oder den Osterhasen als solche zu durchschauen.

Dabei helfe der Beistand durch Jesus Christus, der immer wieder in direkten Blickkontakt mit Menschen getreten ist. „Jesus öffnet den Blick für die Barmherzigkeit Gottes. Er schenke jedem die Kraft seiner Augen, dann werden es barmherzige Augen.“

Okulare Barmherzigkeit?

Ob Augen barmherzig sind oder nicht, spielt keine Rolle. Die Frage ist, ob sich ein Mensch „barmherzig“, also altruistisch verhält oder nicht.

Jesus Christus ist eine literarische Kunstfigur, basierend auf dem möglicherweise belegbaren jüdischen Endzeitprediger Jesus von Nazaret. Weder der erfundene, noch der historische Jesus leisten tatsächlich „Beistand“. Der eine hat nie existiert und der andere ist schon knapp 2000 Jahre tot.

Wer behauptet, dass Jesus „immer wieder in direkten Blickkontakt mit Menschen getreten“ sei, erweckt den Eindruck, als ob man das heute sicher sagen könne. Da die Jesuslegenden in einer Zeit spielen, in denen direkter Blickkontakt unvermeidlich war, wenn man überwiegend analphabetischen Wüstenbewohnern etwas mitteilen wollte, dürfte das der wahrscheinlichere Grund dafür gewesen sein.

Gleiches gilt für Jesus‘ Tätigkeiten als Exorzist. Um Dämonen aus Menschen in Schweine zu hexen, ist ein Blickkontakt unerlässlich. Also – vermutlich.

Jesus: Stark lückenhafter Lebenslauf

Was Jesus den allergrößten Teil seines Lebens gemacht oder nicht gemacht hat, ist nicht überliefert. Nebenbei: Ist es nicht ziemlich seltsam für einen Gottessohn, dass er nur knapp drei Jahre seines irdischen Daseins dafür verwendete, seine göttliche Mission zu erfüllen? Hätte er nicht noch viel mehr Menschen vor der Apokalypse warnen können, wenn er früher angefangen hätte mit seiner Verkündigung? Was wusste er als Teil eines allwissenden Gottes mit 20 noch nicht, was er mit 30 dann wusste?

Indes öffnete Jesus keineswegs nur den Blick für die Barmherzigkeit Gottes. Sondern genauso auch den Blick für dessen inhumane, grausame, unbarmherzige, gnadenlose Seite. Wenn religiös motivierte Menschen über ihre Religion reden, neigen sie oft dazu, die Dinge ihrer Wunschvorstellung entsprechend darzustellen. Der Rest wird genauso gerne ignoriert, verschwiegen, unter den Tisch gekehrt. Oder, wenn es gar nicht anders geht, beliebig umdefiniert.

Menschenopfer als Zeichen göttlicher Barmherzigkeit

Die angebliche Barmherzigkeit Gottes bestand darin, dass er sich, glaubt man der biblischen Legende, einen Menschen, zu dem er ein Vater-Sohn-Verhältnis hat, zu seiner eigenen Befriedigung und um damit den Menschen seine Liebe zu beweisen, als Menschenopfer zu Tode quälen zu lassen.

Mit unserem heutigen Verständnis von Barmherzigkeit hat dieses Verhalten wahrlich nichts zu tun. Wie würden Christen dieselbe Geschichte bewerten, wenn es nicht um Jahwe und Jesus, sondern zum Beispiel um Jupiter und dessen Sohn Bacchus ginge? Oder um einen beliebigen anderen Gott und dessen Sohn?

Auch das großzügige Erlassen von Sünden, die man als Gott den Menschen vorher als solche eingeredet hat, ist ein mehr als heuchlerischer Beweis für Barmherzigkeit. Das alles passt so gar nicht zu einem angeblich allmächtigen, allwissenden und gnädigen Gott. Was damit zusammenhängt, dass diese göttliche „Persönlichkeit“ von A-Z menschlicher Phantasie entsprungen ist. Wer etwas anderes behaupten möchte, müsste dies redlicherweise beweisen können. Und bis dahin als Hypothese deklarieren und auch so behandeln.

Zu Jesu Lebzeiten gabs noch keine Christen, sein Wort galt ausschließlich den Juden

Entsprechend biblischer Aussagen dürfen sowieso nur Anhänger des von Jesus verkündeten Wüstengottes Jahwe überhaupt wenigstens theoretisch auf Gottes Barmherzigkeit hoffen. Alle anderen erwartet nach dem Tod zeitlich unbegrenzte Bestrafung durch physische und psychische Höllenqualen. Vor der indes auch Jahwe-Anhänger nicht gefeit sind. Die werden mindestens so lange postmortal gequält, bis sie sich Gott ganz unterordnen. Oder, christlich ausgedrückt, bis sie „die Liebe Gottes erkannt“ haben. Was sich aber aufs gleiche rauskommt, wenn man zu diesem Zweck in einem „Fegefeuer“ gequält wird.

