Über Widerstandskämpfer Willi Graf – das Wort zum Wort zum Sonntag von Benedikt Welter, veröffentlicht am 13.10.2018 von ARD/daserste.de
Der Anregung einiger Leser*innen folgend, werde ich versuchen, mein heutiges „Wort zum Wort zum Sonntag“ nur auf die wichtigsten Punkte zu beschränken 🙂
Diesmal erinnert Herr Welter an Willi Graf. Die Hinrichtung des Mitgliedes der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ jährte sich gerade zum 75. Mal.
[…] Mich fasziniert das: Willi Graf hat ein besonderes Urteilsvermögen entwickelt; damit konnte er früh erkennen, unter was für einem Regime er da lebte. Und je klarer sein Urteil wurde, umso einsamer war er auch: „Immer bin ich allein. Ganz allein“, schreibt er in sein Tagebuch. Da war er als Soldat in Russland.*
Eine, wie ich finde erstaunliche Feststellung für einen Katholiken. Man würde ja eigentlich erwarten, dass sich ein Gläubiger selbst (bzw. gerade) in größter Not und Einsamkeit die vermeintliche Allgegenwärtigkeit seines Gottes einbildet.
Bekanntestes Beispiel in diesem Zusammenhang: Dietrich Bonhoeffer. Der hatte sich wahrscheinlich auch noch im Moment seiner Hinrichtung „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ gefühlt.
Kam die besondere Urteilskraft von Willi Graf aus dessen Glauben?
[…] Und aus dieser Einsamkeit heraus erwächst eine Entschlossenheit, die ihn handeln lässt: Eben genau nach den Überzeugungen, die dem jungen Willi Graf – auch aus seinem Glauben heraus – zu dieser besonderen Urteilskraft verholfen haben.
Hier lässt sich gut ein grundlegendes Problem des Glaubens im religiösen Sinn erkennen: Während (auch) sein Glaube Willi Graf offenbar dazu gebracht hatte, sich gegen die Nazidiktatur zu stellen, hat der Glaube an die selbe Glaubenslehre andere Gläubige dazu gebracht, glühende Verehrer und Unterstützer eben dieser Diktatur zu werden.
Auch Letztere waren sicher felsenfest davon überzeugt, ganz im Sinne ihrer Glaubenslehre die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Anders wäre es kaum möglich gewesen, dass die christliche Kirche die unrühmliche Rolle im 3. Reich spielte, die man kirchlicherseits heute gerne unter den Teppich kehrt.
Wobei man freilich auf die Privilegien, die man sich während dieser Liaison hatte einräumen lassen, bis heute nicht verzichten möchte.
[…] Ein fremder junger Mann aus einer fremden Zeit bedeutet mir etwas: vielleicht, weil ich selbst auch ein so klares Urteilsvermögen gewinnen möchte, um meine Zeit zu verstehen. Und um die Entscheidungen zu treffen, die heute notwendig sind.
Herr Welter, meine Empfehlung, wenn Sie sich ein klares Urteilsvermögen wünschen: Verabschieden Sie sich zunächst erstmal vom magischen Denken. Geben Sie die Vorstellung auf, in irdischem Geschehen sei das Wirken Ihres (oder irgendeines) Gottes erkennbar.
Machen Sie sich bewusst, dass die Welt trotz aller Schönheit so gar nicht danach aussieht, als sei sie von einem allgnädigen Gott erschaffen worden. Geben Sie nicht vor, Dinge zu wissen, die Sie nicht wissen können (z. B.: Gott ist…, Gott will…).
Grundlage für ein klares Urteilsvermögen sollte vernünftiges, rationales und damit möglichst wirklichkeitskompatibles Denken sein.
Wort-Verdrehungen und Sprach-Verbrechen
Es ist ja kein mörderisches Regime, dem ich mich entgegenstellen muss. Es ist ein Klima mit Wort-Verdrehungen und Sprach-Verbrechen; die greifen vielfach das an, was mir heilig ist: die unbedingte Achtung vor jedem menschlichen Leben.
Herr Welter, wenn Sie „die unbedingte Achtung vor jedem menschlichen Leben“ schon als hohen (oder höchsten?) Wert erkannt haben, welche Rolle spielt dann überhaupt noch der erfundene Wille eines Gottes, den sich Menschen in der Bronzezeit ausgedacht hatten?
