Verschwörungstheorien – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 7 Min.

Verschwörungstheorien – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Gereon Alter (kath.), veröffentlicht am 23.5.2020 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Herr Alter hat offenbar kein Problem damit, allsonntäglich Backoblaten und Wein in menschliches Fleisch und Blut zu verwandeln und einen Schöpfergott samt dessen wundertätigen, wiederauferstandenen Sohnes zu propagieren und gleichzeitig vermeintliche Glaubensweisheiten zum Umgang mit Verschwörungstheorien zu empfehlen.

Berechtigte Ängste vs. Verschwörungstheorien

Zunächst differenziert Herr Alter zwischen den berechtigten Ängsten und Bedenken, die Menschen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie haben. Um die geht es ihm diesmal nicht. Sondern:

[…] Ich spreche von denen, die sich Aluminiumhüte basteln, um sich vor feindlicher Bestrahlung zu schützen. Die allen Ernstes behaupten, Bill Gates wolle uns allen einen Mikrochip implantieren. Die von einer „Jüdin Merkel“ schwadronieren und von Höhlen, in denen geheimnisvolle Ritualmorde an Kindern geschehen mit dem Ziel, ein lebensverlängerndes Serum für die Superreichen zu gewinnen.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Verschwörungstheorien – Wort zum Sonntag, verkündigt von Gereon Alter (kath.), veröffentlicht am 23.5.2020 von ARD/daserste.de)

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Begriff „Verschwörungstheorien“ nicht zutreffend ist. Eine Theorie im wissenschaftlichen Sinn erfordert schon viel plausiblere Prämissen als das, was man für eine Verschwörung braucht. Deshalb halte ich eher den Begriff „Verschwörungsmythologie“ oder „Verschwörungsreligion“ für angemessen.

Während es Herrn Alter offenbar problemlos gelingt, diese Ideen als völlig absurd und widersinnig zu durchschauen, scheint es bei einer genauso skeptischen Einschätzung des von ihm verbreiteten Glaubenskonstruktes zu hapern.

Oder genauer: Mit keinem einzigen Wort geht Herr Alter darauf ein, dass sich grundlegende Behauptungen und Glaubensgewissheiten der biblisch-christlichen Glaubenslehre mindestens genauso grotesk lesen wie das, was sich Menschen heutzutage so alles zusammenspinnen.

Völlig durchgeknallt

Wären das nur ein paar „völlig Durchgeknallte“, würde ich mir keine größeren Sorgen machen. Denn die hat es immer schon gegeben und die verkraftet eine Gesellschaft ohne weiteres. Was mir Sorgen bereitet, sind die, die sich dieses „Durchgeknallte“ gerade auf eine ziemlich schäbige Weise zunutze machen: Rechtsradikale, Antisemiten, gewaltbereite Populisten … Und: dass das auf unsere gesamte Gesellschaft abfärben könnte.

VerschwörungstheorienDiese Bedenken kann ich nachvollziehen. Wer sich noch vor Kurzem mit solch groteskem Unsinn öffentlich zu Wort gemeldet hat, konnte kaum mehr als Kopfschütteln, Spott und Häme erwarten. Inzwischen hat sogar diese Szene ihre prominenten Protagonisten.

Für eingefleischte Verschwörungsreligiöse muss dieser Boom mindestens genauso frustrierend sein wie vermutlich „50 Shades of Grey“ für richtige SM-Anhänger*innen gewesen sein dürfte. Oder auch die Kommerzialisierung von Punkrock oder des LGBT-Lifestyles.. Denn der Reiz, den das „ich weiß oder tue was, was ihr nicht wisst oder tut“ mit sich bringt, geht schnell flöten, sobald etwas im Mainstream angekommen ist.

Ein weiterer bedenklicher Nebeneffekt: Sobald Populisten und Demagogen tatsächlich bestehende Probleme für ihre Zwecke instrumentalisieren, wird es schwierig, einen sachlich begründeten kritischen Standpunkt zu vertreten, ohne sofort in die jeweilige Ecke gestellt zu werden. Wohl jeder Islamkritiker kann ein Lied davon singen.

