Unideal – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Unzufriedenheit

Lesezeit: ~ 7 Min.

Unideal – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Unzufriedenheit, gesprochen von Gereon Alter (kath.), veröffentlicht am 12.10.2019 von ARD/daserste.de

Warum eigentlich sehnen wir uns immer nach dem, was gerade nicht ist?
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Unideal – Wort zum Sonntag, gesprochen von Gereon Alter (kath.), veröffentlicht am 12.10.2019 von ARD/daserste.de)

Gegenfrage: Warum verallgemeinern wir eigentlich immer irgendwelche Behauptungen?

[…]Darüber zerbrechen sich Menschen schon seit Jahrtausenden die Köpfe. Denn es ist eine der wichtigsten Fragen für uns Menschen und eine hoch politische noch dazu.

Mit dieser Einleitung wird gleich klar: Heute geht es um etwas wirklich Wichtiges! Es geht um Unzufriedenheit.

Unzufriedenheit: Pauschalisiert und nicht unbedingt richtig

UnzufriedenheitSchon die Behauptung an sich halte ich für fragwürdig und unzulässig pauschalisiert: Wer zum Beispiel das Glück hat, gesund, friedlich und ohne existentielle Sorgen leben zu können, der wird sich kaum nach Zuständen sehnen, in denen das alles nicht der Fall ist.

Und Wohlstand bzw. ein allgemeines Glücksempfinden muss nicht zwangsläufig eine Unzufriedenheit zur Folge haben. Es ist keineswegs so wie hier suggeriert, dass alle Menschen („wir“) dauerhaft („immer“) unzufrieden seien. Solche Pauschalisierungen lassen sich freilich leichter angreifen, statt sich mit den unzähligen Abstufungen auseinanderzusetzen, die es hier geben kann.

Warum Menschen mitunter mit einzelnen Aspekten oder auch der Gesamtsituation ihres Lebens unzufrieden sind, lässt sich recht einfach evolutionär erklären: Neugierde, also offen sein für Neues und für Veränderung bedeutete irgendwann mal einen Überlebensvorteil gegenüber denen, die kein Interesse an Innovation hatten.

Menschliche Gehirne sind darauf ausgelegt, neue Wahrnehmungen zu verarbeiten. Fehlen entsprechende Reize, kann das gesundheitliche Folgen bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen haben. Zum Glück haben Menschen vielfältige Möglichkeiten entwickelt, etwas gegen Langeweile und abstumpfende Alltagsroutine zu unternehmen.

Grundlegende Motivation: Leid vermeiden – Wohl mehren

Ganz grundlegend entspringt auch diese Motivation dem, was jedes Lebewesen antreibt. Vom Einzeller über den Blumenkohl und die Kegelrobbe bis hin zum Menschen: Das Streben danach, das eigene Wohl zu mehren und Leid zu vermeiden.

Eine Veränderung birgt auch immer eine Chance auf Verbesserung. Biologisch gesehen: Mehr Fressen, mehr Sicherheit, zusätzliche Fortpflanzungschancen…

Und umgekehrt könnte das Festhalten an etwas bedeuten, eine Chance nicht zu nutzen, die sich durch eine Veränderung möglicherweise ergeben hätte.

Keine Frage: Menschliche Unzufriedenheit, ein Streben nach Mehr und Neuem begleitet die Menschheit vermutlich schon immer. Und ja, sie ist ein beliebtes Motiv, zum Beispiel für Märchen („Vom Fischer und seiner Frau“) oder auch Büchern (zum Beispiel „Dagobert Duck“) und Filmen (zum Beispiel „Lammbock“, im Dialog „der kleine Mann im Kopf“ oder „Herr Rossi sucht das Glück“).

Ob das nun wirklich „eine der wichtigsten Fragen für uns Menschen und eine hoch politische noch dazu“ ist, sei mal dahingestellt.

Banale Erkenntnis

Und obwohl Herr Alter seine Fragestellung gerade noch hochdramatisch aufgeladen hatte, beantwortet er sie im nächsten Abschnitt im Grunde selbst:

[…] Diese Spannung zwischen dem, was doch sein könnte, aber leider nicht ist – diese Spannung ist der Grund für unser fortwährendes Sehnen nach dem jeweils anderen.

Bis hierher also erstmal viel Rauch um nichts. Dass manche (aber eben längst nicht alle!) Menschen zu manchmal sogar chronisch-permanenter Unzufriedenheit neigen, ist eine recht banale Erkenntnis.