Könnten Sie sich nicht einfach die von Ihnen zurecht kritisierten Wort-Verdrehungen und Sprach-Verbrechen genausogut sparen? Indem Sie aufhören, das unmenschliche biblisch-christliche Belohnungs-Bestrafungskonzept durch eben solche Wort-Verdrehungen und Sprach-Verbrechen (Stichwort: Rosinenpicken) so umzubiegen und zu „entschärfen“, dass dabei ein halbwegs humanistischer Standpunkt herauskommt?
Manche nennen es auch ein „Regime der vergiftenden Meinungen“, dem ich heute zu widerstehen habe…
Herr Welter, ist Ihnen nicht bewusst, dass das mit den „vergiftenden Meinungen“ auch zum Beispiel auf das Oberhaupt der von Ihnen vertretene Kirche zutrifft? Der vergiftet die Atmosphäre ebenfalls mit seinen diversen Meinungen. Stichworte: Das Böse ist immer und überall. Oder der Vergleich Abtreibung und Auftragsmord. Vom unsäglichen Umgang mit dem katholischen Missbrauchsskandal ganz zu schweigen.
Das 8. Gebot: Immer die ethisch richtige Wahl?
In Willi Graf ist mir ein Mensch nahegekommen. […] In den 250 Tagen im Gestapo-Gefängnis hat er niemanden verraten. Er hat die zu schützen versucht, die mit ihm daran geglaubt haben und glauben, dass ein anderes, ein freies Deutschland möglich ist, gemeinsam mit den Völkern von ganz Europa.
Mit anderen Worten: Er musste gegen das biblische Gebot „Du sollst nicht lügen“ verstoßen, um sich ethisch richtig zu verhalten. Weil er erkannt hatte, dass es nun mal Situationen geben kann, in denen es ethisch richtiger ist zu lügen als die Wahrheit zu sagen.
Jetzt könnte man vielleicht meinen, dass wir es hier nur mit einer kleinen Schwachstelle in einem der sonst moralisch einwandfreien und wertvollen 10 biblischen Geboten zu tun haben.
Allerdings finden sich auch für die restlichen biblischen Gebote gute Argumente, warum diese als Grundlage für moderne ethische Standards praktisch unbrauchbar sind. Und auch schon längst obsolet. Denn seit der Bronzezeit hat sich die Menschheit weiterentwickelt.
Sinnvolle ethische Richtlinien für die Menschen im 21. Jahrhundert bieten zum Beispiel die 10 (An-)gebote des evolutionären Humanismus.
Gottvertrauen? Oder das Vertrauen darauf, das Richtige getan zu haben?
Willi Graf ist mir als ein gläubiger Mensch nahe gekommen; von ihm kann ich etwas mehr davon erfahren, was Gottvertrauen bedeutet.
Wie oben beschrieben, war sich Willi Graf wohl bewusst, dass ihn sein Engagement „seinen Kopf kosten“ könnte. Auch hatte er festgestellt, dass er „immer ganz allein“ sei. Er hatte also offenbar nicht auf göttliche Unterstützung gehofft. Sondern vielmehr darauf vertraut, dass sein folgenschwerer Entschluss, sich gegen das Naziregime zu stellen, die ethisch richtige Entscheidung sein würde.
[Willi Graf:] „[…] Für uns ist der Tod nicht das Ende, sondern der Anfang wahren Lebens, und ich sterbe im Vertrauen auf Gottes Willen und Fürsorge.“
Wenig erstaunlich, schaut man sich die Biographie von Willi Graf an. In seinem Lebenslauf hatte Graf seine umfassende frühkindliche katholische Indoktrinierung wie folgt beschrieben:
- Früh wurde ich mit den Gebräuchen und dem Leben der katholischen Kirche vertraut gemacht und die einzelnen Jahreszeiten waren erfüllt vom Geiste religiöser Vorstellungen, und auch das tägliche Leben richtete sich nach den Gebräuchen der Kirche: Gebet, Kirchgang usw. (Quelle: Willi Graf: Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Anneliese Knoop-Graf und Inge Jens mit einer Einführung von Walter Jens, Frankfurt am Main 1988, S. 280. zit. n. Wikipedia)
Fazit
Religiöser Glaube kann Menschen genauso darin bestärken, sich ethisch richtig zu verhalten, wie er sie darin bestärken kann, sich ethisch katastrophal zu verhalten. Unter Anderem deshalb ist religiöser Glaube als Moralquelle ungeeignet.
*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag über Willi Graf.
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