Europa wählen – Das Wort zum Wort zum Sonntag zur Europawahl 2019

Lesezeit: ~ 5 Min.

Europa wählen – Das Wort zum Wort zum Sonntag von Gereon Alter zur Europawahl 2019, veröffentlicht am 20.5.2019 von ARD/daserste.de

In seiner Fernsehpredigt zur Europawahl (was hat Politik eigentlich mit Religion zu tun!?) präsentiert Herr Alter zunächst mal eine alt bekannte Bewältigungsstrategie. Einen Trick, den man als „Angetäuschte Flucht nach vorne“ bezeichnen könnte:

[…] Dabei ist das, was diesen Krieg [gemeint ist der 1. Weltkrieg, bzw. die Schlacht an der Somme, Anm. v. mir] ausgelöst hat, brandaktuell. Denn es ging um das Kräfteverhältnis in Europa. Es ging um die Frage, wie sich die einzelnen Nationalstaaten zueinander verhalten. Es gab starke nationalistische Tendenzen. Es gab das, was wir heute „Populismus“ nennen: einfache Antworten auf komplexe Fragen. Man berief sich auf das „christliche Abendland“ und schrieb „Gott mit uns“ auf die Koppelschlösser der Soldaten – nicht nur bei den Deutschen.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Europa wählen – Das Wort zum Wort zum Sonntag von Gereon Alter zur Europawahl 2019, veröffentlicht am 20.5.2019 von ARD/daserste.de)

Und so funktionierts:

  1. Nenne einen für deinen Standpunkt problematischen Fakt, den du nicht wegdiskutieren kannst beim Namen.
  2. Statt dann auf das einzugehen, was daran für dich problematisch ist, lasse diese Äußerung einfach so stehen. Fahre dann einfach mit deiner Rede fort.
  3. So erzeugst du bei deinen Zuhörern die Illusion, dich der Kritik an deinem Standpunkt gestellt zu haben. Freilich, ohne dies tatsächlich getan zu haben.

Denn die vielen Fragen, die sich aus der historisch belegbaren und hier auch von Herrn Alter freimütig bestätigten katastrophalen Rolle der Kirche bzw. des von ihr vertretenen Glaubens ergeben, bleiben unbeantwortet.

Unbeantwortete Fragen

So würde mich zum Beispiel mal interessieren:

  • Wie kommt es, dass sich (auch) die biblisch-christliche Glaubenslehre so perfekt zur Unterstützung von Nationalismus, Partikularismus, Populismus eignet? Und natürlich auch und immer wieder zur Rechtfertigung von Abgrenzung, Hass, Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung, nicht nur Un- und Andersgläubiger?
  • Waren die Leute, die sich dabei auf das „christliche Abendland“ beriefen, auch nur einen Millimeter weniger fest davon überzeugt, mit diesem Krieg exakt den vermeintlichen Willen ihres Gottes zu erfüllen, als die Menschen, die sich heute für beliebige andere Zwecke auf eben diesen vermeintlichen Willen eben dieses Gottes berufen? So wie zum Beispiel Herr Alter? Und zwar ganz egal, auf welcher Seite der Front, für welches Vaterland sie kämpften?
  • Wie hätte man sie damals davon überzeugen können, dass eine Schlacht mit über einer Million Toten nicht dem Willen und der Absicht des lieben Gottes entspricht?
  • Wie gehen zeitgenössische Religionsverkünder mit dem Vorwurf um, durch ihre Tätigkeit eine Ideologie künstlich am Leben zu erhalten, die problemlos und jederzeit wieder für eben diese Zwecke instrumentalisiert werden kann? Natürlich schlüssig biblisch begründet?
  • Und schließlich: Was will Pfarrer Alter seinem Publikum zur Eurpawahl eigentlich konkret mitteilen? Wenn er anlässlich der Europawahl an die großen Gefahren erinnert, die eine Vermischung von religiöser und politischer Ideologie mit sich bringt?

Vielleicht widmet Herr Alter den Antworten auf diese Fragen ja irgendwann mal eine seiner Fernsehpredigten.

