Wort zum Wort zum Sonntag: Nine Eleven

Lesezeit: ~ 6 Min.

Das Wort zum Wort zum Sonntag: Nine Eleven, gesprochen von Benedikt Welter (kath.), veröffentlicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen am 10. September von ARD/daserste.de

Die [Sprache der Politiker] bekam von diesem Tag an fast religiöse Qualität: Vom „Bösen“ wird seither gesprochen. Von „Achsen des Bösen“ sogar und von noch schlimmeren Dingen.*

Nine Eleven Gut BöseIn der Tat wird hier eine der vielen Parallelen zwischen religiösen und politischen Ideologien deutlich. Beide bedienen sich des Gut-Böse-Dualismus, der schon für unvorstellbar viel Leid auf der Erde gesorgt hat. Denn darüber, was denn eigentlich gut und was böse ist, herrscht keineswegs weltweit Einigkeit.

Und trotzdem hat der Klerus genauso gute Gründe, etwas als „das Böse“ zu definieren wie bestimmte Politiker. So lässt sich nicht nur ein Feindbild aufbauen, sondern auch gleich die angebliche Überlegenheit der jeweils eigenen Ideologie darstellen.

Mit fatalen Folgen – vor, während und nach Nine Eleven. Denn das, was in der Weltsicht des einen als „das Böse“ gilt, kann in der Weltsicht eines anderen durchaus als „das Gute“ oder sogar als „das Allerbeste“ angesehen werden. Und umgekehrt. „Gut“ und „Böse“ sind keine absoluten Werte, sondern Festlegungen. Oder auch Überzeugungen.

In Religionen ist das entscheidende Kriterium die einfache Frage, ob jemand den jeweils behaupteten Gott anerkennt und sich ihm unterordnet. Je unkritischer, desto „Gut.“ Je un- oder gar andersgläubiger, desto „Böse.“

Das Feindbild nach Nine Eleven

Und Politiker können sich ebenfalls direkt in der Bibel bedienen, um ein dualistisches Freund-Feindbild aufzubauen.

  • Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns. (Mk 9,40 EU)
  • Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich (Mt 12, 30 EU)

Das ist so trivial, so banal, dass es sogar ein noch so unterbelichteter Staats- oder Religionslenker problemlos so lange wiederholen kann, bis auch der letzte Wähler und das letzte Schaf gelernt hat, dass es in der Welt ganz offenbar „Gut“ und „Böse“ gibt. Dabei spielt es keine Rolle, um welche (monotheistische) Religion und um welche politische Richtung es geht. Wir sind natürlich die Guten, die anderen sind natürlich die Bösen. Fertig.

Wie die „Qualität“ einer solch pauschalen Schwarz-Weiß-Malerei – nicht nur in Bezug auf Nine Eleven – zu bewerten ist, sei dem Leser überlassen.

Angst zahlt sich aus

Und seit diesem Tag, so habe ich den Eindruck, beherrscht eine tiefliegende ängstliche Verunsicherung die Welt. Viele sehen „das Böse“ „immer und überall“.

Hier zeigt sich eine weitere Parallele zwischen religiöser und politischer Ideologie. Denn beide profitieren von genau dieser tiefliegenden ängstlichen Verunsicherung.

Je mehr Menschen bereit sind, das jeweils vorgegebene „Gut“ als „Freund“ und „Böse“ als „Feind“ anzusehen, desto größer der Gewinn an Macht und Einfluss. Je verängstigter und verunsicherter Menschen sind, desto empfänglicher sind sie für hoffungsvolle Illusionen, wie sie Religionen anbieten.

Theodizee

Es gibt Böses oder das Böse. Ja, es gibt sogar abgrundtief Böses, das uns die Sprache verschlägt. Zugleich gibt es das Andere, das selbst diesen Abgrund nochmals unterfängt und trägt. Und das dürfen wir mit Fug und Recht beim Namen nennen: Es ist das Gute!

