Was uns im Innersten zusammenhält – das Wort zum Wort zum Sonntag

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„Was uns im Innersten zusammenhält“, das Wort zum Wort zum Sonntag gesprochen von Annette Behnken (ev.), veröffentlicht am 6.5.2017 von ARD/daserste.de

Gott sei Dank! Gott sei Dank darf ich frei denken, ich darf normal sein oder schräg, mainstream oder Paradiesvogel. Ich darf religiös sein oder nicht – Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das wunderbare Wort „Freiheit“ steht mehr als einmal in unserem Grundgesetz. Und außerdem Menschenwürde, Gleichheit und Gerechtigkeit. Das Fundament unserer nationalen Identität.*

Das ist mindestens genauso paradox wie: „Gott sei Dank bin ich Atheist.“

Frau Behnken, ich kann mir kaum vorstellen, dass Ihnen der krasse Widerspruch schon in diesem ersten Abschnitt Ihrer heutigen Verkündigung auf Staatskosten tatsächlich nicht bewusst zu sein scheint.

Sie danken ernsthaft ausgerechnet Ihrem Gott dafür, dass Sie frei denken dürfen? Dafür, dass Sie religiös sein dürfen oder nicht? Also dem Gott, der Menschen mit ewiger Höllenqual bestraft, wenn sie ihn nicht als den einzigen Gott anerkennen und sich ihm vollständig unterwerfen?

Gott sei Dank?

Als Christin sollten Sie doch eigentlich wissen, dass es Ihnen Ihr Gott eben nicht frei stellt, religiös zu sein oder nicht. An seine obersten Gebote muss ich Sie sicher nicht erinnern. Er gesteht Ihnen auch nicht zu, frei zu denken. Vielmehr verlangt er von Ihnen, auf das freie Denken zu verzichten. Und stattdessen solche Absurditäten wie seine eigene Existenz einfach so für wahr zu halten. Indem Sie daran glauben.

Freiheit, Menschenwürde, Gleichheit und Gerechtigkeit sind keine Eigenschaften oder Errungenschaften, für die Ihr Gott steht. Diese Werte wurden von Menschen für Menschen erkämpft. Und zwar gegen den erbitterten Widerstand der Menschen, die im vermeintlichen Namen und Auftrag Ihres Gottes genau diese Werte über Jahrhunderte gewaltsam unterdrückten, wo es nur ging.

Erst, nachdem die Kirche durch Säkularisierung und Aufklärung weitgehend entmachtet worden war, bliebt ihr gar nichts anderes übrig, als sich den Werten anzupassen, die jetzt in den Gesetzen und Gesellschaftsordnungen verankert worden waren.

In diesen stehen die Würde und Freiheit des Menschen an oberster Stelle. Und kein Gott mit mehr als fragwürdigem Charakter, der aus der Bronzezeit übriggeblieben war. Ausgerechnet diesem für die Errungenschaften zu danken, die die Grundlage unserer offenen und freien Gesellschaft darstellen, halte ich für einen reichlich arroganten Zynismus denen gegenüber, denen tatsächlich Dank gebührt. Dank dafür, dass sie diese Werte gegen die Interessen der Vertreter Ihres Gottes durchgesetzt haben.

Diese Werte sind auch nicht auf eine nationale Identität begrenzt. Denn es handelt sich dabei um europäische Werte.

Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit: Menschliche Werte. Nicht göttliche.

146 Artikel. In den ersten 19 die Grundrechte: Gleichheit. Gerechtigkeit. Freiheit. Das ist der sichere Boden, auf dem viele Kulturen, Traditionen, Positionen, Stile, Gewohnheiten und Religionen Platz haben.

Na dann beginnen Sie doch mal gleich heute damit, selbstkritisch zu beleuchten, an welchen Punkten Ihre Kirche mit diesen Grundrechten auch 2017 kollidiert. Hierzu einige Anregungen, zitiert nach www.Religionsfrei-im-Revier.de:

Wir nehmen für uns das Recht in Anspruch, jegliche religiöse, metaphysische und esoterische Beeinflussungen im öffentlichen Raum kritisch zu hinterfragen und klar Stellung dazu zu beziehen. Daher fordern wir:

  • kein Einzug kirchlicher Mitgliedsbeiträge durch den Staat (Kirchensteuer)
  • keine staatlichen, finanziellen Zuwendungen an die Kirchen (unabhängig von der Kirchensteuer), wie z.B. Bischofsgehälter
  • keine kirchliche Mitgliederschulung (Religionsunterricht) an staatlichen Schulen
  • keine staatliche Subventionierung religiöser Bildungsstätten
  • Anpassung des Arbeitsrechts in kirchlichen Unternehmen an moderne Menschenrechtsvorstellungen (rechtsstaatliche Kontrolle)
  • keine kirchlichen Vertreter in Kontrollinstanzen (wie Rundfunkräten, Bundesprüfstellen, Schul-, Jugend- und Sozialausschüssen) und Einschränkung der klerikalen Präsenz in den öffentlich-rechtlichen Medien uvm.
  • Religion und Glaube sind nur tolerierbar, wenn niemand von ihnen bedrängt oder belästigt wird.

