Opfer brauchen Solidarität – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 7 Min.

Opfer brauchen Solidarität – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Pfarrer Wolfgang Beck, veröffentlicht am 7.5.22 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Ausgerechnet mit biblischen Grundlagen möchte Herr Beck die an sich triviale Erkenntnis belegen, dass Opfer Solidarität brauchen.

Zum Einstieg erzählt Herr Beck einen Schwank aus seiner Jugend. Jemand wollte ihm sein Fahrrad klauen und es gab eine kleine Schlägerei.

[…] Und wenn mir zuhause jemand gesagt hätte: „Die Typen hast Du wohl provoziert, was?!“ – ich wäre empört gewesen! Oder: „Hättest Du nicht einen Kompromiss vorschlagen können?“ Schwachsinn!

A propos Schwachsinn:

Ob Herr Beck dem Dieb gemäß Matthäus 5,39 auch die zweite Wange hinhielt, um sich auch auf diese schlagen zu lassen, verrät er leider nicht.

Und laut Matthäus 5,40 hätte Herr Beck dem Dieb zum gestohlenen Fahrrad ja auch noch seine Jacke überlassen müssen, um sich bibelkonform zu verhalten.

Auch davon, dass Herr Beck dem Fahrraddieb anschließend noch seine Liebe bezeugte, wie es der anonyme Schreiber mit Pseudonym Matthäus seinen biblischen Romanhelden Jesus in Matthäus 5,44 fordern lässt, ist keine Rede.

Je konkreter die Beispiele, desto offensichtlicher wird die Unbrauchbarkeit der biblischen Moralvorstellungen. Biblische Nächsten- und Feindesliebe lässt sich viel besser verkaufen, solange man die Begriffe abstrakt und vage in den Raum wirft, statt sie mit konkreten Fällen in Verbindung zu bringen.

Kein Gesprächspartner für Kompromisse

Wer dein Fahrrad klauen und dir eine reinhauen will, ist kein Gesprächspartner für Kompromisse.

Wie gerade schon dargestellt: Nach biblisch-christlicher Lehre wäre ein Kompromiss in diesem Fall auch gar nicht das anzustrebende Ziel gewesen.

Da hätte sich Herr Beck eine (bzw. zwei) reinhauen lassen, sich das Fahrrad klauen, dem Dieb noch zusätzlich seine Jacke schenken und ihn dann noch lieben müssen.

Täter-Opfer-Umkehr

Die Fahrrad-Geschichte ist freilich nur der Aufhänger für das eigentliche Thema:

Seit einigen Tagen gibt es intensive Diskussionen und Offene Briefe zum Umgang mit der schrecklichen Situation in der Ukraine und der Frage von Waffenlieferungen. Viele Menschen haben Sorge, der Krieg könne weiter eskalieren. Das lässt niemanden kalt. Aber welche Schlüsse ziehe ich daraus? Da gibt es Menschen, die fordern von den Opfern kriegerischer Gewalt ein Zugehen auf die Täter und die Suche nach Kompromissen. Und sie fragen, ob die Ukraine und auch die NATO den russischen Präsidenten nicht auch zu sehr provoziert hätten. Sie tun damit das, was gemeinhin als „Täter-Opfer-Umkehr“ bezeichnet wird. Das heißt, dass den Opfern ein Teil der Verantwortung und Mitschuld für die Gewalt zugeschoben wird.

Zunächst ist anzumerken, dass der Krieg in der Ukraine eine wesentlich komplexere Angelegenheit ist als ein versuchter Fahrraddiebstahl.

Wer zum Beispiel US-Amerikanischen Imperialismus genauso ablehnt wie russischen Imperialismus, der betreibt deswegen noch lange keine „Täter-Opfer-Umkehr.“

„Bellen vor Russlands Tür“

Ich frage mich, ob Herr Beck mit seinen Ausführungen auf die jüngsten Statements seines Papstes anspielt. In diesen hatte das Oberhaupt der katholischen Kirche der Nato eine mögliche Mitschuld vorgeworfen, was allgemein empörten Widerspruch zur Folge hatte:

  • Die Osterweiterungen der Nato seien wie ein „Bellen vor Russlands Tür“ gewesen und hätten den russischen Angriff nicht unbedingt „provoziert“, aber „vielleicht begünstigt“, äußerte der Papst gegenüber der italienischen Zeitung Corriere della sera. Denn die Nato habe Putin wütend gemacht durch ihr Handeln.
    (Quelle: Magdalena von Zumbusch via merkur.de: Papst-Aussagen zur Nato-Rolle im Ukraine-Krieg sorgen für Empörung)

Je komplexer ein Thema, desto schwieriger ist es, sich einen halbwegs objektiven Überblick zu verschaffen: Welche historischen Entwicklungen sind zu berücksichtigen, was ist Faktenlage, was ist Propaganda, wer vertritt und verbreitet welche Ansichten und warum? Wer solche Fragen stellt, wird schnell als „Putinversteher“ und Kriegsbefürworter hingestellt. Oder als einer, dem es an Solidarität mit Kriegsopfern mangelt.

