Kommentar zu NACHGEDACHT 185 – An der Basis… – über Unhöflichkeit und Rache

Lesezeit: ~ 7 Min.

Kommentar zu NACHGEDACHT 185 – An der Basis…, Originalartikel verfasst von Christina LANDER zum Thema Höflichkeit und Rache, veröffentlicht am 24.7.2016 von Osthessennews

Im heutigen NACHGEDACHT-Artikel gehts um einen rüpelhaften jungen Mann, der sich nicht an die in einem hessischen Supermarkt üblichen Konventionen hält. Stattdessen drängelt er sich frech an der Fleischtheke vor, wodurch sich die Autorin zunächst zu Rache und Vergeltung hinreißen lässt. Später erfährt man noch, dass sie die Existenz solcher Menschen traurig stimmt.

[…] Plötzlich aber stürmte ein Mann in unsere Richtung, drängte mich vollkommen ab und meinte: „Ich muss hier jetzt hin!“

Was könnte der Grund für dieses Verhalten gewesen sein? Zahllose Möglichkeiten sind denkbar: Vielleicht ist der Mann ansonsten völlig entspannt, freundlich und zuvorkommend – und war nur heute wegen einer gerade erlebten Ausnahmesituation so unhöflich. Vielleicht musste er einfach tatsächlich hier jetzt hin. Bei Zweifeln am Wahrheitsgehalt dieser Aussage hätte man ihn einfach fragen können.

Oder vielleicht hatte er in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass er mit Vordrängeln am schnellsten ans Ziel kommt. Und das die Sanktionen, die dafür vielleicht zu erwarten sind, so gering ausfallen, dass man sie locker in Kauf nehmen kann.

Oder er wusste einfach nicht, nach welchen Spielregeln der Fleischeinkauf hierzulande abläuft. Das kann tatsächlich passieren, weil das zu den Dingen gehört, die nicht weltweit einheitlich geregelt, irgendwo verbindlich festgeschrieben und auch nicht unbedingt für jeden ersichtlich sind. Außer in einigen Supermärkten, wo zur Fleischverteilung Nummern gezogen werden müssen.

Viele Gründe denkbar

MImimi: Rache an der Wursttheke
Mimimi: Rache an der Wursttheke

Ganz gleich, was die tatsächlichen Gründe für das Verhalten des Dränglers gewesen sein mögen: Er konnte sich in dieser Situation ganz offenbar nicht anders entscheiden. Das entschuldigt sein Verhalten nicht, aber es verdeutlicht, dass bestimmte Gründe dazu geführt haben.

Die Entscheidungen, die man als Mensch als das Produkt eines „freien Willens“ empfindet, sind in Wirklichkeit durch die Prägung des Unterbewusstseins determiniert. Das unvorstellbar komplexe Geflecht aus Erfahrungen, Erlebnissen, Wahrnehmungen, Verknüpfungen, Erinnerungen, Gefühlen, Bewertungen bildet die Grundlage unserer Entscheidungen.

Was uns als völlig frei und unabhängig getroffene Willensentscheidung vorkommt, hat unser Unterbewusstsein schon kurz vorher für uns „entschieden.“ Vielleicht hätte es schon gereicht, wenn jemand den Drängler kurz vorher mal angelächelt hätte, um die Prägung seines Gehirns so zu verändern, dass er sich nicht vorgedrängelt hätte, wer weiß!

Mit anderen Worten: Jedes Verhalten ist die Folge von Faktoren, die zu diesem Verhalten geführt haben. So auch in diesem Beispiel. Mit den Mitteln wie der Psychologie, Soziologie, Verhaltensforschung oder auch Hirnforschung ließe sich bestimmt ziemlich zuverlässig herausfinden, welche Faktoren in dem geschilderten Fall dazu geführt haben, dass der Drängler sich genau so und nicht anders verhalten hat.

Wie auch immer: Er war offenbar der Auffassung, dass er jetzt hier hin müsse und das deswegen auf dürfe. Das kann man dann so akzeptieren, zum Beispiel, wenn man es sowieso nicht eilig hat. Oder wenn man sich generell nicht von der Hektik anstecken lassen möchte.