Wir fordern eine konsequente Trennung von Staat und Kirche und ein Eintreten für den weltanschaulich neutralen Staat (Laizismus). Wir wollen aufklären und informieren, aber nicht missionieren; denn denken sollte jede*r selbst! (Quelle)

Wenn Sie an die Befreiung der Welt vom Terror des Nationalsozialismus erinnern, dann frage ich mich, warum sich die Kirche bis heute gerne auf die Sonderprivilegierungen beruft, die ihr vom Naziregime über das Reichskonkordat eingeräumt worden waren.

Selbsternannte Mahner und Wächter

Darum ist es absolut und vollkommen unnötig, eine deutsche Leitkultur zu formulieren. Wir brauchen das nicht! Danach zu fragen, mag richtig sein. Und wir müssen manches diskutieren, ganz bestimmt.

Die Grundlage aber, auf der das passiert, ist klar. Und stark. Wir müssen uns nur daran erinnern, wer wir sind.

Welche Grundlage meinen Sie? Weiter oben hatten Sie geschrieben: „Seitdem gehören die Erfahrungen dieser Zeit [des Nationalsozialismus] zu unserer nationalen Identität.“ Meinen Sie, dass die Erfahrungen auf diesen Tatsachen basieren?

Unsere Aufgabe als Kirche ist es, dabei Mahner und Wächter zu sein.

Woher nehmen Sie denn dieses Selbstverständnis? Ist es nicht vielmehr Ihre Aufgabe als Kirche, sich erstmal an das geltende Recht und aus der Politik heraus zu halten?

Natürlich ist es Ihre Privatangelegenheit, die Götter zu verehren, die Sie für verehrungswürdig oder -bedürftig halten. Oder auch, auf eine jenseitige fiktive Belohnung zu hoffen oder sich vor einer ebensolchen Bestrafung zu fürchten. Um die Werte des Humanismus anzumahnen und zu vertreten, braucht es keinen religiösen Glauben, keine Kirchen, kein Jenseits.

Wenn Sie sich als Mahner und Wächter verstehen, dann sollten Sie zunächst die irdische, natürliche Wirklichkeit als solche anerkennen. Also die Wirklichkeit, in der sich keinerlei göttliches Wirken nachweisen lässt. Und in der sicher auch Sie links und rechts schauen, bevor Sie die viel befahrene Schnellstraße zu Fuß überqueren.

Zahnloser und zahmer Möchtegern-Kitt

Für Menschlichkeit. Und Nächstenliebe. Und das ist viel mehr, als „Kitt der Gesellschaft“ zu sein! „Kitt“ – wie konnte uns das passieren, dass wir so zahnlos und zahm geworden sind, so ohne Biss und Leidenschaft, dass wir nur noch als Kitt, als Flickzeug wahrgenommen werden?! Wo ist die Schärfe und das Feuer unserer Botschaft?!

Könnte es sein, dass Sie froh wären, wenn Sie wenigstens noch als „Kitt der Gesellschaft“ wahrgenommen werden würden? Obwohl das Christentum gemäß biblischer Grundlage doch sowieso nur die Zugehörigen „zusammenkittet“?

Und dass Ihnen vielmehr insgeheim sehr wohl bewusst ist, dass Sie immer weniger überhaupt noch wahrgenommen werden? Dass sich auch das Christentum anschickt, den unzähligen vorherigen Religionen in die Bedeutungslosigkeit zu folgen?

Gerade eben haben Sie noch eine Leitkultur als „absolut und vollkommen unnötig“ erklärt. Um gleich darauf die „fehlende Schärfe und das Feuer“ Ihrer eigenen Botschaft zu kritisieren? Die Zeit, in der die Kirche ihre Botschaft noch mit Schärfe und Feuer verbreiten konnte, ist zum Glück vorbei.

Der Grund, warum kaum noch jemand die Botschaft Ihrer Religion heute noch mit „Biss und Leidenschaft“ vertreten möchte, liegt auf der Hand: Diese Botschaft basiert auf dem vermeintlichen Willen eines fiktiven, von Menschen erdachten Gottes.

