Leben ist kämpfen, oder? – Das Wort zum Wort zum Sonntag zu Jakob, verkündigt von Ilka Sobottke, veröffentlicht am 10.10.2020 von ARD/daserste.de
Darum geht es
Mir dem biblischen Märchen von Jakobs Kampf am Jabbok hat Frau Sobottke diesmal eine besonders archaische, abstruse und selbst für Theologen höchst nebulöse Bibelstelle herausgepickt, um ihrem Götterglauben einen Anschein von Relevanz zu verleihen. Und auch die Rahmengeschichte mag wiedermal so gar nicht passen.
Charly Graf muss für Gegenwartsbezug herhalten
Für den Bezug zur Gegenwart muss der ehemalige Boxmeister Charly Graf herhalten.
In dessen Lebenslauf meint Frau Sobottke, genug Parallelen zu ihrer Bibelgeschichte zu finden: Vom unterprivilegierten Außenseiter zum Profiboxer. Dann Absturz, Gefängnis… Und dort schließlich die Karthasis des Ex-Profiboxers, der heute als geläuterter Mensch als Sozialarbeiter tätig ist.
Es geht um Menschliches, nicht Göttliches
Frau Sobottke erwähnt eine interessante Aussage von Graf bezüglich seiner Motivation zum Boxkampf:
„Ich musste immer kämpfen, um klarzumachen, dass ich ein Mensch bin.“
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Leben ist kämpfen, oder? – Wort zum Sonntag zu Jakob, verkündigt von Ilka Sobottke, veröffentlicht am 10.10.2020 von ARD/daserste.de)
Anders als in der biblischen Legende geht es hier also um eine rein menschliche Angelegenheit. Götterglaube spielte für Graf offensichtlich keine Rolle. Und wären religiöse Anwandlungen des Ex-Profiboxers bekannt: Es würde sich sicher etwas darüber in den einschlägigen Verkündigungskanälen finden lassen.
Mutiger Terrorist
Und auch bei der „Bekehrung“ im Gefängnis war der liebe Gott offenbar nicht beteiligt:
Der Zellengenosse verschafft ihm Zugang zur Literatur. Erst will Charly Graf ihn verprügeln aber der andere ist mutig, das imponiert ihm. Charly Graf liest im Gefängnis, Hesse und Dostojewski. Er hinterfragt sich, erkennt dass hinter seiner Gewalt vor allem Angst steckt.
Wäre dieser mutige Zellengenosse ein Christ gewesen und hätte er Graf idealerweise vielleicht sogar mit der „Heiligen Schrift“ zum „rechten Glauben“ „bekehrt“ – Frau Sobottke hätte sicher seinen Namen genannt.
So bedarf es einer kurzen Recherche um herauszufinden, dass der Zellengenosse, der Graf offenbar zum Lesen, Nach- und schließlich Umdenken animiert hatte der ehemalige und damals mehrfach lebenslänglich inhaftierte RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock war.
Dass es ausgerechnet Boock war, der Graf offenbar zu „Wahrheit“ brachte, entbehrt in diesem Zusammenhang nicht einer gewissen Ironie. Boock hatte jahrelang über seine tatsächliche Beteiligung am RAF-Terror gelogen. Seine widersprüchlichen Aussagen zu seiner terroristischen Vergangenheit machen ihn zu einem nicht gerade glaubwürdigen Überbringer der Wahrheit.
Wahrheit macht frei
Bevor sich die Graf-Story, die ja eigentlich Realitiät und Gegenwartsbezug in die Bibelstunde bringen soll ihrerseits zu wunderlich und seltsam wird, muss kurz erstmal wieder die Bibel ins Spiel gebracht werden:
Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt die Bibel. Charly Graf nimmt die Wahrheit als eine Chance sich frei zu kämpfen.
Immer wenn irgendwer von Wahrheit spricht, sind besondere Vorsicht und Skepsis geboten.
So auch hier: Denn wenn in der Bibel von Wahrheit die Rede ist, dann ist damit immer der einzig richtige Glaube an den einzig richtigen Gott gemeint.
In der Bibelstelle, die Frau Sobottke hier anspricht (Johannes 8,32), ermahnt der biblische Romanheld Jesus die Juden unter seinen Followern, dass nur er sie von ihrer „Sünderknechtschaft trotz ihrer Abstammung von Abraham“ befreien könne.
Diese biblische „Wahrheit“ ist somit quasi das Gegenteil von der Realitiät, der sich Graf stellen musste, um sich „frei zu kämpfen“ zu können.
