Gerechtigkeit – für Christen nicht nur Gefühlssache

Lesezeit: ~ 7 Min.

Gerechtigkeit – für Christen nicht nur Gefühlssache, Das Wort zum Wort zum Sonntag, gesprochen von Dr. Wolfgang Beck (kath.), veröffentlicht am 4.2.2017 von ARD/daserste.de

Klar, Gerechtigkeit unter Menschen zu erzeugen, ist eine schwierige Aufgabe. Das haben auch die Jünger und Jüngerinnen Jesu in den ersten Jahrhunderten erlebt. Auch sie mussten erst Regeln finden, damit alle mit dem Notwendigen versorgt werden und am gemeinsamen Leben teilhaben können.

GerechtigkeitDiese Darstellung erweckt den Eindruck, dass es bis dahin noch keine Gesellschaftsnormen und Regeln gegeben hätte. Und dass es erst die Frühchristen waren, die diese Regeln „gefunden“ hätten.

In Wirklichkeit hatte es zu dieser Zeit schon mehrere Hochkulturen in verschiedenen Regionen der Welt gegeben, die bereits umfassende Standards für das Zusammenleben der Menschen entwickelt hatten.

Nicht also etwa das Finden der Regeln war die Aufgabe, die die Nachfolger der jüdischen Endzeitsekte zu bewältigen hatten. Vielmehr galt es, die Elemente aus dem Judentum und aus den „heidnischen“ Religionen so miteinander zu vermischen, dass das Ergebnis kompatibel zum Machtanspruch des römischen Reiches wurde.

Halt du sie dumm, ich halt sie arm

Bis zum heutigen Tag zeigt sich, wie gut das den Kirchengründern damals gelungen war. Denn auch heute noch vertraut der Klerus auf Schutz, Sonderprivilegierung und Subvention durch die Politik.

Wohl niemand hat diese mehr als fragwürdige Allianz von Kirche und Staat so treffend auf den Punkt gebracht wie Reinhard Mey in seinem Lied „Sei wachsam“:

  • Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm:
    Halt du sie dumm, – ich halt’ sie arm!
    (Quelle: reinhard-mey.de)

Ob wirklich die Versorgung mit dem Notwendigen und die Teilhabe am gemeinsamen Leben die vorrangigen Ziele damals waren, wage ich stark zu bezweifeln. Besonders abwegig erscheint mir die Vorstellung, es sei das Ziel gewesen, tatsächlich alle mit dem Notwendigen zu versorgen.

Auch wenn Kirchenvertreter es bis heute gerne so darstellen, als würden sich zum Beispiel auch die Versprechen und Aufforderungen in der Bibel auf alle, also auf die gesamte Menschheit beziehen, so trifft das natürlich nicht zu.

Jesus selbst sah sich nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel geschickt. Auch das mit der Nächstenliebe oder Feindesliebe bezieht sich ausschließlich auf die Gruppe derer, die sich dem behaupteten Gott unterworfen haben. Deswegen ja auch nur Nächstenliebe. Denn Un- und Andersgläubige sollen bestenfalls ignoriert und schlimmstenfalls massakriert werden. Sofern man für Letzteres nicht seinem Gott den Vortritt lässt.

Was bedeutet Gerechtigkeit?

Bevor man sich mit einem so vielschichtigen Thema wie der Gerechtigkeit befasst, ist der Versuch einer Begriffsklärung sinnvoll. Wikipedia schlägt vor (Hervorhebung von mir) :

  • Der Begriff der Gerechtigkeit (griechisch: διϰαιοσύνη dikaiosýne, lateinisch: iustitia, englisch und französisch: justice) bezeichnet einen idealen Zustand des sozialen Miteinanders, in dem es einen angemessenen, unparteilichen und einforderbaren Ausgleich der Interessen und der Verteilung von Gütern und Chancen zwischen den beteiligten Personen oder Gruppen gibt. (Quelle: Wikipedia)

Zum Thema Gerechtigkeit haben sich schon unzählige Menschen sehr viele Gedanken gemacht. Wie auch ein Blick in die Geschichte zeigt, sagt der Begriff an sich noch nichts darüber aus, was denn nun als gerecht angesehen wird und was nicht.

Denn dies hat sich im Lauf der Zeit und abhängig von den jeweils vorherrschenden Gegebenheiten schon oft grundlegend verändert. Und auch heute noch gibt es völlig widersprüchliche Ansichten darüber, was gerecht ist. Eine statische, allgemeinverbindliche Definition von Gerechtigkeit scheint es nicht zu geben.

Verschiedenste Gerechtigkeitsansprüche

Was die Sache zusätzlich verkompliziert ist die Tatsache, dass verschiedenste Institutionen mit verschiedensten Begründungen für sich beanspruchen, dass ihre Vorstellung von Gerechtigkeit die einzig richtige ist.