Diesmal bleibt es jedoch bei der bloßen Feststellung, dass die christliche Lehre Menschen zumindest darin bekräftigte, mit glühendem Eifer und tiefster Überzeugung in den Angriffskrieg zu ziehen. Und darin, in ihrer Nachbarschaft Millionen von Menschen zu töten. Unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Weil Gott es so will.

Herrn Alters persönliche Gedanken zur Europawahl 2019

Die restliche Verkündigung besteht aus den privaten Ansichten des Fernsehpfarrers bezüglich der Europawahl.

Wie schon so oft sei auch hier einmal mehr angemerkt: Natürlich möge Herr Alter seine Ideen, Ansichten und Vorstellungen öffentlich verkünden, wenn es ihm ein Anliegen ist. Allerdings bitte nicht auf Kosten der Öffentlichkeit.

Wie die medialen Ereignisse vor der Europawahl 2019 belegen, ist es heute praktisch für Jedermann problemlos möglich, die eigene Botschaft an den Mann, die Frau und das Kind zu bringen.

Einziger Haken dabei: Wenn die Botschaft niemanden interessiert, wird sie sich auch kaum jemand ansehen wollen. Umgekehrt besteht allerdings die Chance, innerhalb kürzester Zeit ein Millionenpublikum zu erreichen. Und zwar zum Nulltarif.

Und bislang auch noch unzensiert. Wobei ausgerechnet die Bundesvorsitzende der führenden C-Partei auf die Youtuber-Kritik an ihrer Partei mit der Androhung von Maßnahmen reagierte, die eine Einschränkung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung bedeuten würde. Stichwort: Christliche Werte. Einmal mehr.

Andererseits: Wer schon die Chance hat, mit Plaudereien, die eigentlich niemanden interessieren für seinen Broterwerb Werbung zu machen und wer die exklusive Möglichkeit hat, dazu das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu nutzen und dem es zudem herzlich egal sein kann, ob seine Verkündigung ein Quotenkiller ist, der unter regulären Umständen schon vor Jahrzehnten aus dem Programm geflogen wäre, der wäre töricht, dies nicht zu nutzen, solange es geht.

Nicht nur bei der Eurpawahl: Augen auf bei Wahlversprechen!

[…] Wählen gehen, das heißt für mich: einer Grundüberzeugung Ausdruck geben; die Partei wählen, mit deren Werten ich am meisten übereinstimme.

Die 6 Europäischen Werte
Die 6 Europäischen Werte. (c) TeamFreiheit.info – Humanistischer Verein für Demokratie und Menschenrechte

Hier stimme ich grundsätzlich zu, warne allerdings vorsorglich auch vor Etikettenschwindel. Stichwort: Christliche Werte. Denn gerade die Vertreter der Parteien, die sich der Verteidigung von angeblich christlichen Werten verschrieben haben regaieren zumeist selbst ungläubig und erstaunt, wenn man sie darauf hinweist, wo die Werte unserer heutigen Gesellschaft tatsächlich herkommen.

Werte sollte man deshalb nicht anhand des Etikettes „christlich“ beurteilen. Denn wie Herr Alter eingangs ja selbst eingeräumt hat, kann allen beliebigen Werten das Etikett „christlich“ aufgeklebt werden. Wozu das in der Vergangenheit geführt hat, ist in der 10bändigen Kriminalgeschichte des Christentums dokumentiert. Und so halte ich es kaum für einen Zufall, dass Herr Alter hier nicht von diesen ominösen christlichen Werten spricht.

Deshalb: Augen auf bei Wahlversprechen! Das Prädikat „christlich“ sagt nur aus, dass es sich hier offenbar um Menschen handelt, die nicht bereit oder in der Lage sind sich und anderen einzugestehen, dass es nicht nur un-, sondern sogar widersinnig ist, davon auszugehen, es gäbe ein bestimmtes magisches Himmelswesen, das sich Menschen in der Bronzezeit ausgedacht hatten, in Wirklichkeit. Und dass dieses Wesen nicht nur existieren, sondern auch ins irdische Geschehen eingreifen würde, wenn man es darum bittet.

