Wenn Pfarrer Geschichte umdeuten: Das „Wort zum Sonntag“ und die Vereinnahmung der friedlichen Revolution

Lesezeit: ~ 2 Min.

Biotope der Hoffnung: Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Pfarrer Conrad Krannich, veröffentlicht am 8.11.25 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Pfarrer Krannich vereinnahmt den Mauerfall als Beweis christlicher Verheißung, obwohl er das Werk mutiger Menschen war, die keine göttliche Erlösung brauchten, sondern selbst für ihre Freiheit kämpften.

Pfarrer Conrad Krannich nutzt in seinem aktuellen „Wort zum Sonntag“ die Erinnerung an den Mauerfall 1989, um eine zutiefst problematische Botschaft zu vermitteln: Dass religiöser Glaube und kirchliche Strukturen die treibende Kraft positiver gesellschaftlicher Veränderung seien. Diese Geschichtsklitterung verdient Widerspruch.

Die Kirche als Motor des Wandels? Eine bequeme Erzählung

Ja, die Friedensgebete in Leipzig fanden in der Nikolaikirche statt. Aber war es der Glaube, der Menschen auf die Straße trieb? Oder war es der Mut verzweifelter Menschen, die in einer Diktatur jeden verfügbaren Raum nutzten – und Kirchen waren schlicht die einzigen halböffentlichen Räume, die das Regime nicht vollständig kontrollierte?

Die historische Wahrheit ist komplexer: Viele Oppositionelle waren Atheisten, Humanisten, einfach Menschen, die Freiheit wollten. Die Kirche bot einen Schutzraum, aber die Veränderung entsprang menschlichem Freiheitswillen, nicht göttlicher Verheißung. Den Mauerfall als Bestätigung christlicher Heilserwartung umzudeuten, ist intellektuell unredlich.

Jesus als politischer Kommentator? Die übliche Vereinnahmung

Besonders dreist wird es, wenn Krannich Jesus mit den Worten zitiert: „Es hat längst begonnen. Nicht irgendwo da draußen müsst ihr suchen; nein, mitten unter euch, da beginnt die neue Zeit.“

Was hat eine 2000 Jahre alte apokalyptische Naherwartung des Weltuntergangs mit politischem Aktivismus im 21. Jahrhundert zu tun? Jesus erwartete das unmittelbar bevorstehende Reich Gottes – das bekanntlich nicht kam. Daraus eine Handlungsanweisung für säkulare Demokratiebewegungen abzuleiten, ist rhetorische Akrobatik.

Menschen brauchen keinen Jesus, um zu erkennen, dass Veränderung im Kleinen beginnt. Diese Einsicht ist uralt und findet sich in unzähligen philosophischen Traditionen. Sie als spezifisch christlich zu reklamieren, ist anmaßend.

Der eigentliche Skandal: Öffentlich-rechtliche Privilegierung religiöser Propaganda

Das grundsätzliche Problem bleibt: Warum erhält ausgerechnet die Kirche in einem säkularen Staat einen kostenlosen Sendeplatz zur besten Sendezeit in der ARD? Das „Wort zum Sonntag“ ist Relikt einer Zeit, in der die Kirchen noch gesellschaftliche Deutungshoheit beanspruchen konnten.

Heute sind weniger als 50% der Deutschen Kirchenmitglieder, die Zahl der Gläubigen liegt noch deutlich niedriger. Dennoch finanzieren alle Gebührenzahler – Muslime, Atheisten, Humanisten, Buddhisten – diese exklusive Plattform für christliche Verkündigung. Wo ist das „Wort zum Sonntag“ der Konfessionslosen? Der Humanisten? Der kritischen Denker?

Hoffnung ohne Gott: Die säkulare Alternative

Krannich endet mit seinem „persönlichen November-Trost“ und seiner „kleinen Verheißung“. Doch Hoffnung braucht keine religiöse Verpackung. Im Gegenteil: Die humanistische Perspektive ist ehrlicher und kraftvoller.

Wir wissen, dass es keine garantierte Erlösung gibt, keinen göttlichen Plan, der alles zum Guten wendet. Jede positive Veränderung ist menschliches Werk – mühsam erkämpft gegen Widerstände, oft unter Einsatz des eigenen Lebens. Die Menschen von 1989 verdienen es, dass ihr Mut nicht einer himmlischen Vorsehung zugeschrieben wird, sondern ihrem eigenen Entschluss, nicht länger zu schweigen.

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Das ist die wahre Hoffnungsbotschaft: Wir sind nicht Spielfiguren göttlicher Pläne, sondern Gestalter unserer Zukunft. Veränderung „beginnt zwischen dir und mir“ – nicht weil Jesus es versprochen hat, sondern weil Menschen füreinander einstehen können.

Fazit: Geschichte gehört allen – nicht der Kirche

Der Mauerfall war ein Triumph menschlicher Würde und Freiheitsliebe. Ihn zum Beleg christlicher Wahrheit umzudeuten, ist respektlos gegenüber allen, die damals ihr Leben riskierten – gleich welcher Weltanschauung.

Das „Wort zum Sonntag“ bleibt, was es ist: anachronistische Missionierung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Es ist Zeit, dieses Relikt entweder abzuschaffen oder durch eine weltanschaulich plurale Plattform zu ersetzen, in der auch säkulare, humanistische Stimmen gleichberechtigt zu Wort kommen.

Hoffnung ist zu wichtig, um sie Theologen zu überlassen.


Dieser Blog setzt sich für die Trennung von Staat und Kirche, für kritisches Denken und humanistische Werte ein. Kommentare willkommen.

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