Kommentar zu NACHGEDACHT 111: Machen Sie den Mund auf!

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Kommentar zu NACHGEDACHT 111: Machen Sie den Mund auf!, Originalartikel verfasst von Christina Leinweber, veröffentlicht von Osthessennews am 22.2.2015

In der Zeit in der Religionskritik groß im Trend war,*

Religionskritik ist nach wie vor glücklicherweise „groß im Trend,“ auch wenn Sie möglicherweise bisher nicht viel davon mitbekommen haben.

warf Karl Marx dem Christentum vor, es vertröste seine Gläubigen auf das Jenseits.*

Genau das tut es ja auch.

[…] Marx Kritik bezog sich also auf die Jenseitsvertröstung mit der Hauptthese, ein Christ lebe nicht richtig im Hier und Jetzt und akzeptiere die aktuellen, misslichen Umstände.*

…zu denen er ja nichts kann, weil die ja in der Unergründbarkeit ihres Gottes und in der lediglich behaupteten Willensfreiheit einer bestimmten Trockennasenaffenart begründet liegen.

[…] Er [Marx] hatte eine Erneuerung der Gesellschaft im Sinn.

…was grundsätzlich ja erstmal eine gute Idee ist, eine von religiösen Dogmen indoktrinierte Gesellschaft erneuern zu wollen. Dass politische und gleichermaßen religiöse Ideologien nicht für eine Erneuerung der Gesellschaft im 21. Jahrhundert taugen, ist heute recht einfach zu erkennen. Marx‘ Religionskritik musste zwangsläufig eine Gesellschaftskritik sein, weil Religion ja eine rein menschliche Erfindung ist. Auch wenn Marx aufgrund seiner eigenen Ideologie nicht die richtigen Schlüsse aus seinen Erkenntnissen ziehen konnte, sind seine Zeilen zur Religionskritik heute so zutreffend wie damals:

„Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Societät. Dieser Staat, diese Societät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Compendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur (Ehrgefühl), ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.

Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“ (Quelle)

Schade eigentlich, dass das Christentum genau das nicht sein will, was Marx damals anprangerte: ausschließlich eine Religion, die die Gläubigen auf das Jenseits vertröstet.*

Sie finden es schade, dass Ihre Religion die Gläubigen nicht auf das Jenseits vertröstet? Dann dürfte es beruhigend für Sie sein zu wissen, dass es ja genau so ist.

Die tiefen, christlichen Wurzeln zeichnen nämlich ein anderes Bild: Jesus war nicht nur der Messias, sondern auch ein weiser Schriftgelehrter und eben auch ein Prophet.*

Diese Aussage legt nahe, dass Sie sich (trotz Studiums) offenbar nicht wirklich mit Jesus von Nazareth befasst haben. Zwischen dem, wofür es eine etwas höhere Wahrscheinlichkeit der Historizität (=geschichtlichen Belegbarkeit) gibt und dem, was später aus dieser historischen Person gemacht wurde, liegen Welten.

Wenn es den historischen Jesus gegeben hat, dann handelte es sich dabei um einen gewöhnlichen jüdischen Rabbi, einen Wanderprediger, der, wie viele andere Weltretter damals auch, die kurz bevorstehende Apokalypse ankündigte (womit er sich, wie wir alle wissen, bis zum heutigen Tage geirrt hat).

In Wirklichkeit ist es also genau umgekehrt: Der historische Jesus war nur Prophet, dass er auch Messias oder gar Gottes Sohn gewesen sein soll, geht auf die Phantasie der Evangelisten zurück, die dem historischen Jesus diese Attribute  erst viele Jahre nach dessen Tod zuordneten und Jesus damit zur am meisten überschätzten Person der Menschheitsgeschichte machten.

Wenn sie nichts mit Propheten anfangen können: Diese zumeist von Gott inspirierten Menschen prangerten immerzu die aktuellen Missstände an und wollten erreichen, dass die Menschen umkehren, sich besinnen und zu Gott zurückkehren.*

Da es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Götter gibt, ist auch nicht davon auszugehen, dass jemals irgendwer von einem Gott inspiriert war, was natürlich nicht ausschließt, dass jemand von der Illusion eines Gottes inspiriert war. Wer Menschen dazu bewegt, zu einem Gott zurückzukehren, der erhebt damit ja den Anspruch darauf, dass es diesen Gott nicht nur gibt, sondern auch noch, dass sein Gott der tatsächlich richtige sei – schon rein rechnerisch äußerst unwahscheinlich bei den rund 3000 Göttern, die sich die Menschen schon ausgedacht hatten…

Auch weil noch nie jemals auch nur ein Gott irgendwie seriös belegbar in Erscheinung getreten ist und es sich deshalb über die Wahrheit bzw. Existenz eines Gottes notwendigerweise nur spekulieren lässt, ist die Gefahr groß, aus Versehen zu einem falschen Gott zurückzukehren, was dem richtigen Gott wahrscheinlich nicht sehr gefallen würde. So hält zum Beispiel der von Christen angebetete Gott für Andersgläubige den Tod durch Steinigung bereit: (Gott befiehlt):

  • 2 Wenn in deiner Mitte, in einem der Stadtbereiche, die der Herr, dein Gott, dir gibt, ein Mann – oder auch eine Frau – lebt, der tut, was in den Augen des Herrn, deines Gottes, böse ist, und sich über seinen Bund hinwegsetzt,
  • 3 wenn er hingeht, anderen Göttern dient und sich vor ihnen niederwirft – und zwar vor der Sonne, dem Mond oder dem ganzen Himmelsheer, was ich verboten habe -,
  • 4 wenn dir das gemeldet wird, wenn du den Fall anhängig machst, genaue Ermittlungen anstellst und es sich zeigt: Ja, es ist wahr, der Tatbestand steht fest, dieser Gräuel ist in Israel geschehen!,
  • 5 dann sollst du diesen Mann oder diese Frau, die den Frevel begangen haben, den Mann oder die Frau, zu einem deiner Stadttore führen und steinigen und sie sollen sterben.  <5Mo 17,2-5> (Einheitsübersetzung, Hervorhebung von mir)

Deshalb kann ich mit Propheten – weder mit vormittelalterlichen, noch mit lebenden – tatsächlich nichts anfangen.