Die Aussage, Jesus schenke jedem die „Kraft seiner Augen“, ist – bei allem Respekt vor menschlicher Phantasie – Humbug. Besonders großer Humbug ist es, zu behaupten, dass es dadurch barmherzige Augen werden würden. Jesus war nach eigener Aussage nicht gekommen um Frieden zu bringen, sondern das Schwert und Spaltung unter den Menschen. Jedenfalls laut Bibel.

Moral und Religion

Wer tatsächlich erfundene Götterwesen aus der Bronzezeit und Legenden aus dem Vormittelalter braucht um heute wissen zu können, wie er sich verhalten sollte, ist zu bedauern. Nicht, weil es irgendein erfundener Berge-Wüsten-Kriegsgott verlangt, sondern weil sich Altruismus als grundsätzlich sinnvolle und nützliche Strategie erwiesen hat, sollte man die Augen auch Mitmenschen gegenüber offenhalten.

Bei Wikipedia ist in der Zusammenfassung über das Buch „Jenseits von Gut und Böse“ von Michael Schmidt-Salomon zu lesen:

  • Der Widerspruch zwischen Altruismus und Egoismus sei aber nur oberflächlich, Altruismus beruhe vielmehr auf rationalen, sozialen und emotionalen Gründen. Erstens sei altruistisches Verhalten im Rahmen der Strategie „Tit for Tat“ gewinnsteigernd. Zweitens fördere altruistisches Verhalten das eigene Sozialprestige bei den Artgenossen und begünstige so die eigene Fortpflanzung. Drittens löse altruistisches Handeln wegen der menschlichen Empathie oder des Mitleids beim Handelnden selbst positive Gefühle aus. (Quelle: Wikipedia)

Dazu bedarf es keiner Götterphantasien. Diese stören in irdischen Dingen mehr als sie nützen. Zum Beispiel alleine schon durch die typisch religiös-dualistische Trennung in Zugehörige und Un- und Andersgläubige.

Religiöse Moralismen aus dem Vormittelalter taugen nicht als Basis für eine moderne Ethik. Letztere muss für alle Menschen gelten können, unabhängig von deren Religion, Geschlecht, Wohnort, Gruppenzugehörigkeit oder Weltsicht. Dafür spielt es keine Rolle mehr, wie die Menschen in der Bronzezeit das Miteinander ihres Stammes mit einem erfundenen Gott an oberster Stelle regelten.

Und wiedermal die Ehebrecherin…

[…] Am Beispiel des Evangeliums von der Ehebrecherin, die gesteinigt werden sollte, entwaffne Jesus die Ältesten mit einer Gegenfrage.

Zu diesem Beispiel des Evangeliums zitiere ich einen meiner früheren Beiträge zu diesem Thema:

  • Als die Pharisäer die Ehebrecherin, die sehr wahrscheinlich den Ehebruch gewerbsmäßig betrieben hatte, nach Moses‘ Gesetz (das ebenfalls Bestandteil der angeblich allumfänglich göttlich offenbarten Bibel ist) steinigen wollten, setzte sich Jesus keineswegs dafür ein, die Prostituierte vor der Todesfolterung zu bewahren, vielmehr ruft er dazu auf, den „ersten Stein“ zu werfen, wer „ohne Schuld“ sei.
  • Er schien sich offenbar sehr sicher zu sein, dass die selbsternannten Moralapostel ihrerseits an den „Sünden“ der „Ehebrecherin“ umfangreich genug beteiligt gewesen sein dürften. Und auch er selbst hatte keinen Grund, sie zu veruteilen – wohl eher nicht aus Nächstenliebe, sondern viel wahrscheinlicher aus dem gleichen Grund, weswegen auch die anderen Herren nicht den ersten Stein werfen wollten…
  • Immerhin haben die Erfinder dieser Geschichte damit eine gewisse Raffinesse unter Beweis gestellt: Sie lassen Jesus nicht in die ihm gestellte Falle tappen. Er widerspricht eben nicht der alttestamentarischen Regel, dass Ehebrecherinnen zu steinigen sind, was ja für ein tatsächlich neues und moderneres Moralverständnis sprechen würde.
  • Was der Frau das Leben rettet, ist der Trick, dass Jesus deren angebliche Schuld ins Verhältnis zur Schuld der vermutlich bzw. potentiell ebenfalls am Ehebruch beteiligten Männer setzt – ein Vorgehen, das genausowenig unserem heutigen Moralverständnis entspricht wie die damit elegant umgangene Steinigung.