„Wir“ sind immer „die Guten“

Ein simples Gut-Böse-Schema mag vielleicht auf einen Fahrraddiebstahl anwendbar sein.

Und zusätzlich zu dieser Vereinfachung fühlt es sich für viele Leute sicher gut an, wenn sie sich uneingeschränkt auf der Seite der „Guten“ wähnen dürfen.

In diesem Beitrag soll es jedoch nicht um Weltpolitik gehen. Sondern darum, was Religion zu gegenwärtigen Themen beizutragen hat.

Weitere Opfer, die Solidarität benötigen…

Zu welchen Schlüssen Herr Beck aufgrund seiner Ausführungen kommt, verrät er nicht. Stattdessen schwenkt er um zu anderen Beispielen, in denen Menschen zu Opfern von Gewalt werden und Solidarität benötigen:

Um es klar zu sagen: Das ist schäbig! Menschen werden ja auch hier bei uns zu Opfern von Gewalt. Immer wieder! Wenn queere Menschen oder People of Colour, also Menschen mit dunklerer Hautfarbe, durch deutsche Innenstädte gehen, gibt es immer wieder Berichte von gewalttätigen Übergriffen. Wenn Frauen und Männer übergriffiges Verhalten erleben, ist das Gewalt. Wenn Minderjährige zu Sexobjekten werden, ist das Gewalt. Gewalt hat viele Formen, auch in meiner Kirche. Entscheidend ist dabei für mich: Ich habe immer solidarisch mit den Opfern zu sein. Als Mensch und Christ bin ich also immer parteiisch. Wo sich Täter und Opfer eindeutig erkennen lassen, da gibt es keine neutrale Position. Da habe ich immer auf der Seite der Opfer zu stehen – und das entspricht ganz den biblischen Grundlagen.

Diejenigen, die innerhalb der Täterorganisation Kirche Gewalt ausüben – sei es direkt als Täter oder indirekt durch Ermöglichung und Vertuschung – sind ebenfalls Menschen und Christen.

Wenn die sich parteiisch verhalten, dann erfolgt das überwiegend nicht im Interesse der Opfer. Sondern im Interesse der Kirche. Ein anderes Zwischenfazit lässt das unsägliche Versagen der Kirchenfunktionäre im Umgang mit dem Skandal tausendfacher sexualisierter Gewalt von Kirchenangestellten gegen Kinder nicht zu. In Anbetracht des klerikalen Gebarens entpuppen sich alle bisherigen Solidaritätsbekundungen als heuchlerische Lippenbekenntnisse.

…statt von der Kirche verhöhnt zu werden

Einige Vertreter treten da mit besonders perfidem Zynismus ans Mikrofon. Wie etwa Kardinal Rainer Maria Woelki, aus atheistischer Sicht Mitarbeiter des Jahres. Mindestens.

Woelki machte sich selbst zum Opfer und entschuldigte sich – nicht etwa für die Verbrechen, die er mitzuverantworten hat. Sondern bei den Betroffenen und bei seinem Fußvolk dafür, das diese die Kritik an ihm, Woelki, aushalten müssten.

Auch das entspricht sicher „ganz den biblischen Grundlagen.“ Weil die „biblischen Grundlagen“ so diffus und widersprüchlich sind, dass sie für praktisch alles Beliebige entsprechend zurechtgebogen oder selektiert werden können.

Mit einer Ausnahme: Der Dreh- und Angelpunkt der „biblischer Grundlagen“ ist natürlich immer der uneingeschränkte und exklusive Glaube an den „einzig wahren“ Gott.

Das entspricht ganz den biblischen Grundlagen.

Ausgerechnet das, was das biblisch-christliche Glaubenskonstrukt als „Unique Selling Point“ hinzuzufügen hat, erweist sich einmal mehr als völlig irrelevant.

