“ Hier stehe ich… “ – das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 6 Min.

“ Hier stehe ich… “ – das Wort zum Wort zum Sonntag, gesprochen von Christian Rommert (ev.), veröffentlicht am 28.7.2017 von ARD/daserste.de

[…] Aber in Wittenberg, der Stadt, die den Lauf der Weltgeschichte verändern sollte, da war ich noch nie. Vor ein paar Tagen bin ich dann endlich dorthin gefahren. Ich habe die interessante Weltausstellung besucht – wie Tausende mit mir.

HIer stehe ich...Was tun, wenn man eine Ausstellung plant und schon vorher befürchtet, dass sich kaum jemand für das ausgestellte Thema interessiert? Man nennt es einfach mal großspurig „Weltausstellung.“ In diesem Fall: Weltausstellung Reformation.

Das mit der Reformation kann man dann ja, wie auch Herr Rommert hier, schnell mal weglassen. Und schon wird aus einer Lutherschau, die weit weniger Leute interessiert als erhofft und geplant, eine Weltausstellung.

Zur Eröffnung hatte der „Verein Reformationsjubiläum 2017“ noch eine halbe Million Besucher anvisiert, wie zeit.de hier am 20. Mai 2017 berichtete. Die Besucherzahlen bei den richtigen Weltausstellungen in ausgewählten Jahren von 1851 bis 2015 (in Millionen) gibts hier.

Hier stehe ich… aber wo sind die anderen?

Die Halbzeitbilanz zumindest ist ernüchternd. Unter dem Titel „Wittenberger ‚Weltausstellung‘ bisher ein Flop“ berichtete der MDR am 20. Juli 2017:

  • Wie die Veranstalter der Schau am Mittwochnachmittag mitteilten, sind bisher etwa 70.000 Eintrittskarten verkauft worden; erwartet hatten sie ursprünglich eine halbe Million Besucher. (Quelle: mdr.de)

So wundert es kaum, dass sich die evangelische Kirche auch der Verkündigungssendung „Wort zum Sonntag“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bedient, um vielleicht doch noch ein paar Karten an den Mann oder an die Frau zu bekommen.

Seine [Luthers] Angst war, nicht gut genug zu sein. Diese Angst, die kann ich gut verstehen. Das Gefühl nicht zu genügen. Das kenne ich. Das spüre ich an allen Fronten: du sollst schlank sein, erfolgreich sein, ausgeglichen sein, achtsamer leben, effizienter arbeiten. Es ist nicht die Angst vor dem zürnenden Gott… Der Richter über mich bin ich heutzutage selbst. Es sind die Ansprüche der work-life-balanzierten Ironman-, Body-Mass-Index-, Effizienz-Prediger.

Bei zornigen Göttern handelt es sich, genauso wie bei liebenden Göttern, bis zum Beweis des Gegenteils um von Menschen zu bestimmten Zwecken erdachte Phantasiewesen.

Weil man aufgeklärte, überwiegend rational denkende und geistig gesunde Menschen im 21. Jahrhundert kaum noch mit dem Zorn eines Gottes beeindrucken kann, müssen andere Faktoren her, mit denen man ihnen Angst einjagen kann. Denn nach wie vor ist Angst der Dreh- und Angelpunkt gerade von monotheistischen Religionen wie dem Christentum.

Hier stehe ich… und konstruiere mir Ersatz-Angstfaktoren

Eine vernünftige Balance zwischen Arbeit und Freizeit, Achtsamkeit oder Maßnahmen für die Gesundheit sind Möglichkeiten für Menschen, die ein glückliches, gesundes und erfülltes Leben anstreben. Und die etwas dafür tun möchten. Ich kenne keinen vernünftigen Grund, warum man sich davor ängstigen sollte. Oder sich selbst unter Druck setzen.

Es ist doch jedem selbst überlassen, welche Ziele er verfolgt. Und mit welchen Mitteln er diese Ziele versucht zu erreichen. Solange er dabei keine gleichberechtigten Interessen Anderer verletzt, fällt all das in den Bereich der persönliche Freiheit.

Wieso sollte man sich, wenn man Götter schon als Fiktion durchschaut hat, Ersatz-Angstfaktoren konstruieren? Um sich damit selbst unter Druck zu setzen? Offenbar scheint den Evangelen doch etwas zu fehlen, wenn ihr Gott nur noch gnädig und liebevoll ist…

Ich esse Dinge, die ungesund sind und ich liege lieber in der Badewanne, als dass ich Marathon laufe. Es gelingt mir auch nicht, zu 100 Prozent fairgehandelt zu leben oder immer gelassen zu bleiben. Genügt es trotzdem, wenn ich so lebe?