Lieber Gott vs. Jakob
Doch es wird noch absurder. Denn jetzt muss Frau Sobottke ja noch ihren biblischen Jakob unterbringen. Der sich, der biblischen Mythologie zufolge, erst von Gott persönlich zum Krüppel hatte schlagen und dann auf seinen Wunsch hin segnen lassen:
Der andere große Kämpfer steht in einem quasi aussichtslosen Fight. Sein Gegner: Gott selbst. Sein Name: Jakob. Eine uralte Geschichte. Jakob verliert und gewinnt dennoch. Gott schlägt ihn, Jakob hinkt danach ein Leben lang gezeichnet von diesem Kampf. Aber Jakob lässt nicht locker bis Gott ihn trotz allem segnet (1. Mose 32). Geheimnisvoll.
Geheimnisvoll ist ein typisch theologischer Euphemismus für mythologisch-religiöse Absurditäten aller Art.
Was genau diese Geschichte eigentlich konkret aussagen soll, darüber existieren selbst in Theologenkreisen die unterschiedlichsten Auffassungen. Aber mit den Scheinproblemen, die die Deutung von verworrenen Mythen und nebulösen Legenden aus der Bronzezeit so mit sich bringt, mögen sich diejenigen beschäftigen, die dafür Geld (aber bitte von der Kirche und nicht von der Allgemeinheit!) bekommen. Und die diese Ankedoten für irgendwie bedeutsam halten (wollen oder müssen).
Gewinnen. Verlieren. Corona. Himbeereis. Ägypten.
An dieser Stelle kapituliert dann offenbar auch Frau Sobottke. Und schmeißt ihrem TV-Publikum lieber schnell ein paar Nebelkerzen vor die Füße:
Das Leben ist für viele so ein Kampf, als wäre Gott selbst der Gegner. Durchboxen. Gewinnen. Verlieren. Corona. Gewinnen gegen Sucht und Krankheit, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung. Verlieren gegen Sucht und Krankheit. Am Ende doch den Kampf gegen den Tod verlieren.
Jo. Life is a bitch and then you die. Mach‘ das Beste draus.
Welche seltsame Rolle genau der liebe Gott bei diesem Kampf als Sparringspartner spielt, bleibt Frau Sobottkes Geheimnis (des Glaubens). Und wieso der allgütige liebe Gott überhaupt Menschen so vermöbelt, dass sie, wie im Fall des biblischen Jakob, lebenslänglich einen Hüftschaden davon tragen – auch das wissen vermutlich höchstens die Götter.
Erst gibts auf die Fresse, dann wird gesegnet
Das „Betthupferl“ zum Schluss weckt dann doch einige Zweifel an der Klarheit christlicher TV-Verkünderinnen:
Aber: Ich glaube daran, dass Gott genau dann da ist, wenn einer nicht mehr alleine hochkommt. Wie Charly und Jakob und so viele andere. Und ich vertraue darauf, dass wir alle als Gesegnete aus dem Kampf des Lebens herauskommen.
Im zitierten Bibelmärchen war Gott erstmal nicht zum Segnen, sondern zum Schlägern da.
Auch hatte er Jakob nicht etwa von sich aus gesegnet. Als Entschuldigung, zur Versöhnung. Oder als Eingeständnis einer Niederlage (Fun fact am Rande: Dass es dem Allmächtigen in dieser Geschichte offenbar nicht gelingt, Jakob im Zweikampf einfach K.O. zu schlagen, war ein großes theologisches Problem – eines von vielen…).
Nein. Gesegnet wurde erst auf Jakobs ausdrücklichen Wunsch hin.
Ein Psychiater könnte hier vermutlich am ehesten Licht ins Dunkel bringen zur Frage, was in aller Welt mit den an dieser Geschichte Beteiligten nicht stimmt.
Sich schlägern bringt Segen?
Was Charly Graf angeht: Wie oben schon beschrieben, hatte sich der liebe Gott dann in diesem Fall offenbar in Gestalt eines ehemals gewalttätigen RAF-Terroristen manifestiert. Um auf diese geheimnisvolle Weise Charly Graf mit Hermann Hesse und Dostojewski zu helfen, wieder hoch zu kommen. Ja – das klingt natürlich plausibel.
Wie praktisch, wenn man einen Gott verehrt, dessen sonderbares Verhalten man bei Bedarf mit der Unergründlichkeit seiner Wege entschuldigen kann. Damit ist man immer feiner raus, als wenn man zum Beispiel den Geisteszustand der Autoren dieser biblischen Mythen in Frage stellen würde. Und damit deren Glaubwürdigkeit im Allgemeinen.
Um nachvollziehen zu können, worauf konkret Frau Sobottke hier vertraut, hätte sie noch erklären müssen, was genau sie mit „gesegnet“ meint. Wie sie sich das vorstellt mit der Segnerei. Aber dazu hatte dann leider die öffentlich-rechtliche Sendezeit nicht mehr gereicht.
Und so bleibt Frau Sobottke und ihrem Publikum zumindest ein weiterer intellektueller Offenbarungseid diesmal erspart. Bis zum nächsten Wort zum Sonntag, vermutlich.
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