Wie damit jetzt umgehen?

Wer sich tatsächlich unfair behandelt fühlt oder persönlich verletzt, kann Widerspruch einlegen und auf sein „Recht“ bestehen. Dabei sollte man sich idealerweise sicher sein, dass man die „besseren Rechte“ hat.

Wenn der Mann einem dann zum Beispiel erklärt, dass er gerade auf dem Weg von einem anstrengenden und gefährlichen Feuerwehr-Nachteinsatz nach Hause ist und er bis spätestens 9:30 Uhr noch für die bettlägrige Oma aus der Wohnung über ihm eingekauft und auch noch die Kinder abgeholt und die Katze gefüttert haben muss, dann sähe die Situation möglicherweise schon wieder ganz anders aus. Was sich einem voreingenommenen Beobachter vielleicht als Egoismus darstellt, ist womöglich das genaue Gegenteil davon.

Deshalb wäre es, wenn man sich das Vordrängeln nicht gefallen lassen möchte, wahrscheinlich die beste Strategie, einfach mal zu fragen, was denn der Grund für dieses „Müssen“ ist. Bekommt man jetzt statt einer wirklich guten Story eine pampige Antwort, kann man darauf anders reagieren als auf den gerade vorgestellten Feuerwehrmann.

Brav folgte ich seinen Worten,

Auch dieses Verhalten ist das Ergebnis eines unvorstellbar komplexen Zusammenspiels verschiedener Prägungen.

Rache ist Blutwurst? Nein, biblisch

[…] Also nahm ich all meinen Mut zusammen, quetschte mich wieder an meinen Platz zurück und sagte laut und bestimmend: „Ich muss hier aber nun auch hin!“

Mit anderen Worten: Das Verhalten des Vordränglers hat Sie so gestört, dass schließlich doch die Anteile Ihrer Prägung überwiegten. Die Anteile, die sich sowas nicht gefallen lassen. Die auf eine vermeintliche Provokation mit Rache und Vergeltung reagieren.

Die gewählte Strategie, „Gleiches mit Gleichem“ zu vergelten, ist uralt. Sie können Sie bei Bedarf sogar problemos mit dem Wort Ihres Gottes rechtfertigen. In der Bibel wird der Provinzal-Wüsten-, Berg- und Kriegsgott Jahwe persönlich als außerordentlich rach- und vergeltungssüchtig beschrieben.

Es finden sich auch Aufforderungen, sich genau so zu verhalten und Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Unabhängig davon, dass Jesus diese Anweisung später aufgehoben haben soll: Die Bibel gilt nach katholischer Auffassung nach wie vor bei Bedarf vollumfänglich als von Gott offenbart und damit als wahr. Also auch die aus heutiger Sicht höchst fragwürdigen, weil längst überholten und ethisch haarsträubenden Moralismen aus der Bronzezeit.

Jahwe: Ein rachsüchtiger, gnadenloser Kriegsgott**

Hier nur einige wenige Beispiele aus der Bibel zum Thema Rache und Vergeltung, die sich quasi beliebig vermehren lassen:

  • [Gott spricht:] Die Rache ist mein; ich will vergelten. (5. Mo 32:35, Mod. Text)
  • HERR Gott, des die Rache ist, Gott, des die Rache ist, erscheine! Erhebe dich, du Richter der Welt; vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen!
    (Psalm 94:1 Mod. Text)
  • Der HERR ist ein eifriger Gott und ein Rächer, ja ein Rächer ist der HERR und zornig; der HERR ist ein Rächer wider seine Widersacher, und der es seinen Feinden nicht vergessen wird. (Nahum 1:2, Mod. Text)
  • Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des HERRN willen, es sei dem Könige, als dem Obersten, oder den Hauptleuten, als den Gesandten von ihm zur Rache über die Übeltäter und zu Lobe den Frommen. (1. Petrus 2, 13 Mod. Text)

Sowas möchte heute verständlicherweise niemand mehr haben. Man erklärte dieses fürchterliche Gottesbild deshalb für nicht mehr gültig. Und hält aber gleichzeitig trotzdem am Dogma der durchweg von Gott geoffenbarten, übergeordneten biblischen Weisheit fest.