Wer heute ernst zu nehmende Beiträge zu aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Themen liefern möchte, muss seine mythologischen Ideen so weit umdefinieren und verwässern, dass davon praktisch nichts mehr übrig bleibt. Wobei sich einmal mehr die Frage stellt, welche Rolle diese dann überhaupt noch spielen können. „Bekehrt euch zu Gott, sonst landet ihr in der Hölle!“ ist kein Argument, mit dem man heute noch aufgeklärte Menschen beeindrucken kann.

Stören, nerven und schreien

Offenbar müssen auch wir als Christen uns wieder erinnern, wer wir sind. Wir müssen stören und nerven und schreien, wenn bedroht ist, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält: Gleichheit. Gerechtigkeit. Freiheit.

Wenn Sie sich wieder erinnern, wer Sie als Christen sind, dann ist es genau das, was Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit gefährdet. Eine monotheistische Religion ist keine Ideologie, die diese Werte auf ihren Fahnen stehen hat. Vielmehr beruht die christliche Lehre auf einer Gottesvorstellung, die über die Jahrhunderte an die jeweils gültigen Werte angepasst worden war. Hatten sich die Erfinder dieses Gottes noch einen mächtigen, extra-grausamen und gnadenlosen Kriegsgott zusammenimaginiert, wurde dieser zum heutigen „lieben Gott“ der Christen umdefiniert.

Auch die christliche Lehre basiert auf einer Abgrenzung zwischen den „Guten“ (den Zugehörigen) und den „Bösen“ in Form aller Un- und Andersgläubigen. Mit einem erfundenen überirdischen Wesen als übergeordnete Instanz. Eine solche Gesellschaftsordnung mag zur einfacheren Führung eines primitiven Wüstenvolkes und nach entsprechender Anpassung als Staatsreligion geeignet gewesen sein.

In einer Zeit, in der Götter keine Autorität mehr haben, spielt folglich auch deren angeblicher Wille keine Rolle mehr. Christen können also getrost mit ihrem Christsein abschließen. Und sich einfach aus humanitären Gründen für Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit einsetzen.

Die Gedanken sind frei

Religiöser Glaube, also das Für-wahr-Halten von absurden Behauptungen wider besseres Wissen hat sich dafür wahrlich nicht bewährt. Im Gegenteil: Rationales, kritisches Denken ist eine sehr wichtige Grundlage für offene und freie Gesellschaften. Denn es ist Sache der Menschen, sich den Herausforderungen an die Weltbevölkerung des 21. Jahrhunderts zu stellen. Statt auf überirdischen Beistand zu vertrauen. Und als „auserwähltes Volk“ eine absolute, übergeordnete Wahrheit für sich zu beanspruchen.

Nochmal: Es sei selbstverständlich jedem freigestellt, sich die persönliche Wirklichkeit so zu gestalten, wie sie ihm gefällt. Oder erträglich erscheint. Solange jemand dabei nicht gleichberechtigte Interessen Anderer und/oder Gesetze und Menschenrechte verletzt, kann sich jeder zum Beispiel an die biblischen 10 Gebote halten. Oder an die Schulordnung von Hogwarts.

Wer allerdings sein Engagement für humanistische Werte mit dem vermeintlichen, frei definierbaren und damit völlig beliebigen Willen eines erfundenen Gottes begründet statt mit der Würde und Freiheit des Individuums, der braucht sich sicher nicht als „Mahner und Wächter“ aufzuspielen.

Es reicht doch, wenn die Grundregeln der Aufklärung gelten:

  • Toleranz bezüglich privater Lebensweisen
  • begründbare Argumentation, wenn es um Politik und Wissen geht
  • Gültigkeit der Gewaltenteilung
  • Trennung von Staat und Religion

Der Rest ist wandelbar, eine Sache der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung und teilweise politisch einfach nebensächlich.

Darum ertrage ich Sätze nur schwer wie: „wir sind nicht Burka“. Weil es fremdenfeindlicher Zündstoff ist. Weil ich burkatragende Frauen nicht als potentielle Kulturgefährderinnen diffamieren möchte. Was ich will ist: Begegnung. Respekt. Menschlichkeit.

Frau Behnken, diese Willenserklärung halte ich für zu pauschal. Selbstverständlich haben alle Menschen Respekt verdient. Aber längst nicht alle Ideologien. Beispiel: Ich respektiere Sie als Person, nicht aber die christliche Ideologie. Diese kann ich bestenfalls tolerieren, solange sie nicht so ausgelegt wird, dass sie auch nicht mehr zu tolerieren wäre.

Also, was uns im Innersten zusammenhält, ist doch klar: Wir müssen uns nur daran erinnern, wer wir sind.

Ja: Menschen.

Definition

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