Als Priester musste ich meine Amtspflichten verrichten, aber wie viel habe ich an mir selbst gelitten, wenn ich gezwungen war, euch fromme Lügen zu predigen, die ich im Herzen verabscheute. Wie sehr habe ich mein Amt gehasst und welche Gewissensbisse hat mir eure Leichtgläubigkeit verursacht. Tausendmal hatte ich die Absicht, euch die Augen zu öffnen, aber eine Furcht, die meine Kraft überwog, hielt mich zurück, bis zu meinem Tod zu schweigen.
– Jean Meslier, kath. Priester, 1678-1733
Fromme Lügen
Einen Aspekt, der heute oft übersehen wird, brachte der katholische Priester Jean Meslier in dieser Feststellung zur Sprache: Die katholische Kirche schreibt ihren Angestellten vor, dass sie die Mythen und Legenden, auf denen ihre Ideologie basiert, nicht nur als wahr anzuerkennen, sondern sie auch zu verkünden.
Und das betrifft nicht nur Priester. Auch zum Beispiel Pflegekräfte, Lehrer und Erzieher müssen sich an der „Evangelisierung“ beteiligen. Also an der Verbreitung dessen, was oft als „Wort Gottes“ bezeichnet wird.
Die Durchführung dieses Missionsauftrages ist gar oberstes Gebot. Wer dazu nicht bereit ist, kann nicht Angestellter der katholischen Kirche sein.
Dies kann zu schweren Gewissenskonflikten führen. Denn immer mehr Menschen wird bewusst, dass es für das Streben nach humanistischen Werten keines angeblichen Willens eines Wüstengottes bedarf, den sich Menschen in der Bronzezeit ausgedacht hatten.
Das katholische Belohnungs-Bestrafungskonzept ist genauso hinfällig geworden wie die absurden Geschichten von Adam und Eva, Himmel und Hölle, Gut und Böse. Oder auch von (Erb-)Sünde und Erlösung durch eine Hinrichtung durch Todesfolterung.
Christliche „Wahrheiten“ müssen für wahr gehalten, akzeptiert und verkündet werden
All das, was Meslier hier als fromme Lügen bezeichnet, spielt heute für die alltägliche Lebenswirklichkeit selbst der meisten Gläubigen keine oder keine besondere Rolle mehr. Und trotzdem müssen sich Kirchenangestellte verpflichten, diese archaischen, meist inhumanen und absurden „Wahrheiten“ nicht nur zu glauben, sondern auch weiterzugeben.
Dazu kommt, dass die Kirchen nach wie vor ein Quasimonopol in bestimmten Berufssparten innehaben. Dies ist hauptsächlich historisch bedingt. Es wird sich wohl nie genau ermitteln lassen, wieviele Angestellte der katholischen Kirche – egal in welcher Funktion – die Grundlagen der katholischen Glaubenslehre heute überhaupt noch für bedeutsam halten. Oder gar für wahr.
Trotzdem bleibt ihnen nichts anderes übrig, als das Spiel mitzuspielen. Und so zu tun, als sei das „Wort Gottes“ nicht nur eine, sondern gar die einzig wahre Grundlage ethischer Standards.
Gedankenpolizei
Aber nicht nur in dieser Hinsicht spielt sich die katholische Kirche als „Gedankenpolizei“ auf. Auch in vielen weiteren Bereichen meint sie, sich in die privaten und privatesten Angelegenheiten ihrer Anhänger und Angestellten einmischen zu dürfen.
So wird zum Beispiel die Haltung zu Fragen wie Verhütung, Abtreibung, sexuelle Orientierung, Gestaltung der Partnerschaft oder auch Sterbehilfe von der Kirche vorgegeben. Die Anerkennung und Befolgung dieser Sichtweisen ist Voraussetzung für den Dienst in der Kirche und deren Einrichtungen.
Es steht außer Frage, dass Kirchenangestellte auch hervorragende Leistungen in ihren jeweiligen Bereichen erbringen können, ohne „fromme Lügen“ zu verbreiten. Doch genau das ist – nach eigener Aussage – der eigentliche Sinn und Zweck kirchlicher Einrichtungen:
Kirchliche Einrichtungen dienen dem Sendungsauftrag der Kirche. […] Alle Beteiligten, Dienstgeber sowie leitende und ausführende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, müssen bereit sein, „an der Verwirklichung eines Stückes Auftrag der Kirche im Geist katholischer Religiosität, im Einklang mit dem Bekenntnis der katholischen Kirche und in Verbindung mit den Amtsträgern der katholischen Kirche“ mitzuwirken.**
Denn diese Vorgabe ist nicht etwa optional, sondern verpflichtend. Nichtbeachtung kann im Rahmen des exklusiven Kirchlichen Arbeitsrechts sanktioniert werden, bis hin zur Entlassung. Und so bleibt nicht wenigen Menschen nichts anderes übrig, im Interesse ihres Arbeitsplatzes auch weiterhin „fromme Lügen“ zu verbreiten.
Das Zitat des katholischen Priesters Meslier, der als einer der ersten Radikalaufklärer gilt, zeigt, dass diese Problematik offenbar schon im Mittelalter aktuell war.
*Quelle: Denker Zweifler Atheisten: Die Bibel im Kreuzfeuer von Hans-Jürgen Ferdinand***
**Quelle: Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse – Nr. 95A, 27. April 2015, dort zitiert aus: Kirchliches Arbeitsrecht, Seite 21, 28. September 2011
***Wir haben keinen materiellen Nutzen von verlinkten oder eingebetteten Inhalten oder von Buchtipps.
Da die christlichen Kirchen auch heute noch in bestimmten Bereichen des beruflichen Lebens – vor allem in solchen, in denen man besonders bequem Einfluss auf das seelische und geistige Befinden der Anvertrauten nehmen kann – ein Quasi-Monopol beanspruchen können und der Staat dieses nach wie vor duldet und sogar unterstützt, bleibt es vielen Menschen, die in diesen Berufen tätig sind, gar nichts anderes übrig, als sich einem kirchlichen Arbeitgeber zu unterwerfen. Alternativen zu finden – vor allem in ländlichen Gebieten – ist oft nicht oder nur sehr schwer möglich.
Und dann geht es nach dem Motto: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
Wer allerdings heutzutage als Priester praktiziert, tut es meist freiwillig. Wenn er dann im Laufe der Zeit Gewissensbisse bekommt, kann er den Beruf aufgeben, ohne wie in alten Zeiten geächtet zu werden oder Schlimmeres. Allerdings ist ein beruflicher Wechsel natürlich auch und gerade für einen Kleriker – auch heutzutage – mit Ungemach verbunden. Er hat ja nichts anderes gelernt.
Jean Meslier hatte es da bedeutend schwerer.
Er lebte zwar nicht mehr im Mittelalter – wie hier irrtümlich angegeben -, aber für kritische Geister war auch die Neuzeit zumindest bis zur Aufklärung eine gefährliche Zeit.
Das Mittelalter in Europa endete übrigens ungefähr mit der Erfindung des Buchdrucks und der Entdeckung Amerikas durch die Europäer.
Noch eine letzte Anmerkung:
Die Kirchen belügen ja nicht nur ihre Schäfchen nach Strich und Faden, sondern sie belügen sich ja sogar selbst. Denn wenn man mal all die getauften Kirchenmitglieder abzieht, die nur deshalb noch in der Kirche sind, weil sie sonst Schwierigkeiten in ihrem Beruf bekommen, schrumpft das gläubige Volk noch viel mehr, als die Statistiken so schon hergeben.