Egalitarismus, Libertarismus und Kommunitarismus sind die Grundpfeiler des modernen Gerechtigkeitsbegriffes. Weil „Gerechtigkeit“ in vielen, sehr unterschiedlichen Zusammenhängen und mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird, fordern manche Philosophen, diesen Begriff nur noch im Zusammenhang mit der Rechtssprechung zu benutzen.

Derweil beruft sich das Christentum zur Definition ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit auf – was auch sonst – die Bibel. Google liefert seitenweise Links zu Seiten, auf denen Theologen ihre biblischen Interpretationen zu diesem Thema zum Besten geben. Es scheint gar eine der theologischen Hauptaufgaben zu sein, eine Gerechtigkeit aus der Bibel abzuleiten.

Die Bibel: Geeignete Quelle für eine moderne Ethik?

Und selbst bei vielen Hobby- oder Lightchristen dürfte noch die Vorstellung, die Bibel sei zumindest eine geeignete Grundlage für die Definition von Gerechtigkeit der Menschen im 21. Jahrhundert, mehr oder weniger verbreitet sein.

Das immerhin können sich die Theologen und Verkünder auf die Fahnen schreiben. Es bedarf schon einer besonders kreativen Herangehensweise, die Mythen und Legenden aus der Bronzezeit und aus dem Vormittelalter so zu verarbeiten, dass sie irgendwie mit modernen ethischen Standards zusammenzupassen scheinen.

An der Art und Weise, wie sich Theologen ihren jeweils gewünschten Gerechtigkeitsbegriff aus der Bibel zusammenbasteln, kann man erkennen, wie schwierig das heutzutage sein muss. Die Gesellschaftsordnung eines primitiven Wüstenvolks aus der Bronzezeit und aus dem Vormittelalter mag noch zu der Zeit gepasst haben, in der die Kirche noch das Sagen hatte.

Mit den Werten einer modernen, offenen, freien Gesellschaft haben diese Geschichten nur sehr entfernt zu tun. Kein Wunder. Man darf nicht vergessen: Diese Mythen und Legenden waren von Menschen verfasst worden, die sich noch jeden Abend wunderten, wohin die Sonne verschwindet.

Gott zeigt seine Gerechtigkeit – nicht

Mit Gerechtigkeit ist in vielen Texten der Bibel eine zentrale Vorstellung von Gott ausgedrückt: Wenn Gott sich den Menschen zuwendet, geschieht dies vor allem darin, dass er seine Gerechtigkeit zeigt. Damit ist also etwas viel Größeres gemeint. Im Buch der Psalmen heißt es zum Beispiel: „Gott schafft Recht den Unterdrückten.“ (Ps 146,7).

Aus leicht nachvollziehbaren Gründen hat auch dieser Gott den selben Gerechtigkeitssinn wie die Menschen, die sich beides ausgedacht hatten: Gott und dessen Eigenschaften. Gott wendet sich nicht den Menschen zu. Würde er das tun, wäre seine Auffassung von Gerechtigkeit mehr als fragwürdig. Der Allmächtige wäre wegen unterlassener Hilfeleistung anzuklagen.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Wie schwierig, wenn nicht gar ganz unmöglich es ist, die Gesellschaftsordnung eines vergleichsweise primitiven Wüstenvolkes zu einer Zeit, in der sich die Menschheit noch auf einer längst überholten sozio-kulturellen Entwicklungsstufe mit einem vergleichsweise minimalen Wissens- und Erkenntnisstand befand, mit den Anforderungen einer globalisierten Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert in Einklang zu bringen, kann man zum Beispiel daran erkennen, dass Bibelstellen wie die Folgenden gerne entweder ganz weggelassen werden. Oder aber bis zur Unkenntlichkeit uminterpretiert werden müssen (Hervorhebungen von mir):

  • Denn zu Mose sagt er: Ich schenke Erbarmen, wem ich will, und erweise Gnade, wem ich will. Also kommt es nicht auf das Wollen und Streben des Menschen an, sondern auf das Erbarmen Gottes.
    In der Schrift wird zum Pharao gesagt: Eben dazu habe ich dich bestimmt, dass ich an dir meine Macht zeige und dass auf der ganzen Erde mein Name verkündet wird. Er erbarmt sich also, wessen er will, und macht verstockt, wen er will.
    (Röm 9, 15-18 EU)
  • Wenn ich zu einem, der sich schuldig gemacht hat, sage: Du musst sterben!, und wenn du nicht redest und den Schuldigen nicht warnst, um ihn von seinem Weg abzubringen, dann wird der Schuldige seiner Sünde wegen sterben. Von dir aber fordere ich Rechenschaft für sein Blut. Wenn du aber den Schuldigen vor seinem Weg gewarnt hast, damit er umkehrt, und wenn er dennoch auf seinem Weg nicht umkehrt, dann wird er seiner Sünde wegen sterben; du aber hast dein Leben gerettet. (Hes 33, 8-9 EU)
  • Als die Israeliten in der Wüste waren, entdeckten sie einmal, dass einer am Sabbat Holz sammelte. Die Leute, die ihn beim Holz Sammeln angetroffen hatten, brachten ihn vor Mose und Aaron und vor die ganze Gemeinde. Man sperrte ihn ein, weil noch nicht entschieden war, was mit ihm geschehen sollte. Der Herr sprach zu Mose: Der Mann ist mit dem Tod zu bestrafen. Die ganze Gemeinde soll ihn draußen vor dem Lager steinigen. Da führte die ganze Gemeinde den Mann vor das Lager hinaus und steinigte ihn zu Tod, wie der Herr es Mose befohlen hatte. (4. Mo 15, 32-36 EU)