Judikative offenbar nicht im Sinne Jesu

„Dabei wird deutlich: Jesus will in Schuldfragen, dass wir einander aufrichten, nicht übereinander richten“, so Renz.

Diese Vorstellung entspricht nicht dem, wie in unserer heutigen Gesellschaftsordnung mit Schuld umgegangen wird. Da wird nämlich sehr wohl übereinander „gerichtet.“ Und zwar im Namen des Volkes und nicht in Gottes Namen. „Übereinander richten“ und „einander aufrichten“ ist kein Widerspruch.

Jesus schenke dazu die Kraft und das Heil, wofür auch der gegenwärtige Weltjugendtag täglich viele Beispiele böte.

Um irgendetwas schenken zu können, müsste er zunächst mal wenigstens existieren. Davon ist nach heutiger Sach- und Faktenlage nicht auszugehen. Bis zum Beweis des Gegenteils ist jede Aussage darüber, was Jesus tut oder nicht tut, rein menschliche Fiktion. Naives Wunschdenken wider besseres Wissen. Nicht mit klarem Denken und intellektueller Redlichkeit vereinbar. Oder auf gut Osthessisch: „Jesus schenkt nüscht.“

Und auch die täglich vielen Beispiele des gegenwärtigen Weltjugendtages sind bestenfalls Beispiele für menschliches Verhalten und menschliche Eigenschaften. Nicht für einen Kraft und Heil verschenkenden Jesus. Wer ernsthaft Dinge in Wahrnehmungen hineininterpretiert, die nachweislich nicht der Sach- und Faktenlage entsprechen, wer Zusammenhänge „erkennt“, wo faktisch keine bestehen, bewegt sich gefährlich nahe in Richtung Wahn.

Im Glauben verbunden

Franziska Neidhardt aus Flieden ist mit dieser Gruppe zum ersten Mal auf einem Weltjugendtag. „Mich beeindruckt die große Menschenmaße, die im Glauben verbunden über verschiedene Kulturen hinweg fröhlich zusammen ist“, sagte die 17-jährige aus Flieden.

Das funktioniert, solange man sich mit Leuten umgibt, die die eigene religiöse Scheinwirklichkeit teilen. In seiner Herde fühlt sich das Schaf am wohlsten. Und es spielt auch kaum eine Rolle, was das gemeinsame Identifikationsmerkmal ist. Dass es auch noch andere gibt, die von derselben Religion indoktriniert wurden wie man selbst, macht diese nicht wahrhaftiger oder realer.

Ich bin von Jesus angenommen wie ich bin und deshalb sind es auch andere.“, so Neidhardt, die sich bereits auf den Papst und die Nacht im Freien freut.

Wie bringt man einen fast volljährigen Menschen in Nordwesteuropa und im Jahr 2016 dazu, so etwas öffentlich zu sagen? Was muss man Menschen erzählen, dass sie sich tatsächlich „von Jesus angenommen“ fühlen? Und dass sie gar daraus schließen, dass deshalb auch andere von ihm angenommen seien?

Jesus war jüdischer Rabbi und hatte sich mit seinen Aussagen an seine ebenfalls jüdischen Glaubensgenossen gewandt. Un- und Andersgläubige interessierten ihn nicht. Ihm ging es nur darum, seine Glaubensgenossen auf die vermeintlich kurz bevorstehende Ankunft Gottes und dessen Jüngstes Gericht vorzubereiten. Das hatte Jesus als seine Mission betrachtet. Nicht die Gründung einer Religion.

Völlig schmerzfrei

Das taten später andere auf seine Kosten. Jesus würde sich im Grabe umdrehen, wüsste er, dass er als streng monotheistischer Jude heute noch als Drittel eines dreiteiligen und damit aus seiner Sicht klar polytheistischen Gottes verehrt wird. Eine schlimmere Blasphemie wäre für ihn wohl kaum vorstellbar gewesen.

Das alles stört die 17-jährige Frau Neidhardt aus Flieden offenbar nicht im Geringsten. Vielleicht sind ihr diese Hintergründe nicht mal bekannt oder bewusst. Sie hat irgendeine Wunschvorstellung von ihrem Jesus. Und die gilt für sie. Aber niemand stört es – solange sie nicht dahinter kommt, dass das alles ja nur Lug und Trug ist und sie sich schon allein deshalb von dieser Illusion befreit.

Bleibt zu hoffen, dass „der Papst und die Nacht im Freien“ wunschgemäß verlaufen sind.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Artikel.
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