Wem soll es denn genügen? Oder nicht genügen? Herr Rommert, es ist doch Ihre Gesundheit! Wer oder was gibt in einer offenen und freien Gesellschaft den Maßstab dafür vor, ob jemand „genügt“ oder nicht? Niemand zwingt Sie, Marathon zu laufen oder sich gesund zu ernähren! Könnte es sein, dass  Ihnen gar nicht bewusst ist, dass es Ihre höchstpersönliche Angelegenheit ist, wie Sie Ihr Leben gestalten?

Dabei könnten Sie sich praktisch alle diese Fragen recht einfach selbst beantworten. Wenn Sie die einfache humanistische Formel anwenden würden:

  • „Tue was du willst, ohne dabei gleichberechtigte Interessen Anderer oder deiner Umwelt zu verletzen.“

Das bedeutet konkret: Jede Menge persönliche Freiheit. Aber auch eine große Herausforderung. Und viel (Selbst-)Verantwortung –  für die Gestaltung des eigenen Lebens. Mit allen Höhen und Tiefen. Hier stehe ich… Was nach dem Tod mit mir geschieht oder nicht geschieht, ist irrelevant.

Hier stehe ich… okay vor Gott – na und?

Martin Luther hatte hier in Wittenberg sein Aha-Erlebnis, als er merkte: „Allein aus Gnade werde ich gerecht!“ Gott nimmt mich an, ohne, dass ich etwas dafür tun kann und tun muss. Du bist okay vor Gott.

Damit ist Gott überflüssig geworden. Und kann ersatzlos gestrichen werden. Es macht, außerhalb menschlicher Phantasie und religiöser Scheinwirklichkeit, keinen Unterschied, ob Gott Menschen okay findet oder nicht.

Hier stehe ich...
Hier stehe ich… Luther in Berlin

Ein allmächtiges, allgütiges Wesen zu verehren, ist per se schon nicht nur un-, sondern widersinnig. Und wenn die angebliche postmortale Belohnung (oder, je nachdem, wen man fragt, auch Bestrafung) sowieso wie hier imaginiert in keinem Zusammenhang mit unserem irdischen Dasein steht, dann spielt dieser Gott schlicht keine Rolle in der natürlichen, irdischen Wirklichkeit. Also dort, wo auch Christen links und rechts schauen, bevor sie die viel befahrene Schnellstraße zu Fuß überqueren.

Ohne die Option, dass Gott Menschen für bestimmte Verhaltensweisen – allem voran das für Götter wohl einzige ausnahmslos unverzeihbare Vergehen des Un- oder Andersglaubens – auch zeitlich unbegrenzt bestrafen kann, wird Gott zu einem Wohlfühl-Wellness-Kuschelgöttchen. Ein imaginärer Freund. Ein unbesiegbarer Superheld, der es immer gut mit einem meint.

So, wie kleine Kinder sich das ab einem bestimmten Alter oft zusammenphantasieren. Und eine Zeitlang so fest dran glauben, dass sie ihre Superpowerfreunde für tatsächlich existent halten. Mit fortschreitender Entwicklung verschwinden solche Vorstellungen zumeist wieder. Manche Menschen schaffen es jedoch ihr ganzes Leben lang nicht, sich von solchen Hirngespinsten zu befreien.

Hier stehe ich… und leiste einen intellektuellen Offenbarungseid

Was ist das Hoffen eines erwachsenen, ansonsten vermutlich aufgeklärten Menschen auf die Gnade und Liebe eines überirdischen Wesens anderes als ein intellektueller Offenbarungseid? Eine kindlich-naive Realitätsflucht in eine religiöse Scheinwirklichkeit? Eine Verweigerung der Anerkennung der natürlichen Wirklichkeit?  Und in der Folge vermutlich auch der eigenen Verantwortung für die persönliche Lebensgestaltung?

Das bedeutet freilich keineswegs, dass man in allen Lebensbereichen auf Irrationalität verzichten muss. Oder auf einen nicht näher spezifizierbaren Optimismus. Auf Hoffnungen und Vorstellungen. Nur sollte man ehrlich genug zu sich selbst sein, um Irrationales auch als solches einzuordnen. Und nicht mit der Wirklichkeit durcheinander zu bringen. So wie Herr Rommert hier:

Du genügst vielleicht nicht Deinem Umfeld. Du genügst vielleicht nicht einmal Dir selber. Aber: Du genügst ihm! Für mich ist das das Beste, was mir passieren kann – wenn mir jemand sagt: Ich weiß, dass Dein Leben manchmal ungenügend ist. Aber ich liebe Dich! Mich berührt das.

Natürlich berührt es einen, wenn er gesagt bekommt, dass er geliebt wird. Nur: Keiner der vielen tausend Götter, die sich Menschen schon ausgedacht haben, hat – außerhalb der menschlichen Phantasie – jemals irgendetwas tatsächlich gesagt. Weder über sein Verhältnis zu Menschen. Noch über seine Absichten, Einstellungen oder Pläne.