Als katholischer Priester müsste sich Herr Alter mit dem Zunutzemachen von „durchgeknallten“ Ideen ja auskennen. Denn bei Licht betrachtet kann man die biblische Mythologie, angefangen von der Schöpfungslehre über Erbsünde, Jungfrauengeburt, Aufhebung der Naturgesetze zum Beweis der Göttlichkeit bis hin zu absurden und unmenschlichen Jenseitsphantasien ebenfalls kaum anders als „durchgeknallt“ im Sinne von „nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmend“ bezeichnen.

Wahrheitsempfinden und Gerechtigkeitssinn

[…] Da schnappt jemand irgendein Gerücht oder eine Teilinformation auf und bastelt sich daraus eine von Vorwürfen und Unterstellungen durchsetzte Verschwörungstheorie. Selbst in meiner Kirche beobachte ich das. Und ich befürchte, das könnte weiter zunehmen. Und das wäre ein ziemlich großes Problem. Denn es verändert unser Wahrheitsempfinden und unseren Gerechtigkeitssinn.

unsichtbarer Freund
„Ich bin hier, weil ich einen unsichtbaren Freund habe. Und du?“

Es ist kaum davon auszugehen, dass Herr Alter hier auf das anspielt, was er und seine Berufskollegen in Kirchen verbreiten. Dass er selbst Opfer einer der wohl erfolgreichsten Verschwörungsmythologie aller Zeiten geworden sein könnte, kommt ihm sicher nicht in den Sinn.

Dabei erfüllen auch religiöse Glaubensdogmen genau diese Kriterien. Auch die christliche Glaubenslehre basiert auf irgendwelchen Gerüchten und Teilinformationen. Und auf offensichtlich frei erfundenen magisch-esoterischen Annahmen. Die daraus zusammengebastelten „Verschwörungstheorien“ sind ebenfalls mit Vorwürfen und Unterstellungen durchsetzt.

Wie zum Beispiel der Unterstellung, alle Menschen seien von einer „Erbsünde“ belastet. Von der sie einzig durch die Unterwerfung unter den „richtigen“ Gott erlöst werden könnten.

Oder auch die Unterstellung, Glaubensfreie und Andersgläubige würden wegen ihrer Glaubensfreiheit oder ihres Glaubens an andere Götter dereinst auf unvorstellbar grausame Art vom lieben Gott mit physischen und psychischen Höllenqualen bei vollem Bewusstsein dauergefoltert.

So etwas kann tatsächlich das Wahrheitsempfinden und den Gerechtigkeitssinn derer verändern, die sowas ernsthaft glauben. Und vor allem: Deren Verhalten denen gegenüber, die sowas nicht glauben.

Katholischer Priester empfiehlt Faktencheck

Und jetzt wirds spannend: Denn Herr Alter weiß offenbar eigentlich sehr wohl, wie man zwischen Realität und Fiktion unterscheidet:

Journalisten lernen bereits in ihrem ersten Ausbildungsjahr, dass eine Nachricht immer erst dann rausgehen darf, wenn zuvor zwei voneinander unabhängige Quellen befragt worden sind. Überhaupt scheint mir das Fragen ein hilfreiches Mittel zu sein.

Und Priester lernen (vermutlich während des ganzen Theologie“studiums“), dass Fragen nur dann als hilfreiches Mittel angesehen werden darf, solange es den Fragenden in seinem Glauben letztlich wieder bestärkt.

Etwa 80 bis 90 Prozent der Vorwürfe und Unterstellungen, mit denen ich es in meinem Arbeitsalltag zu tun bekomme, wären erst gar nicht formuliert worden, wenn zunächst einmal gefragt worden wäre: „Stimmt das, was ich da gehört habe? Gibt es dazu nähere Informationen?“

Ja, Herr Alter! Genau richtig! Stimmt das, was ich da gehört habe? Gibt es dazu nähere Informationen?

Und ganz wichtig: Bin ich bereit, bisher vielleicht lebenslang und felsenfest sicher Geglaubtes aufzugeben, wenn ich durch kritisches Nachdenken und Prüfung der Quellenlage erkenne, dass das, was ich da geglaubt hatte gar nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt? Obwohl es mir immer wieder als wahr verkauft und auch von mir bisher immer für wahr gehalten worden war?