Jetzt wird es aber höchste Zeit, das Thema irgendwie so langsam mal für religiöse Zwecke umzubiegen. Schließlich ist das „Wort zum Sonntag“ ja eine christliche Verkündigungssendung. Und nicht „Herrn Alters philosophische Allgemeinplatzstunde“.

Paradies?

So sieht es zumindest die christlich-abendländische Tradition. Sie deutet die Sehnsucht nach dem anderen als eine Sehnsucht nach dem Paradies, wo Gott alles ganz und heil werden lässt.

Die Vorstellung eines Paradieses, wie sie der christlich-abendländischen (genauer: der biblisch-christlichen) Tradition entspricht, entpuppt sich bei Licht betrachtet als eine höchst unmoralische und unmenschliche Angelegenheit.

Was hier mit „wo Gott alles ganz und heil werden lässt“ verharmlost wird, bedeutet in Wirklichkeit die Herstellung einer Art „ausgleichenden Gerechtigkeit“ vermittels zeitlich unbegrenzter (!) Dauerbestrafung von Glaubensfreien und Andersgläubigen durch physische und psychische Höllenfolter bei vollem Bewusstsein. Für das Verbrechen, sich zu Lebzeiten nicht dem richtigen Gott unterworfen zu haben. Denn das ist das Kriterium, das für den Bibelgott entscheidend ist.

Christen, die glauben, dass das Frohe an der Botschaft ihres Glaubens das Versprechen sei, nach ihrem Tod ein zeitlich unbegrenztes Dasein in paradiesischer Dauerschleife verbringen zu dürfen, müssen sich mit dem Wissen arrangieren, dass derselbe Gott, der sie für ihre Unterwerfung dauerbelohnt, alle Glaubensfreien und Andersgläubigen aus religiösen Gründen (bzw. wegen seiner göttlicher Eifersucht) unvorstellbar brutal und zeitlich unbegrenzt dauerbestraft.

Um diesen Zustand ewiger Gerechtigkeit herstellen zu können, genügt es diesem Gott nämlich offenbar nicht mehr, alle, die sich ihm nicht unterwerfen möchten einfach nur zu vernichten. Wie er das noch zu Beginn seiner Karriere als Monogott zu tun pflegte. Nein – dazu braucht es schon etwas ungleich Brutaleres und Grausameres als nur den profanen, endlichen Tod.

Ich kenne keinen Grund, warum eine Tradition, die auf solchen Narrativen aufgebaut ist, noch einen Tag länger gepflegt und am Leben erhalten werden sollte. Und ich kann nicht nachvollziehen, wie jemand, der nicht völlig unmenschlich und egoistisch ist, Sehnsucht nach einem solchen Zustand verspüren kann.

Wenn Götter vorkommen, sind Gedanken immer „fromm“

„Unruhig ist unser Herz, o Gott, bis es Ruhe findet, in dir.“ So hat es der heilige Augustinus formuliert.

Und das ist eben nicht nur ein frommer Gedanke, sondern auch ein hoch politischer!

Der Gedanke, es gäbe einen Gott, der sich beruhigend auf menschliche Herzen auswirkt, ist natürlich und ausschließlich ein frommer Gedanke. Diese Vorstellung entspringt der religiös erweiterten Scheinwirklichkeit und hat deshalb auch nichts in der Politik verloren. Wenn es sich nicht gerade um eine Theokratie handelt.

Warum? Weil er uns daran erinnert, dass wir immer nur einen Teil des Ganzen in Händen halten. Niemand ist im Besitz der ganzen Wahrheit. Keiner hat die ideale Lösung. Wir müssen aufeinander hören und miteinander um die Wahrheit ringen. Das ist eine ganz klare Absage an jede Form von Diktatur und jede Art von Meinungsmonopolismus.

Eine „Absage an jede Form von Diktatur und jede Art von Meinungspopulismus“ lässt sich mit einer undemokratischen Wahlmonarchie, wie die katholische Kirche eine ist und mit dem dort geglaubten Monotheismus nicht wirklich gut unter einen Hut bringen.