Die Frage, warum es trotz eines angeblich allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gottes überhaupt so etwas wie „das Böse“ geben kann, können Vertreter dieses Gottes bis heute nicht beantworten. Wenn also, wie in diesem Bewältigungsversuch, behauptet wird, es gäbe ein „Gutes“, das das „Böse“ „unterfängt und trägt“, dann hieße das ja, dass das Böse ein Teil des Guten sei.

Mit Widersprüchen haben Religionen von Haus aus schwer zu kämpfen. Wenn Gott bestraft, dann soll das auch Zeichen seiner Liebe sein. Geschieht etwas, das uns gut erscheint, war es ein Zeichen des lieben Gottes.

Verhält sich jemand aus unserer Sicht böse, dann deshalb, weil er vom lieben Gott als Zeichen seiner Liebe die Freiheit dazu bekommen hat, Böses tun zu können. Und bei nicht menschlich verursachtem „Bösen“ wie Epedemien oder Naturkatastrophen erklärt man eben den Willen des lieben Gottes als „unergründlich.“

Wir sind immer die Guten

Im Fall von Nine Eleven sind – ganz klar – die Attentäter „das Böse“. Jedenfalls aus Sicht eines Teils der Weltbevölkerung. Für einen anderen Teil ist ein Selbstmordattentat umso besser, je mehr Tote es gibt und je mehr Schaden es anrichtet.

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Quelle: Axiological Atheist

Dieser Teil hat das, was er hier bekämpft, ganz klar und unzweifelhaft genauso als „das Böse“ ausgemacht wie umgekehrt. Und zwar als so böse, dass er meint, mit blanker Gewalt dagegen vorgehen zu müssen.

Um das nachvollziehen zu können (nicht, um es gut heißen zu können!),  muss man sich mit den Gründen befassen, die diese Menschen dazu gebracht hatten, so massiv gegen grundlegendste ethische Standards zu verstoßen. Das dürfte natürlich deutlich aufwändiger sein, als die Attentäter als „das Böse“ zu bezeichnen und ebenfalls mit Gewalt dagegen vorzugehen (weil man selbst ja „das Gute“ vertritt).

Nochmal: Es geht keinesfalls darum, Gewalt zu rechtfertigen oder zu relativieren. Es geht nur darum darzustellen, dass es unsinnig ist, die Welt oder die Menschen in „Gut“ und „Böse“ einzuteilen.

Und weil Religionen genau das tun, scheiden sie als Quelle für Ethik aus. Menschen verhalten sich nicht deshalb „böse“, weil es „das Böse“ gibt, das sie dazu anstiftet oder davon abhält, Gutes zu tun.

Eine moderne Ethik im 21. Jahrhundert muss für die Weltbevölkerung gelten können – unabhängig von Wohnort, Gruppenzugehörigkeit, Ethnie, Weltsicht, Geschlecht oder Religion. Der Rahmen, in dem sich das menschliche Zusammenleben abspielt, kann nicht das „Gut“ einer bestimmten Religion sein. An oberster Stelle muss die Würde und Freiheit des Menschen stehen, wie es in modernen Verfassungen oder in den Menschenrechten ja zum Glück auch der Fall ist.

Keine Frage des Glaubens

„Es gibt mehr gute Menschen als böse.“ – Das zu glauben ist auch für mich manchmal ein innerer Kraftakt.

Da empfehle ich Ihnen gerne zwei Bücher, die Ihnen helfen können, bei den Begriffen „Gut“ und „Böse“ klarer zu sehen:

Es könnte Sie überraschen zu erkennen, warum es gar nicht erforderlich und auch nicht sinnvoll ist, Menschen in „gut“ und „böse“ einzuteilen. Warum die Begriffe „gut“ und „böse“ generell nicht für Aussagen darüber geeignet sind, wie sich Menschen verhalten und wie sie sich verhalten sollten. Und dass Sie Ihre Kraft nicht für eine so unzuverlässige und unergiebige Methode wie „glauben“ verschwenden müssen.