Ausnahmslos alle göttlichen Eigenschaften sind genauso von Menschen ausgedacht wie die Götter selbst auch. Bis zum Beweis von etwas anderem auszugehen ist (Selbst-)betrug.

Hier stehe ich… und habe eine bestenfalls hoffnungsvolle Illusion

Die Vorstellung eines solchen Gottes ist nichts weiter als ein Placebo gegen persönliche Ängste und Nöte. Oder auch eine unredliche, ungültige Entschuldigung der eigenen Unzulänglichkeit. Vergleichbar mit dem Effekt, der Alkohol für Alkoholiker hat. Oder der Drogenrausch für Junkies.

Ganz nach dem Motto: Es verschafft mir ein Wohlbefinden, wenn ich mir vorstelle, dass kein geringerer als der Allmächtige persönlich mich liebt. Dafür bin ich bereit, ihn wider besseres Wissen anzuerkennen und für wahr zu halten.

Als Christ ist das für mich das Tröstliche meines Glaubens: Ich bin akzeptiert, obwohl ich nicht genüge!

Was genau soll daran tröstlich sein, sich von einem Phantasiewesen, das sich Menschen in der Bronzezeit ausgedacht hatten, akzeptiert zu fühlen? Noch dazu, wenn dieses Wesen sowieso alle Lebewesen so akzeptiert, wie sie sind? Egal, wie sie sich verhalten? Es ist für mich nicht nachvollziehbar, wie es ein erwachsener, ansonsten wohl aufgeklärter Mensch fertig bringt, so etwas für wahr und bedeutsam zu halten.

Allerdings: Die Gedanken sind frei. Und ein jeder möge selbstverständlich das für tröstlich halten, was er als tröstlich empfindet. Nur: Wozu muss man das auf Staatskosten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verkünden?

Hier stehe ich… und unterstütze damit eine höchst frag- und kritikwürdige Ideologie

Nicht außer acht lassen sollte man auch diesen Aspekt: Der EKD-Kuschelgott ist freilich ein zahnloses Monster. Ein harmloses, offenbar irgendwie hoffnungsstiftendes Hirngespinst für Menschen mit entsprechender Affinität zu Esoterik und Realitätsflucht.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass im vermeintlichen Namen und Auftrag desselben biblischen Monogottes auch schon ungezählte Millionen von Menschen verfolgt, gequält, ausgebeutet und ermordet wurden.

Denn weil der Begriff „Gott“ selbst aus der Bibel mit praktisch allen beliebigen Eigenschaften und Absichten ausgestattet werden kann, profitieren auch zum Beispiel die Hardcore-Evangelikalen oder erzkatholische Fundamentalistenspinner davon, wenn noch irgendwer ihren Jahwe für wenigstens irgendwie bedeutsam hält.

Und bei denen ist Gott dann natürlich nach wie vor das zornige, kriegs-, streit- und eifersüchtige Monster, wie es im Alten Testament detailliert beschrieben wird. Von wegen Gott bestraft nicht…

Hier stehe ich… und denke mir was Tröstliches aus

Wenn ich jetzt an den Würfel denke – vielleicht hätte ich mich doch darauf stellen sollen. Aber ich hätte den Spruch gern etwas verändert: Hier steh ich – ein ungenügender Mensch. Nicht selbstsicher – aber von Gott angenommen.

Wie wäre es stattdessen mit:

  • Hier steh ich – ein Mensch, der sich seiner Schwächen und Stärken bewusst ist und der versucht, sein einmaliges Leben glücklich und erfüllt zu gestalten, ohne dabei gleichberechtigte Interessen Anderer und der Umwelt zu verletzen.

?

A propos Genügen: In diesem Zusammenhang fällt mir noch etwas in Anlehnung an dieses Zitat von Douglas Adams ein:

  • “Isn’t it enough to see that a garden is beautiful without having to believe that there are fairies at the bottom of it too?”
    „Genügt es nicht zu sehen, dass ein Garten schön ist, ohne dass man auch noch glauben müsste, dass Feen darin wohnen?“
    (Quelle: Wikipedia)

Genügt es nicht, sich mit der Einmaligkeit und Endlichkeit des irdischen, diesseitigen Daseins mit dem gerade vorhandenen Bewusstsein abzufinden?  Mit der augenscheinlichen Tatsache, dass Menschen nun mal Stärken und Schwächen haben?

Und genügt es nicht, sich von Mitmenschen akzeptiert und geliebt fühlen zu dürfen? Genügt es nicht, sich selbst um ein glückliches, erfülltes Leben zu bemühen? Ohne dass man auch noch glauben müsste, dass ein Gott einen liebt?

Und dann noch ausgerechnet ein Gott, den man sich basierend auf einer wunschgemäß zurechtgestutzten und uminterpretierten archaischen Mythen- und Legendensammlung zusammenphantasiert hat?

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag.
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