Auch dann, wenn es mir vielleicht schwer fällt? Zum Beispiel, weil ich das Geglaubte bisher sogar als identitätsstiftend wahrgenommen hatte? Und weil mir die unplausiblen, unmoralischen, unmenschlichen Aspekte meines Glaubens vielleicht gar nicht bewusst waren?

Gesunder Menschenverstand gegen Verschwörungstheorien

Mit dem Fragen eng verwandt ist das Denken. Der gesunde Menschenverstand.

Auch hier: Volle Zustimmung! Denken statt Glauben! Was man wissen kann, braucht man nicht zu glauben. Und wenn man etwas glauben soll, weil man es nicht wissen kann, dann ist das immer ein starkes Indiz dafür, dass es sich dabei um eine möglicherweise unwahre Behauptung handelt.

Das Nachdenken über Dinge, die ich gelesen oder gehört habe. Auch das scheint mir ein hilfreiches Mittel zu sein. Vor allem für Menschen, die mehr auf ihren Bauch hören als auf ihren Verstand, die allzu schnell glauben und kaum hinterfragen.

…allzu schnell glauben und kaum hinterfragen…“ – hier zeichnet sich schon das erste Hintertürchen ab, das Herr Alter notgedrungen aufhalten muss, um mit seinem Glaubenskonstrukt nicht auf einmal draußen im Regen zu stehen. Glauben an sich muss man natürlich schon noch können sollen. Und ein bisschen hinterfragen muss der Glaube ja auch aushalten können.

Kritisches Denken – eine christliche Tugend?

Statt einzuräumen, dass religiöser Glaube die selben Defizite aufweist wie der Glaube (im religiösen Sinn) an alles Beliebige andere auch, erklärt Herr Alter jetzt gar den christlichen Glauben zur Quelle für vernünftiges und kritisches Denken:

Der christliche Glaube kennt da einen wichtigen Grundsatz: fides quaerens intellectum. Zu Deutsch: Glaube sucht das Verstehen. Glaube ist demnach nicht ein diffuses Gefühl, irgend so ein Drücken in der Magengegend, sondern eine Lebenshaltung, zu der das Nachdenken zwingend dazugehört.

Quelle: Netzfund
Quelle: Netzfund

Wozu dann der Umweg über den Glauben? Dieser Grundsatz stammt aus einer Zeit, in der Theologen noch ernsthaft und eifrig versucht haben, ihre Glaubensgrundsätze als vernünftig begründbar aussehen zu lassen. Dazu hatten sie sich hunderte von angeblichen Gottesbeweisen ausgedacht. Keiner dieser Gottesbeweise hält – oh Wunder – einer ehrlichen, kritischen Überprüfung stand.

Sobald Glaube im religiösen Sinn im Spiel ist, impliziert dies das Fürwahrhalten von Behauptungen, die bis zum Beweis des Gegenteils nicht wahr sind. Was man tatsächlich wissen kann, braucht man nicht zu glauben. Und umgekehrt. Ohne diese intellektuelle Unredlichkeit ist Götterglaube nicht möglich. Und damit wird alles, was auf diesem Glauben beruht, hinfällig.

Verstehen, was Glaube ist

Meme GottesbeweisDabei verstehen wir heute sehr gut, was es mit dem Glauben, was es mit Religionen auf sich hat: Es handelt sich um sozio-kulturelle Konstrukte, von Menschen aus Unwissenheit, Angst und Hoffnung heraus erfundene Phantasiegebilde, die auf magisch-esoterischen Annahmen beruhen.

Im Fall der abrahamitischen Religionen ursprünglich erdacht und etabliert zur einfacheren Führung kleiner Wüstenstämme, später umgeformt und instrumentalisiert zur Legitimierung von irdischen Herrschaftsansprüchen, zur Abgrenzung, Selbstüberhöhung, Unterdrückung, Ausbeutung und Vernichtung derer, die nicht dazu gehören. Von Gottes Gnaden.

Natürlich haben sich Menschen im vermeintlichen Namen und Auftrag des selben Gottes auch mitmenschlich und mitfühlend verhalten. Immer im Vertrauen darauf, dass sich Gott dereinst persönlich um die angemessene Bestrafung der eigenen Feinde kümmern würde.

Der Zweck heiligt die Verschwörungstheorien?