Wer weiß, wozu es nochmal nützlich sein könnte? Vielleicht muss wiedermal einen Angriffskrieg in Jahwes Namen und Auftrag geführt werden? Oder das Verhalten von Vertretern eines anderen Gottes erfordert Rache? Oder es ist wiedermal eine Atombombe als „Werkzeug für die Nächstenliebe“ zu segnen?

Außerdem wird das Alte Testament in der christlichen Lehre noch benötigt, um die Geschichten im Neuen Testament damit zu „belegen.“ Dass die neutestamentarischen Geschichten gezielt so erfunden wurden, dass sie wie Erfüllungen der Alttestamentarischen Prophezeiungen erscheinen, stört keinen großen Geist. Und einen Gläubigen schon gar nicht.

Jesus: Der galiläische Hitzkopf

Auch Jesus war offenbar wie sein Vater (bzw. wie das erste Drittel seiner dreiteiligen Persönlichkeit) ein rechter Hitzkopf. Einige Geschichten berichten davon. Jemand, der zum Beispiel auch schon mal einen Feigenbaum dafür verfluchte, weil er keine Früchte trug (es war die falsche Jahreszeit):

  • Als sie am nächsten Tag Betanien wieder verließen, hatte Jesus Hunger. Da sah er von weitem einen Feigenbaum, der schon Blätter hatte. Er ging hin, um zu sehen, ob auch Früchte an dem Baum waren; doch er fand nur Blätter daran. Es war allerdings auch nicht die Zeit der Feigen. Da sagte Jesus zu dem Baum: »Nie wieder soll jemand von dir Feigen essen!« Das hörten auch seine Jünger. (Mk11, 12-14 NGÜ)

Oder wie hier im Tempel, wo er sich so rüpelhaft aufführte, dass er vermutlich deshalb später am Kreuz hingerichtet wurde:

  • Da machte er sich aus Stricken eine Peitsche und trieb sie alle mit ihren Schafen und Rindern aus dem Tempelbezirk hinaus. (Jo 2,15 NGÜ)

Aus Sicht der Tempelhändler war das Verhalten dieses seltsamen Mannes aus der Wüste, den seine eigenen Angehörigen auch schon mal für verrückt erklärt hatten, völlig inakzeptabel. Dabei hatte sogar Jesus einen (aus seiner Sicht) guten Grund, die Händler gewaltsam aus dem Tempel zu jagen und ihr Eigentum zu beschädigen. Er scherte sich einen Dreck um gesellschaftliche Konventionen, sondern verfolgte gewaltsam und rücksichtslos sein Ziel.

Rache und Vergeltung im Neuen Testament

In einigen Geschichten, die die Geschichtsschreiber Jesus in den Mund legten, spielt Rache und Vergeltung eine zwar subtilere, aber nicht minder wichtige Rolle. Auch hier rächt sich nämlich Gott schon allein dafür, dass Leute nicht an ihn glauben.

Er vergilt das Nicht-Befolgen seiner Gebote (allem voran die Verehrung und Achtung seiner selbst) nicht etwa mit einer mündlichen Verwarnung oder Zurechtweisung. Sondern mit zeitlich unbegrenzten, physischen und psychischen Höllenqualen. Und somit ist die Gesamtaussage des Neuen Testaments sogar noch grausamer und inhumaner als die Gewaltphantasien des dauerbeleidigten Jahwes aus dem Alten Testament.

Wer denkt, eine Jahrtausendelange, systematische Indoktrination mit solchen völlig inakzeptablen Moralismen habe keinen negativen Einfluss auf die Menschheit, der irrt – oder er drückt sich vor der Wahrheit.

[…] Und natürlich habe ich auch nicht richtig reagiert, weil ich dasselbe Gehabe nachgemacht habe.