Es kann nicht mehr als ein Lippenbekenntnis sein, wenn ein Berufschrist einerseits eine Ideologie mit absolutem und exklusivem Wahrheitsanspruch vertreten muss und andererseits fordert, man müsse „aufeinander hören und miteinander um die Wahrheit ringen.“

Nicht kompatibel und daher unbrauchbar

An diesem Beispiel wird sehr gut sichtbar, wie unbrauchbar und damit unnütz, in einiger Hinsicht auch schädlich Religionen für das Zusammenleben der Menschen im 21. Jahrhundert sind.

Es bleibt ansonsten aufgeklärt denkenden Menschen nichts anderes übrig, als weite Teile ihrer biblisch-christlichen Glaubensgrundlagen zu ignorieren und zu vertuschen, so gut es geht, wenn sie nicht als rückständige, rückwärtsgewandte Fundamentalisten wahrgenommen werden möchten.

Und wir müssen noch etwas: aushalten, dass wir selbst beim redlichsten Aufeinander-Hören und Miteinander-Ringen nicht für jedes Problem die perfekte Lösung finden. „Das Leben ist unideal“, hat kürzlich eine Bekannte zu mir gesagt.

Unideal ist es auch, an Glaubensgewissheiten sogar wider besseres Wissen festzuhalten. Da hilft dann das redlichste Aufeinander-Hören und Miteinander-Ringen nichts. Wenn Menschen nicht bereit sind, zwischen religiöser Phantasie- und natürlicher, überprüfbarer Wirklichkeit zu unterscheiden. Und solange sie an einem Weltbild festhalten, das nun mal nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

Absoluter Wahrheitsanspruch, ergebnisoffen diskutiert

Deshalb beobachte ich mit einiger Sorge, dass sich in unserer Gesellschaft zunehmend Menschen und Gruppen hervortun, die den Anspruch erheben, im Besitz der ganzen Wahrheit zu sein.

In der Klimadebatte lässt sich das gut beobachten, am rechten Rand unserer Gesellschaft und auch in der katholischen Kirche.

Denn auch da gibt es nicht Wenige, die der Meinung sind, dass sie allein beurteilen könnten, was wahr und unwahr, was katholisch und nicht mehr katholisch ist, und die gleich in Panik geraten, wenn mal etwas ergebnisoffen diskutiert werden soll.

Problematisch wird es immer dann, wenn in Diskussionen Ideologien statt sachliche Argumente zum Einsatz kommen. Und was eine ergebnisoffene, redliche Diskussion innerhalb der katholischen Kirche angeht:

Ausgerechnet die katholische Kirche…

Die katholische Kirche hat gleich mehrere Probleme, die eine solche Diskussion erschweren bzw. verhindern:

  • Bei der katholischen Kirche handelt es sich nicht um eine pluralistische Demokratie, sondern um eine patriarchialische Wahlmonarchie mit größtenteils undemokratischen Strukturen.
  • Die zugrunde liegende Ideologie basiert auf einer praktisch beliebig auslegbaren „Heiligen Schrift.“ Mit angeblich göttlicher Absicht und göttlichem Willen lässt sich praktisch alles Beliebige „legitimieren“ – und das genaue Gegenteil. Argumente, in denen Götter, Geister oder Gottessöhne vorkommen, würden voraussetzen, dass jemand an die Existenz und die behaupteten Eigenschaften und Absichten dieser Wesen glaubt. Das Ergebnis dieser Beliebigkeit füllt die 10 Bände der Kriminalgeschichte des Christentums.
  • Als Vertreter einer monotheistischen Religion erhebt die katholische Kirche einen exklusiven Anspruch auf absolute Wahrheit und moralische Überlegenheit (Stichwort: Unfehlbarkeit). Für gläubige Christen ist ihr Glaube genauso alternativlos wie der Gott, an den sie glauben. Nach „Wahrheit“ ringen sie höchstens bis zu dem Punkt, an dem sie redlicher- und vernünftigerweise aufhören müssten, ihre religiöse Phantasiewelt mit der irdischen Wirklichkeit zu vermischen.

Der Widerspruch, einerseits eine Institution zu vertreten, die die „ganze Wahrheit“ für sich reklamiert und andererseits zum ergebnisoffenen Ringen um die Wahrheit aufzurufen, scheint Herrn Alter nicht aufzufallen oder zumindest nicht weiter zu stören.

Vorschlag für „die perfekte Kirche“

Wir werden die perfekte Kirche nicht bekommen.