Auch das wieder mit einer Ausnahme: Wer zum Beispiel einen Angriffskrieg startet, kann einen hochrangigen Kirchenfunktionär mit einer medienwirksamen Segnung der Waffen beauftragen, um so das gläubige Fußvolk davon zu überzeugen, dass man den lieben Gott auf seiner Seite hat, wenn man in den Krieg zieht.

Diese Leute sind dann ebenfalls fest davon überzeugt bzw. lassen sich gern davon überzeugen: Das entspricht ganz den biblischen Grundlagen.

Gott: Solidarität mit den Opfern?

Von Gott selbst heißt es ja, dass er sich mit einem kleinen Volk verbündet, das malträtiert und ausgebeutet wird. Wenn ich diese Parteilichkeit für die Opfer von Gewalt ernstnehme, dann habe ich darin eine wichtige Orientierung für heute. Ich habe dann an der Seite der Opfer zu stehen. Dem Opfer irgendeine Mitverantwortung zu unterstellen, ist das Gegenteil dieser Solidarität.

Vom selben Gott heißt es auch, dass er mal praktisch alles Leben (abgesehen von ein paar wenigen Prototypen, schwimmfähigen Tieren und Bootsbesitzern) ermordet hatte, weil er mit seinem Schöpfungsergebnis unzufrieden war. Parteilichkeit für die Opfer von Gewalt? Solidarität? Mitnichten.

Dass Herr Beck hier tatsächlich diesen Gott für dessen Solidarität mit einem unterdrückten Volk lobt, obwohl Herrn Beck ja von Berufs wegen die Inhalte des Alten Testaments bekannt sein müssen, sehe ich als Beleg dafür, wie unbrauchbar die biblischen Grundlagen tatsächlich sind, wenn es um moderne ethische Standards geht.

Gnadenlose Gewalt und Brutalität als Beweis, Gott auf seiner Seite zu haben

Die Schriften im Alten Testament sind eine schier endlose Aufzählung göttlich veranlasster, beauftragter oder legitimierter Gewalt.

Die besonders gläubigen und frommen Protagonisten profilieren sich durch radikale Gnadenlosigkeit, Rücksichtslosigkeit und Brutalität. Die Maßeinheit für Gottgefälligkeit besteht aus den abgeschnittenen Vorhhäuten und abgeschlagenen Köpfen der besiegten Feinde.

Die Psalmisten und Propheten schildern detailliert, welche Art von Solidarität man von diesem Gott erwarten darf:

  • »Ein Hammer bist du mir gewesen, eine Kriegswaffe; und ich habe mit dir Völker zerhämmert und Königreiche mit dir zertrümmert. 21 Zerhämmert habe ich mit dir Rosse samt ihren Reitern, zerhämmert mit dir Kriegswagen samt den darauf Fahrenden; 22 zerhämmert habe ich mit dir Männer und Weiber, zerhämmert mit dir Greise und Kinder, zerhämmert Jünglinge und Jungfrauen; 23 zerhämmert habe ich mit dir Hirten samt ihren Herden, zerhämmert mit dir Ackerleute samt ihren Gespannen, zerhämmert Landpfleger und Statthalter. (Jeremia 51, 20-23 MENG)

Eine wichtige Orientierung für heute?

Ja, klar. Zum Beispiel für Diktatoren, die einen Angriffskrieg planen. Die finden in der Bibel entsprechende Anleitungen und Pro-Tipps für erfolgreiche Landnahme, Belagerung, Vertreibung und Vernichtung anderer Völker. Die, die an die falschen Götter glauben.

Selber schuld?

Nein, ein kurzer Rock einer Frau rechtfertigt keine sexualisierte Gewalt. Und nein, queere Menschen sind nicht selbst schuld, wenn sie angegriffen werden. Sie alle haben sich auch nicht um irgendwelche Kompromisse zu bemühen.

Alles klar, volle Zustimmung. Und wo werden Leute fündig, die das anders sehen? In der biblischen Grundlage:

  • Wenn ein Mann bei einem andern Manne liegt, wie man einem Weibe beiwohnt, so haben beide eine Greueltat begangen; sie sollen unfehlbar mit dem Tode bestraft werden: Blutschuld lastet auf ihnen.
    (3. Mose 20,13 MENG)
  • Während sie so sich gütlich taten, umringten die Männer der Stadt, nichtsnutzige Buben, das Haus, schlugen laut an die Tür und riefen dem alten Manne, dem das Haus gehörte, die Worte zu: »Gib den Mann heraus, der bei dir eingekehrt ist: wir wollen uns an ihn machen!« Da ging der Besitzer des Hauses zu ihnen hinaus und sagte zu ihnen: »Nicht doch, meine Brüder! Begeht doch nichts so Böses! Nachdem dieser Mann in mein Haus gekommen ist, dürft ihr eine solche Schandtat nimmermehr verüben. Da ist meine Tochter, die Jungfrau, und das Nebenweib dieses Mannes: die will ich euch herausbringen; denen mögt ihr Gewalt antun und mit ihnen machen, was euch gefällt, aber an diesem Manne dürft ihr eine solche Schandtat nicht verüben!« Aber die Männer wollten nicht auf ihn hören. Da nahm der Mann sein Nebenweib und führte sie zu ihnen hinaus auf die Straße, und sie mißbrauchten sie und taten ihr Gewalt an die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen; erst bei Tagesanbruch ließen sie sie gehen.
    (Richter 19, 22-25 MENG)

Solidarität mit dem Opfer? Fehlanzeige.

Nach der Gruppenvergewaltigung nahm der Herr „…ein Messer, ergriff sein Nebenweib, zerschnitt sie Glied für Glied in zwölf Stücke und schickte diese im ganzen Gebiet Israels umher.“ (Richter 19, 29 MENG)

Schwulenhass und Diskriminierung von Frauen entspricht ganz den biblischen Grundlagen. Und diese Stellen sind erstens längst nicht die einzigen dieser Art und zweitens genauso Bestandteil der angeblich göttlich geoffenbarten (oder wenigstens inspirierten) ewigen und überlegenen Wahrheit, die der Bibel zugeschrieben wird.

Unbedingte Solidarität mit Opfern in der Bibel?

Denn das schriebe den Opfern eine Mitverantwortung für die Gewalt zu, die sie definitiv nicht haben. Deshalb ist zu betonen: Opfer von Gewalt – auch in der Ukraine – haben unsere unbedingte Solidarität und Hilfe verdient, keine Belehrungen und keine „Täter-Opfer-Umkehrung“.

Zum Thema Täter-Opfer-Umkehr hat die biblische Grundlage tatsächlich eine riesige Auswahl zu bieten.

Gleich zu Beginn etwa werden im Paradies-Narrativ Adam und Eva von Gott persönlich zu Tätern gemacht. Und das, obwohl sie zum Zeitpunkt des Obst-Diebstahls noch gar nicht gelernt hatten, „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden und somit gar nicht wissen konnten, dass der Verzehr einen „Straftatbestand“ darstellen könnte.

Ein weiteres, besonders widerwärtiges Beispiel gefällig? Das finden wir zum Beispiel bei 2. Samuel. Da ich dieser göttlich geoffenbarten Story schon mal einen Beitrag gewidmet hatte, belasse ich es an dieser Stelle bei einem entsprechenden Verweis.

Es geht mir hier nicht darum, mit Bibelstellen andere Bibelstellen zu widerlegen. Vielmehr möchte ich aufzeigen, dass sich mit der biblischen Grundlage alles Beliebige religiös „begründen“ lässt.

Fazit

Wohl niemand wird widersprechen, wenn jemand Solidarität mit Opfern von Gewalt fordert.

Dazu braucht es allerdings keine biblischen Grundlagen. Es genügt, sich der Mitmenschen wegen (und auch im eigenen Interesse, Stichwort reziproker Altruismus) mitmenschlich und solidarisch zu verhalten.

Im Gegenteil: Die biblischen Grundlagen sind jenen nützlich, denen das, was da so alles zu finden ist, genau so in den Kram passt, wie es da steht und das nicht mal inhaltlich verbogen werden muss, um damit Verbrechen aller Art göttlich zu „legitimieren.“

Die eigentliche Frage ist, wie diese Solidarität im jeweiligen Fall konkret aussehen sollte. Und das ist ein gesellschaftliches bzw. politisches Thema. Kein theologisches.

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1 Gedanke zu „Opfer brauchen Solidarität – Das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Falls Herr Beck ernst meinen sollte, was er erzählt, dann muss er
    – zeitnah aus der Diskriminierungsmaschinerie Kirche austreten,
    – zeitnah der menschenverachtenden christlichen Religion und deren Bild eines brutalen Kampfgottes den Rücken kehren,
    – eine beträchtliche Summe in die Kaffekasse von awq.de einzahlen,
    – im nächsten WzS die Zuhörer auffordern, es ihm gleichzutun.

    Und jetzt schau ma mal was passieren wird …

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