Alles auf einmal – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Gleichzeitigkeit von Elisabeth Rabe-Winnen (ev.), veröffentlicht am 7.7.2018 von ARD/daserste.de
[…] Gleichzeitigkeiten – es gibt sie und es gibt sie auch in mir selbst: Ich bin die und die zugleich. Freundin und Mutter undPastorin und Frau. Ich glaube, zweifele, suche, singe – zugleich. Und ich fühle vieles zugleich. Wenn etwas stirbt, bin ich traurig und erleichtert und wütend und voller Liebe. Nichts, nichts ist einfach nur schwarz oder weiß. All diese Gleichzeitigkeiten – manchmal ist das schwer oder gar nicht zu ertragen.*
Von dem Umstand, dass Gleichzeitigkeit und Komplexität für Menschen oft nur schwer oder gar nicht zu ertragen sind, profitieren heute in erster Linie Populisten. Denn die bieten genau das, was sich Menschen, die sich davon überfordert fühlen, wünschen: (Vermeintlich) einfache Lösungen für (tatsächlich) komplexe Probleme. Um die Gleichzeitigkeit besser ertragen zu können.
Dass menschliche Gehirne auch heute noch grundsätzlich für Vereinfachungen empfänglich sind, lässt sich evolutionär erklären. Es bedeutete einen Überlebensvorteil, möglichst blitzschnell zu entscheiden, ob bei der Begegnung mit dem Säbelzahntiger „Flucht“ oder „Angriff“ die sinnvollere Reaktion war.
Die Menschen (oder menschliche Vorfahren), die in einer solchen Situation erstmal sorgfältig das Für und Wider abwägten, zählen aus verständlichen Gründen nicht zu unseren Vorfahren. Überlebt haben die, deren Gehirn die Vereinfachung „Säbelzahntiger -> Gefahr -> Flucht“ verinnerlicht und parat hatten. Lieber 10 Mal zu früh geflüchtet als ein Mal zu spät…
Gerade so hoch entwickelte Gehirne wie die von höher entwickelten Tieren haben zudem einen enormen Energiebedarf. Vereinfachungen helfen, Energie zu sparen und die Gleichzeitigkeit von Widersprüchlichem auszuhalten.
Politische und religiöse Ideologien arbeiten mit Vereinfachungen
Herrscher aller Art und natürlich besonders die monotheistischen Religionen machten sich diese Eigenschaften menschlicher Gehirne zunutze. Letztere schufen künstlich ein Kriterium, anhand dessen Menschen ganz einfach in „Gut“ und „Böse“ eingeteilt werden konnten: Die Guten, das sind natürlich wir, die wir den „richtigen“ Gott verehren. Und alle anderen sind die Bösen. Weil sie sich keinen oder den falschen Göttern unterworfen haben.
Eine objektive, individuelle Beurteilung menschlichen Verhaltens konnte man sich so ersparen. Es genügte, sich zum gleichen Gott zu bekennen, um Teil der Glaubensgemeinschaft, der ingroup zu sein.
Und umgekehrt waren noch so gute Taten irrelevant, wenn sie von Menschen vollbracht wurden, die mangels „richtigen“ Glaubens zur outgroup der Un- und Andersgläubigen zählten.
Dieses klassisch-dualistische Schwarz-Weiß-Denken findet sich als integraler Bestandteil der christlichen Ideologie auch in der Bibel. Auf den Punkt gebracht bei Markus 16,16:
- Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden. (Mk 16,16 LUT)
Voraussetzung für jegliche christliche Heilsversprechen ist stets die Unterordnung unter den Wüstengott Jahwe. Eine weitere Vereinfachung erwartet Christen nach ihrem Tod, dargestellt durch „Himmel“ und „Hölle“.
So kann es kaum erstaunen, warum sich religiöse Ideologien so hervorragend zur Legitimierung abgrenzender politischer Ideologien eignen. Was auch das Christentum erschreckend eindrucksvoll immer wieder bewiesen hat und bis heute beweist.