Und noch ein drittes Mittel, das ebenfalls der christlichen Tradition entstammt. Für Christen hat sich die Frage, ob etwas wahr ist oder nicht, immer auch an der Frage entschieden, ob es Menschen hilft und nützt, vor allem den Schwachen und Benachteiligten.

Quelle: NetzfundBisher hatten wir erst ein Mittel, das Herr Alter mit geradezu schlafwandlerischer Selbstsicherheit der christlichen Tradition zuordnete: Der Glaube, der angeblich das Verstehen suche. Mit dem ersten Punkt, Stichwort: Gesunder Menschenverstand hat religiöser Glaube nun wahrlich nichts zu tun.

Ehrlich kritisches Hinterfragen vertragen Glaubenssätze nur sehr schlecht bis gar nicht. Weshalb sie ja auch dogmatisch zementiert und dann geglaubt werden müssen. Das ist der religiöse Beitrag zur Erkenntnisgewinnung.

Bei diesem Punkt lese ich zwischen den Zeilen einen Versuch heraus, den eigenen Glauben gegen die gerade erhobenen Vorwürfe zu immunisieren. Sinngemäß: Wenn ein Verschwörungsmythos den Menschen hilft und nützt, dann kann man die intellektuelle Redlichkeit schon mal außen vor lassen.

Das ist freilich nicht nur unsinnig, sondern sogar potentiell hoch gefährlich: Denn natürlich sind alle Verschwörungsreligiösen zu 100 Prozent nicht nur davon überzeugt, dass ihre Verschwörungsmythen wahr sind. Sondern auch, dass dieses vermeintliche Wissen den Menschen nützlich, hilfreich und erforderlich sei um, sich gegen vermeintliche Möchtegernherrscher und -systeme, oder worin auch immer ihr Feindbild bestehen möge zur Wehr setzen zu können.

Wahr und gerecht

Eine Verschwörungstheorie dagegen klagt an: die Juden, die Linken, die Reichen, die Schwulen … und macht sie für das Problem verantwortlich. Wahr und gerecht ist das sicher nicht.

Nein, wahr und gerecht ist das sicher nicht. Wie ein Blick in die 10bändige Kriminalgeschichte des Christentums zeigt, ist auch die biblisch-christliche Lehre hervorragend dazu geeignet, um daraus genau solche Anklagen zu konstruieren.

Egal, ob sie Menschen verbrannten oder unterstützten: Immer konnten sich Gläubige auf ihre Glaubenslehre berufen. Die praktisch beliebige Auslegbarkeit der mythologischen Grundlagen christlichen Glaubens machen diesen zu einer denkbar ungeeigneten Moralquelle.

Fragen, nachdenken und sich für Schwache stark machen. Diese drei Mittel scheinen mir ein recht ordentlicher Schutz gegen Verschwörungstheorien zu sein. Gegen das ganz große Hirngespinst wie auch gegen die etwas zu schräge Ansicht im Alltag.

Fragen, nachdenken und sich für Schwache stark machen: Verschwörungsreligiöse behaupten von sich, genau das zu tun. Daran wird deutlich, dass es damit offenbar nicht getan ist.

Und die Moral von der Geschicht’…? Wer im Glashaus sitzt,…

Und die sind sich dabei genauso sicher, dass sie richtig liegen wie Herr Alter vermutlich davon überzeugt ist, dass seine Segnungen, Wandlungen und Bittgebete etwas bewirken, was über einen (auto-)suggestiven Placebo-Effekt hinausgeht.

Letztlich bleibt nur ein konsequenter, kritischer Abgleich mit der Wirklichkeit. Dazu stellt die Erkenntnistheorie bewährte Werkzeuge wie Empirie und Evidenz zur Verfügung. Und die Stärke, die (bis zum Beweis des Gegenteils anzunehmenden) Ergebnisse zu akzeptieren. Auch dann, wenn dies zunächst mit einer En-Täuschung einhergeht.

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1 Gedanke zu „Verschwörungstheorien – Das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Denken ist immer deutlich besser als glauben, denn durch einen religiös motivierten Glauben wird der Charakter eines Menschen verdorben und in die engen Denkstrukturen des jeweiligen Irrglaubens beschränkt.

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