Wenn ich so grüble und ins Zweifeln komme, dann hilft mir ein wirklich GUTES Wort des Apostels Paulus; mit ihm zusammen kann ich das so sagen: Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute! (Röm 12,21)

Auf genau denselben Satz könnten sich auch die berufen, die eine genau entgegengesetzte Vorstellung davon haben, was Gut und was Böse ist. Deshalb kann ich nur nochmal auf meine Buchtipps hinweisen, die mit Sicheit mehr Licht ins Dunkel bringen können als ein vormittelalterlicher Mythos. Der Kampf „Gut gegen Böse“, zu dem hier aufgefordert wird, ist eine Erfindung von Menschen, die einen Nutzen davon haben.

Lasst Raum für den Zorn Gottes!

Kirchenkunstreport 2016
Gut und Böse aus religiöser Sicht
Quelle: Kirchenkunstreport

Und auch diesmal wurde wieder – wen wunderts – ein scheinbar passender Satz aus dem biblischen Kontext gepickt, der vermeintlich die gewünschte Aussage zum Thema Nine Eleven liefern soll.

Dabei hätte es nur zwei Sätze vorher die erstaunliche Begründung dafür gegeben, warum sich Menschen bei der Rache zurückhalten sollten:

  • Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn (Gottes); denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr. (Röm 12, 19 EU)

Das ist natürlich mal ein plausibler Grund, warum Menschen auf Rache verzichten sollten. Und liest man im zitierten Römerbrief weiter, erfährt man noch Näheres darüber, warum sich der Christ der staatlichen Ordnung unterzuordnen habe (Hervorhebungen von mir):

  • Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt.
  • Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen.
  • Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten; willst du also ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, sodass du ihre Anerkennung findest.
  • Sie steht im Dienst Gottes und verlangt, dass du das Gute tust. Wenn du aber Böses tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut.
  • Deshalb ist es notwendig, Gehorsam zu leisten, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen.
  • Das ist auch der Grund, weshalb ihr Steuern zahlt; denn in Gottes Auftrag handeln jene, die Steuern einzuziehen haben.
  • Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid, sei es Steuer oder Zoll, sei es Furcht oder Ehre.

Biblische Legitimierung unterwürfiger Obrigheitshörigkeit

Dawkins
Quelle: Philosophical Atheist

Diese Anleitung zur Obrigkeitshörigkeit war unerlässlich, wenn man aus einer jüdischen Endzeitsekte eine Staatsreligion erschaffen wollte. Dessen war sich offenbar auch der unbekannte Verfasser bewusst, der diesen Text unter dem Pseudonym „Paulus“ in Form eines fiktiven „Römerbriefes“ verfasst hatte. Die staatliche Autorität wird hier unmissverständlich aus der übergeordneten Macht Gottes abgeleitet.

Ungezählte Menschen wurden im Auftrag von Menschen verfolgt, gequält, gefoltert und getötet, die von sich behaupteten, dazu „durch Gottes Gnaden“ legitimiert und beauftragt zu sein. Hätte es damals schon ein „Wort zum Sonntag“ gegeben, wären vermutlich Abschnitte wie diese für die Verkündigung verwendet worden.

Wie wirken diese Anordnungen aus heutiger Sicht? Wie würden Christen es bewerten, wenn eine andere Religion genau diesen Text in ihren „Heiligen Schriften“ hätte?

Interessant wäre mal ein „Wort zum Sonntag“ zu dem Thema, wie es denn eigentlich inzwischen, im Jahr 2016, um die Trennung von Staat und Kirche in Deutschland bestellt ist. Und welche Rolle Religionen in den Konflikten spielen, mit denen Menschen den Weltfrieden heute bedrohen – nicht erst seit Nine Eleven.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Beitrag.
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*** Bibelzitate mit der Kennzeichnung EU stammen aus der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

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