Die Vereinfachungen sind dieselben und heutige nationalistisch-populistische Machthaber haben natürlich längst erkannt, dass sie ihren Standpunkt problemlos mit angeblich göttlichen Absichten untermauern können. Weil ihnen klar ist, dass sie eine göttliche Konkurrenz mangels göttlicher Existenz ja nicht zu fürchten haben. Und die Kirchen profitieren ebenfalls davon, weil ihre Ideologie so künstlich am Leben erhalten wird.
Vereinfachungen: Eine Zusammenfassung
- Die Welt ist komplex. Komplexität und Gleichzeitigkeit von widersprüchlichen Zuständen kann Menschen schnell überfordern.
- Warum menschliche Gehirne empfänglich für Vereinfachungen sind, lässt sich biologisch-soziologisch-evolutionär erklären.
- Monotheistische Religionen nutzen diese Emfänglichkeit, um Menschen mit scheinbaren Vereinfachungen das Nachdenken zu ersparen und um den Zusammenhalt der Glaubensgemeinschaft durch ein vereinfachendes Gut-Böse-Schema zu stärken.
- Religiös begründete Vereinfachungen eignen sich bestens zur göttlichen Legitimierung von politischen Ideologien, die ihrerseits auf Abgrenzung und Vereinfachung setzen.
Wie kann man Gleichzeitigkeit aushalten?
Frau Rabe-Winnen nutzt eine religiös begründete Vereinfachung, um sich die Komplexität ihres Lebens erträglicher und angengenehmer zu gestalten:
Sonne und Sterben. Grenzen ziehen und Cappuccino. Merkel und Seehofer und Frans und Aylan. Trauer und Wut. Alles auf ein Mal. Wie soll man das aushalten? Wenn ich nicht mehr weiß, wo ich hinsehen soll, brauch ich Gottes Blick. Ich stelle mir vor: Er sieht mich an. Auch wenn ich nach unten gucke. Und ich spüre: Ich bin geliebt. Mit dem Schwarz in mir. Mit dem Weiß in mir. Und mit allem Grau dazwischen.
Statt sich mit der Vielschichtigkeit ihres eigenen geistigen Innenlebens und der Widersprüchlichkeit ihrer Wahrnehmungen auseinanderzusetzen und statt die Gleichzeitigkeit von Freud und Leid auszuhalten, stellt sie sich einfach vor, es gäbe einen Gott. Einen, der sie ansieht und sie liebt, egal, was sie denkt und tut. Solange sie sich nur zu ihm bekennt.
Dass es diesen Gott bis zum Beweis des Gegenteils gar nicht gibt, wiegt für sie offenbar weniger schwer als das Bedürfnis, sich trotz der ganzen verwirrenden Gleichzeitigkeit und Vielfältigkeit in der irdischen Wirklichkeit von einem magischen Himmelswesen bedingungslos angenommen und geliebt fühlen zu dürfen.
Gott schaut zu – und tut nichts
Dazu bastelt sie sich ein Gottesbild zurecht, das mit dem biblisch-christlichen Wetter-Berge-Wüsten-Kriegs- und Rachegott Jahwe freilich praktisch nichts mehr zu tun hat:
Und mitten in dieser Welt mit all ihren Gleichzeitigkeiten sehe ich auch Gott. Er hält die Gleichzeitigen aus. […] Alles ist gleichzeitig. So ist sie, die Welt und auch ich selbst, in diesem Leben, das noch auf das Paradies wartet. Ich kann nicht immer hinsehen. Gott tut es. Er hält aus. Er sieht hin. Das hilft mir. Hinzusehen, auch wenn‘s schwer ist.
Gemäß biblisch-christlicher Mythologie ist der Schöpfergott allmächtig, allwissend, allgegenwärtig und allgütig. Das hätte zur Folge, dass alles, was geschieht, genau so und nicht anders Gottes Allmachtsplan entspricht.
- Wenn Gott tatenlos zusieht, dass auf Erden gleichzeitig Freud und Leid existieren, dann hat er entweder keine Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Womit er allerdings nicht mehr allmächtig wäre.