In Ewigkeit keine Vergebung für alle, die nicht an Gott glauben

  • Amen, das sage ich euch: Alle Vergehen und Lästerungen werden den Menschen vergeben werden, so viel sie auch lästern mögen; wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften. (Mk 3, 28-29 EU)
  • Weil wir aber erkannt haben, dass der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir dazu gekommen, an Christus Jesus zu glauben, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird niemand gerecht. (Gal 2,16 EU)
  • Ich bin Jahwe, langmütig und reich an Huld, der Schuld und Frevel wegnimmt, der aber (den Sünder) nicht ungestraft lässt, der die Schuld der Väter an den Söhnen verfolgt, an der dritten und vierten Generation: (4 Mo 14,18 EU)
  • Als aber die Güte und Menschenliebe Gottes, unseres Retters, erschien, hat er uns gerettet – nicht weil wir Werke vollbracht hätten, die uns gerecht machen können, sondern aufgrund seines Erbarmens – durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist. (Tit 3, 4-5 EU)

Gott als gerechter Richter?

Diese praktisch beliebig vermehrbaren Beispiele zeigen, dass Gerechtigkeit nach biblischer Aussage einzig Sache Gottes ist. Und auch ohne weiter ins Detail zu gehen: Es sollte dem geneigten Leser deutlich werden, dass archaische Schwarz-Weiß-Moralismen nichts mehr mit der heutigen Vorstellung von Gerechtigkeit zu tun haben.

Die angeblichen Vorstellungen eines erfundenen Gottes aus der Bronzezeit sind heute bestenfalls noch so relevant wie die Ansichten von Zeus, Anubis oder Baal.

Und das ist keine Vertröstung auf irgendwann, sondern bezieht sich durchaus auf das Hier und Jetzt. Daraus leitet sich für alle, die sich an der Bibel orientieren, auch der Auftrag ab, für die Schwächeren einzutreten.

Noch kein Gott ist jemals seriös in Erscheinung getreten. Seine Vertröstungen sind genauso fiktiv wie etwa das Versprechen von Spiderman™, die Welt zu retten.

Moderne ethische Standards müssen für alle Menschen gelten können. Egal, welche Geschichtensammlungen sie für bedeutsam halten. Grundgesetz, Menschen- und Völkerrechte sind die Maßstäbe. Und keine Berge-Wetter-Wüsten-Kriegs-Liebe-Götter.

Wer hats erfunden?

Gerechtigkeit bedeutet hier: Alle Menschen bekommen Chancen aufzusteigen und sich zu entwickeln. Das ist entscheidend. Wo diese Möglichkeiten eingeschränkt sind, da geht es ungerecht zu. Da gilt es zu protestieren und Dinge zu ändern.

Genau richtig. Erinnern wir uns kurz: Seit wann haben alle Menschen Chancen aufzusteigen und sich zu entwickeln? Bis wann waren die Möglichkeiten eingeschränkt? Wodurch hörte es auf, ungerecht zuzugehen? Genau – durch Aufklärung und Säkularisierung. Denn die Werte dessen, was wir heute unter Gerechtigkeit verstehen, basieren in erster Linie auf den Werten, die gegen den erbitterten Widerstand der Kirche durchgesetzt werden mussten.

Auch wenn das Christentum heute überwiegend davon Abstand nimmt, „gerechte“ Kriege zu führen, um seinen Glauben zu verbreiten: Diese Gefahr lauert nach wie vor. Denn Fundamentalisten aller Couleur finden in der Bibel jederzeit wieder den passenden Gott. Der ihre gewünschten Vorstellungen von Gerechtigkeit vertritt und fordert. Und schnell gelten wieder Dinge als gerecht, die sich mit den Werten einer offenen, freien Gesellschaft nicht vereinbaren lassen.

Nicht nur Gefühlssache

Die These von Herrn Dr. Beck, Gerechtigkeit sei für Christen nicht nur Gefühlssache, erweckt den Eindruck, Gerechtigkeit sei entweder nur Gefühlssache oder eben göttlicher Herkunft. Dabei sind es die Würde und Freiheit des Individuums, die die obersten Ziele moderner ethischer Standards darstellen.

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