Jesus betrieb dies in ganz großem Stil: Er hatte oft Ärger mit konservativen Kräften oder mit unmenschlichen, religiösen Gesetzeshütern.*

Bei Bedarf behauptet er aber auch genau das Gegenteil:

  • „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17, Einheitsübersetzung).

Er hielt den Menschen einen Spiegel vor.*

Hier verwechseln Sie Jesus mit Till Eulenspiegel.

Nur wollte eben nicht jeder in sein wahres Angesicht sehen.*

Wer sich als „Sohn Gottes“ ausgibt braucht sich nicht zu wundern, wenn er nicht ernst genommen wird.

Was ich Ihnen also am heutigen Sonntag mitgeben möchte, ist der Aufruf, dass Christen, besonders wenn sie in die Nachfolge Jesu treten, dazu berufen sind, den Mund aufzumachen: wenn Zustände nicht mehr tragbar sind, wenn das Leid überhand nimmt.*

Christen, die nicht in die Nachfolge Jesu treten, sind somit nicht dazu berufen, den Mund aufzumachen? Und wieso speziell nur Christen? Ist es nicht Aufgabe eines jeden Menschen, etwas gegen untragbare Zustände zu unternehmen, schon ganz allein im eigenen Interesse, das eigene Wohl zu mehren und Wehe zu vermindern? Dieses einfache Prinzip gilt für jeden Menschen, unabhängig davon, ob er von einer Religion verblendet ist oder ob er selbstständig denkt. Diese wahrscheinlich bewusst vorgenommene Unterscheidung („Christen…“) grenzt einmal mehr die „Guten“ von den „Bösen“ ab. Gegen untragbare Zustände helfen weder Gebete, noch Gottesdienste, noch Kerzen.

Kritische Betrachtung und das Eintreten für das Gute sollten Maxime des Handelns sein.*

Auch jeder Selbstmordattentäter wird Ihnen hier uneingeschränkt zustimmen. „Das Gute“ ist kein absoluter Wert, sondern eine beliebig der jeweiligen Wertevorstellung entsprechend anpassbare Größe – ein Umstand, den sich Führer von Religionen und Ideologien aller Art für die Durchsetzung ihrer Werte zunutze machen. Einmal mehr wird offensichtlich, dass ein Gut-Böse-Dualismus (der natürlich nicht von einem Gott vorgegeben, sondern von Menschen festgelegt wurde) nicht als Ethik für das Zusammenleben der Menschen im 21. Jahrhundert taugt.

Die kritische Betrachtung sollte auch immer den eigenen Standpunkt umfassen, wobei Religionen naturgemäß allergisch auf Kritik reagieren. Wären sie offen für Kritik, bräuchten sie keine Dogmen. Deshalb ist die Forderung der kritischen Betrachtung aus der Feder einer Religionsanhängerin, die die Existenz eines Gottes als real behauptet, heuchlerisch.

Karl Marx soll Unrecht haben.*

Ist das ein Wunsch oder eine Vermutung? Imperativ oder Konjunktiv?

Das Christentum lebt auch im Hier und Jetzt, weiß um die Missstände und deckt sie hoffentlich auf.*

Das „Christentum“ „lebt“ überhaupt nicht, es leben Menschen, die dem Gotteswahn noch mehr oder weniger erlegen sind. Die Aussage, das „Christentum“ wüsste um die Missstände und sei in der Lage, sie „hoffentlich“ aufzudecken, ist an Überheblichkeit, Selbstgerechtigkeit und Arroganz kaum zu überbieten.

Wer Missstände erkennen und aufdecken möchte, wird sehr schnell bei der Tatsache ankommen, dass es gerade die Religionen sind, die die Welt vergiften und die weitaus größte Zahl an Menschen im Namen eines Gottes vertrieben, ausgeraubt, vergewaltigt, gequält und ermordet wurde.

Dies wäre eine Religion, die nicht am Menschen vorbeigeht, sondern sich um ihn – bereits im Hier und Jetzt – sorgt.*

Am Konjunktiv erkennt man, dass die Autorin hier auch ihre Zweifel zu haben scheint. Was hat eine Religion davon, wenn sie sich bereits im Hier und Jetzt um den sündigen Menschen sorgt? Ziel ist doch die „Überwindung“ des Todes (warum auch immer) und die Erlösung von der angeblich bis nach dem Tod noch bestehenden Sünde.

An der Stelle ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass es natürlich Menschen gibt, die sich tatsächlich im vermeintlichen Auftrag ihres erdachten Gottes um andere Menschen sorgen. Diese Arbeit ist zu würdigen, auch wenn der Mensch natürlich auch ohne jegliche fixe Gottesidee dazu in der Lage ist.

*Das Online-Portal Osthessennews fordert jede Woche unter der Rubrik „NACHGEDACHT“ mit „liberal-theologischen“ Gedanken zum Nachdenken auf. Alle als Zitat gekennzeichnete Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Original-Artikel von Christina Leinweber.

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