Ich hätte da durchaus einen Vorschlag, über den wir gerne ergebnisoffen und mit sachlichen Argumenten diskutieren könnten, Herr Alter: Wie wäre es, wenn Kirchen auf ihre umfangreichen Sonderprivilegien und auf die staatliche Alimentierung verzichten und dem Vereinsrecht unterstellt würden? Sie könnten dann, wie jeder andere Traditionsverein auch, die Tradition, die Ihnen erhaltenswert erscheint, mit Gleichgesinnten pflegen. Auf eigene Kosten und gemeinsam mit Leuten, die sich freiwillig (und nicht durch eine ungefragt abgeschlossene, lebenslängliche Mitgliedschaft) Ihnen anschließen möchten.

Das wäre dann nicht mehr die reichste Kirche der Welt. Aber eine, die gesellschaftlich akzeptabel wäre.

[…] Wir werden auch nicht die perfekte Antwort auf den Klimawandel und die vielen anderen Herausforderungen unserer Tage finden. Tun wir, was in unseren Kräften steht. Halten wir aus, dass Andere es anders sehen. Ringen wir mit ihnen um die Wahrheit.

Ist Wahrheit denn eine Frage der meisten Zustimmung? Etwas, das durch Mehrheitsbeschluss festgelegt wird? Wird eine Behauptung dadurch wahrer, dass viele Leute sie für wahr halten?

Die Grenzen der Toleranz

Auch das Aushalten anderer Meinungen hat seine Grenzen – die Grenzen der Toleranz. Jemandem zuzugestehen, eine beliebige Meinung (und sei sie noch so unsinnig, unwahr, unplausibel) zu vertreten bedeutet nicht, deswegen auch das respektieren zu müssen, was er meint und behauptet. Die entscheidende Frage ist, wie sich die Meinung (und das darauf basierende Handeln) auf die Interessen der Mitlebewesen auswirkt.

Vor allem aber: Trauen wir der Sehnsucht, die wir in uns tragen – dass es das, was uns zum Glück noch fehlt, tatsächlich gibt, und dass es sich lohnt, tagein tagaus danach zu streben.

Aus biblich-christlicher Sicht ist das Streben nach irdischem Glück verpönt. Gleich zu Beginn der Geschichte bestraft Gott die gesamte Menschheit mit Leid und Not – wegen eines Apfel-Diebstahldeliktes.

Und auch Jesus rät ganz klar davon ab, nach irdischem Glück zu streben. Geht es nach ihm, solle man stattdessen nach dem jenseitigen Reich seines Gottes streben. Verständlich – wenn man von sich behauptet, der einzige Weg dorthin zu sein… Von den mitunter wahnhaft anmutenden Genussfeindlichen Ansichten eines Paulus oder auch so mancher Kirchenväter wie etwa Augustinus ganz zu schweigen.

Und wozu braucht es dann noch Religion?

Weder für Demokratie, noch für einen ergebnisoffenen Austausch von Argumenten taugt die katholische Kirche als Vorbild. Nicht inhaltlich und auch nicht strukturell.

Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wie wenig kompatibel die klerikalen Strukturen mit den Anforderungen einer modernen Gesellschaft sind, zeigt sich gerade sehr deutlich, Stichwort: Maria 2.0 oder Synodaler Weg.

Und für den Appell, der Sehnsucht nach dem eigenen, individuellen Glück zu folgen, ist das biblisch-christliche Glaubenskonstrukt eher hinderlich als hilfreich. Ziel der christlichen Lehre ist sicher nicht der Hedonismus, nicht das persönliche, wie auch immer gestaltete Glück der einzelnen Schafe.

Ein hierfür geeignetes Motto könnte stattdessen sein:

  • Tue was du willst, ohne dabei gleichberechtigte Interessen Anderer zu verletzen.

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2 Gedanken zu „Unideal – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Unzufriedenheit“

  1. Religionen sind immer autokratisch und absolutistisch!
    Hätte sich die Aufklärung nicht durchgesetzt, würde uns der Adel heute immer noch arm und die Kirche uns dumm halten, da wir ja in einer Gottgewollten Ordnung leben, die kein Denken, oder gar einen kritischen Wiederspruch zulässt.
    Schließlich, sind es die Werte -die in der Bibel vergeblich gesucht werden- (Demokratie, Glaubensfreiheit Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, um nur einige zu nennen), die gegen der Kirche (teilweise blutig und gewaltsam) erkämpft wurden und nicht zuletzt, die substanziellen und sachlichen Dinge, die uns das Leben erleichtern und angenehm machen!

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