Und trotzdem haben Sie genau so reagiert und nicht anders. Nicht immer hat unser Unterbewusstsein genug Zeit, eine Situation so umfassend zu erfassen, um dann auch tatsächlich die angemessene Reaktion auszulösen. Dann wird nicht das Ergebnis einer langen Analyse, Abwägung und Reflexion irgendwann als „Entscheidung“ präsentiert. Sondern das, was dem Unterbewusstsein aufgrund seiner Prägung auf die Schnelle für die Situation am geeignetsten erschien.

Ich hätte ihm sagen sollen: „Moment, Sie sind hier nicht allein. Andere haben auch ein Recht, hier zu stehen.“

Dass er nicht allein hier ist, dürfte er auch schon selbst bemerkt haben. Denn sonst hätte er sich ja gar nicht vordrängeln müssen. Ob das Fehlen der Information, dass auch andere ein Recht haben, hier zu stehen, der tatsächliche Grund für sein Verhalten war, ist auch fraglich. Auch ist mit dieser Information noch nicht geklärt, wer die „besseren“ Rechte hat, hier zu stehen.

Mimimimimi

[…] Wenn es Menschen gibt, die sich selbst beim Fleischkaufen egoistisch nach vorne drängen, dann ist das einfach nur traurig.

Wie gehen Sie denn mit Dingen um, die tatsächlich Grund für Traurigkeit bieten, wenn Sie schon die Existenz (!) von Menschen, die sich mal an der Fleischtheke unhöflich benommen haben traurig finden?

Wenn das wirklich so sein sollte, dann sollten Sie tatsächlich dringend etwas dagegen unternehmen und der Sache auf den Grund gehen. Durch Ihre Reaktion haben Sie jedenfalls vermutlich nicht zu einer positiven Veränderung der Situation beigetragen.

Oder man lässt Rache und Trauer außen vor und sich durch dieses Erlebnis zu einem kleinen Experiment inspirieren lassen. So könnte man zum Beispiel einfach mal verschiedene Taktiken testen, um an einer Warteschlange vorgelassen zu werden. Nicht mit Rüpelhaftigkeit, sondern mit verschiedensten Begründungen. Das könnte ein spannendes, interessantes und vielleicht sogar lustiges Unterfangen werden, das niemandem wirklich schadet. Eines, das einem selbst vielleicht sogar helfen kann, mit solchen Situationen souverän umgehen zu können.

Und schließlich könnte man auch einfach zu diesem Schluss kommen: Solange die Schlechtigkeit der Menschen nur darin besteht, dass sie es an der Fleischtheke eilig haben, leben wir im Paradies.

[…] Und wenn man es nicht einmal schafft, im Kleinen freundlich zu sein, wie sollen wir uns dann zwischen den Nationen, zwischen den Religionen verstehen?

Das sehe ich eher umgekehrt, besonders was die Religionen angeht. Sie sind es, die gezielt Spaltung, Trennung, Missgunst unter die Menschen bringen. Rache und Vergeltung spielen, wie oben beispielhaft dargestellt, besonders in monotheistischen Religionen mit „apostolischem“ Auftrag eine zentrale Rolle.

Zwietracht, brought by Jesus

Lukas lässt in seinem Evangelium Jesus persönlich unmissverständlich klarstellen (Hervorhebung von mir):

  • Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht. Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins sein, drei gegen zwei und zwei gegen drei. Es wird der Vater gegen den Sohn sein und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter, die Schwiegermutter gegen die Schwiegertochter und die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter. (Lk 12, 51-53 EU)

Auch wenn das Christentum durch Aufklärung und Säkularisierung heute meist davon absieht, das Reich ihres Herren auf Erden mit dem Schwert und Scheiterhaufen zu errichten und gegen Un- und Andersgläubige zu verteidigen, so ändert es nichts an dem Gefahrenpotential, das nach wie vor in dieser Religion schlummert.

Und an ihrem negativen Einfluss, direkt oder indirekt. Wer christlich indoktriniert wurde, wurde sehr wahrscheinlich auch mit Rache und Vergeltung als mögliche Reaktion konfrontiert.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Artikel.
**Aussagen über biblische Gestalten oder Umstände beziehen sich auf diesbezügliche biblische Aussagen.

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