- Hätte Gott die Möglichkeit, für weniger Leid und Elend zu sorgen und belässt es aber trotzdem dabei, dies nur auszuhalten und hinzusehen, dann wäre er kaum als allgütig zu bezeichnen. Vielmehr wäre ein Gott, wie ihn sich Frau Rabe-Winnen zusammenimaginiert bei Licht betrachtet ein sadistisches Monster. Das seine Schöpfung absichtlich aus irgendwelchen Gründen unvorstellbarem Leid aussetzt.
Beide Möglichkeiten dürften freilich kaum befriedigend sein für jemand, der sich gerne von diesem Gott geliebt fühlen möchte. Mangels tatsächlicher Eigenschaften ist es natürlich problemlos möglich, die unweigerlichen Konsequenzen einfach zu ignorieren, wenn sie einem nicht ins gewünschte Gottesbild passen.
Übrigens, ein Gott der nur hinsieht und Gleichzeitigkeit nur aushält entspricht nicht wirklich dem theistischen Gottesbild des Christentums. Der Gott in der christlichen Mythologie greift auch aktiv ins Geschehen ein. Da sich kein göttlicher Eingriff ins irdische Geschehen erkennen lässt, ist ein voyeuristisch veranlagter, ansonsten aber untätiger Gott freilich leichter zu konstruieren als ein Gott, der nicht nur zusieht.
- I think myths are like a drug. I think a lot of people would rather just take the myth pill that makes them feel nice and cozy and warm and fuzzy and okay with everything, rather than having to look at the reality of what the world actually is.
— Cameron Diaz
Der EKD-Kuschelgott
Und so wird aus einem Gott, der Menschen zeitlich unbegrenzte physische und psychische Dauerbestrafung durch Höllenqualen bei vollem Bewusstsein für den Fall androht, dass sie sich nicht von ihm lieben lassen wollen, der liebe EKD-Kuschelgott. Der nicht wegsieht, auch wenns unschön wird. Und dem es im Grunde egal ist, wie sich Menschen verhalten, solange sie bereit sind, sich ihm zu unterwerfen.
Dass die göttliche Dauerbeobachtung keine tatsächliche Auswirkung auf das irdische Geschehen hat und dass sich auch sonst redlicherweise nichts in einen ursächlichen Zusammenhang mit irgendeinem oder gar einem bestimmten Götterwesen bringen lässt, stört Frau Rabe-Winnen vermutlich kaum.
Ihr reicht ihre Einbildung: Gott sieht mich, er liebt mich, er nimmt Anteil am irdischen Leid. An meinem Leid. Eine solche Einbildung halte ich nicht nur für völlig absurd, sondern auch für reichlich arrogant und naiv.
Und dann tu ich meinen Mund auf: Für das Retten und gegen das Sterben.
Offenbar reicht für Frau Rabe-Winnen die Wahrnehmung von Leid allein nicht aus, um auf die Idee zu kommen, etwas dagegen unternehmen zu wollen. Wenn sie sich erst einen liebenden Gott ausdenken und einbilden muss. Einen, der wenigstens still und unsichtbar mitleidet. Wenn er schon – trotz angeblicher Allmacht und Allgüte – selbst nichts gegen das Leid unternimmt.
If you’re happy and you know it, clap your hands…
[…] Es ist alles, gleichzeitig – und ich lebe mittendrin. Mit Gott, der immer da ist, der Liebe hat für Frans und Mia und Aylan, für Sie und mich und alle – Er am Kreuz, die Arme weit offen.
Vorneweg: „Er am Kreuz, die Arme weit offen“ finde ich eine ziemlich zynische Beschreibung. Wer an ein Kreuz genagelt wurde, hat ja kaum eine Möglichkeit, seine Arme anders als „weit offen“ zu haben, oder?
Frau Rabe-Winnen, was hat Ihre hier beschriebene Gottesvorstellung noch mit dem biblisch-christlichen Gott der von Ihnen vertretenen Religion zu tun?
Da zum Beispiel ich (und ich gehöre auch zu „alle“) mich (auch) diesem Gott nicht unterwerfe, drohen mir nach der von Ihnen vertretenen Lehre die oben beschriebenen Höllenqualen. Zum Glück erst nach meinem Tod, sodass mich das nicht im Geringsten juckt.Wie gehen Sie mit der Gleichzeitigkeit Ihrer Gottesvorstellung eines ausschließlich liebenden Gottes mit dem in der Bibel beschriebenen Belohnungs-Bestrafungsgott um?