Nein, das ist wahrlich keine sinnvolle Basis, auf der man die Probleme der Menschheit im 21. Jahrhundert lösen kann. Auch Christen sollten deshalb moderne, evolutionär-humanistische Maßstäbe anlegen, um Parteiprogramme und Wahlversprechen kritisch zu prüfen. Gleiches gilt natürlich nicht nur für die Versprechen und Absichten, sondern in erster Linie auch für das tatsächliche Handeln.

Zur Europawahl: „…als Christ eine besondere Verantwortung für Europa…“

[…] Ich bin mir bewusst, dass ich als Christ eine besondere Verantwortung für Europa trage. Nicht in dem Sinne, dass ich das christliche Abendland gegen andere zu verteidigen hätte; sondern in dem Sinne, dass mich mein Glaube drängt, für ein friedliches und solidarisches Europa einzutreten. Für ein Europa, das im anderen nicht zuerst eine Bedrohung sieht, sondern eine mögliche Bereicherung. Für ein Europa, dass die Schwächsten nicht aus dem Blick verliert.

Bei einem Glaubensvertreter mit der gleichen christlichen, aber einer anderen politischen Einstellung als die von Herrn Alter könnte ein Statement zur Europawahl 2019 genausogut zum Beispiel so klingen:

  • Ich bin mir bewusst, dass ich als Christ eine besondere Verantwortung für Deutschland (wahlweise auch Österreich, Italien, Frankreich, Ungarn, Polen,…) trage. In dem Sinne, dass ich das christliche Abendland gegen andere zu verteidigen habe; in dem Sinne, dass mich mein Glaube drängt, für ein christliches und nationalistisches Vaterland einzutreten. Für ein Land, das im anderen nicht zuerst eine Bereicherung sieht, sondern eine mögliche Bedrohung. Für ein Land, das die Schwächsten nicht aus dem Blick verliert, solange sie zum gleichen Volk gehören wie ich.

Dass es sich dabei nicht nur um eine Gedankenspielerei handelt, zeigen die aktuellen Vertreter des zeitgenössischen Rechtspopulismus und Nationalismus, die sich sinngemäß genau so äußern. Parolen wie diese beschränken sich keinesfalls auf die Europawahl oder auf Europa. Und auch nicht auf die Anhänger des biblisch-christlichen Wüstengottes Jahwe.

Säkularität ist eine der Grundlagen offener und freier Gesellschaften

Und vor allem: Für ein Europa, in dem auch in den nächsten 70 Jahren noch Frieden herrscht. Dem will ich meine Stimme geben. Einem vielfältigen, solidarischen und friedlichen Europa.

Europawahl 2019Und was hat das mit Religion im Allgemeinen und der römisch-katholischen Lehre im Besonderen zu tun? Erst nachdem die das Christentum vertretende Kirche weitgehend entmachtet war, konnte sich eine solche Gesellschaft entwickeln.

Natürlich haben in offenen und freien Gesellschaften auch diejenigen einen Platz, die sich noch irgendwelchen Göttern verbunden fühlen.

Solange das Gesetz über der Religion steht ist dagegen nichts einzuwenden.

Allerdings ist eine Trennung von Staat und Kirche, die diese Bezeichnung auch tatsächlich verdient eine der Grundvoraussetzungen für diese Freiheit.

Deshalb hoffe ich, dass Sie, Herr Alter, sich mindestens genauso leidenschaftlich für den Säkularstaat einsetzen wie ich. Weil Sie von der dadurch ermöglichten und geschützten Freiheit genauso profitieren wie ich.

Und zwar auch  und gerade in Anbetracht der Tatsache, dass Säkularität wohl eher nicht zu den christlichen Werten gezählt wird. Von Werten der römisch-katholischen Kirche ganz zu schweigen. Denn hier haben wir es mit einer patriarchialischen, theokratisch-undemokratischen Wahlmonarchie zu tun. Ein Umstand, der freiheitlich-demokratische An- und Absichten ihrer Angestellten und Anhänger nicht gerade glaubwürdiger erscheinen lässt.

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