Und wie entschuldigen Sie Ihren Gott, der immer da ist, wenn Kinder qualvoll verhungern? Oder wenn Menschen ihr Dasein krankheitsbedingt unter unterträglichen Schmerzen fristen müssen? Und was hat der Wochenend-Kreuzestod von Jesus Ihrer Meinung nach tatsächlich bewirkt oder verändert? Also außerhalb der menschlichen Einbildung und Vorstellung?
Was sind göttliche Liebe und Mitleid wert?
Die Liebe eines Allmächtigen, für den es ein Kinderspiel wäre, jegliches Leid sofort abzustellen? Und der es aber trotzdem vorzieht, die Gleichzeitigkeit von Freud und Leid tatenlos zu betrachten? Der seine Schöpfung so konzipiert hat, dass ein gnadenloser Evolutionsprozess über Milliarden von Jahren für Milliarden von empfindungsfähigen Lebewesen auch für unvorstellbares Leid gesorgt hat und bis heute sorgt?
Finden Sie es nicht auch seltsam und fragwürdig, dass es Ihren Gott nur in Ihrer Vorstellung gibt? Natürlich ist es Ihre Privatangelegenheit, welche Placebos Sie sich verabreichen, um sich Vereinfachungen im Umgang mit der Gleichzeitigkeit aller möglichen Phänomene zu verschaffen.
Aber brauchen Sie tatsächlich die Einbildung eines liebenden und mitleidenden Gottes, um für sich festlegen zu können, wie Sie sich verhalten sollten? Oder wäre eine wirklichkeitskompatible Weltsicht nicht doch geeigneter, um sich vernünftig zum Beispiel auch mit der Gleichzeitigkeit von Freud und Leid auseinanderzusetzen? Für mich stellt sich die Erfindung eines liebevollen Beobachtungsgottes als eine Realitätsflucht dar.
Ob es tatsächlich irgendwelche oder ein bestimmtes Wesen gibt, das sich von irgendwo außerhalb der menschlichen Wahrnehmung das irdische Geschehen betrachtet, ist völlig irrelevant. Ob ein solches Wesen Liebe für uns hat oder nicht spielt ebenfalls keine Rolle, solange es nicht nachweislich ins Geschehen eingreift. So etwas kann man sich nur ausdenken, einreden und glauben, aber wieso sollte man das tun? Wozu diese Fiktionen, die ganz offensichtlich nicht mit der irdischen Wirklichkeit übereinstimmen?
Menschen sind gefragt – nicht Götter
Denn schließlich geht es hier ja nicht um einen Fantasy-Roman. Sondern um die Gleichzeitigkeit von Freude und tatsächlich vorhandenen Missständen und echtem Leid. Es ist an uns Menschen, etwas dagegen zu tun, statt sich in religiöse Scheinwirklichkeiten zu flüchten.
Abgesehen davon verstehe ich leider Ihre Argumentation nicht wirklich, Frau Rabe-Winnen: Weil Sie Aushalten der Gleichzeitigkeit von Freud und Leid durch Ihren Gott als ein Zeichen für dessen Liebe interpretieren, tun Sie Ihren Mund auf? Mir ist nicht ganz klar, welche Rolle Ihr Gott in Ihrer Vorstellungswelt nun eigentlich konkret spielen soll. Was bei Phantasiefiguren freilich schon mal vorkommen kann.
Mein Tipp: Statt Menschen in öffentlich-rechtlich-kirchlichen Verkündigungssendungen an Ihren Kuschelgott-Einbildungen teilhaben zu lassen, wechseln Sie doch mal testweise Ihre Perspektive. Erweitern Sie Ihren Horizont, zum Beispiel durch die Lektüre des Buches „Jenseits von Gut und Böse – warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind“ von Michael Schmidt-Salomon.
*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag zum Thema Gleichzeitigkeit.
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