Kommentar zu NACHGEDACHT 121: Besessen, Originalartikel verfasst von Christina Leinweber, veröffentlicht am 3.5.2015 von osthessen-news.de
Da lebt ein Mensch dort, wo es nichts Lebendiges mehr gibt: In Grabhöhlen – mitten im Tod – schreit er unaufhörlich. Er schlägt sich selbst, versucht die Ketten zu lösen, die ihm die Dorfbewohner umgelegt haben. Das ist die Schilderung des Lebens des Besessenen von Gerasa. Das Markusevangelium stellt uns eine Person vor, die zutiefst leidet – an sich selbst und an seinen Umständen.*
Oder an seiner psychischen Krankheit, für die es zu dieser Zeit weder eine Erklärung, noch eine angemessene Behandlung gab. Was auch die Umstände und seinen Aufenthaltsort erklärt.
In dieser grausamen Notlage, die bisher kein Mensch lösen konnte, kommt Jesus. Er begegnet dem Menschen, der nackt und voller Wunden vor ihm niederfällt.*
Den jetzt im Bibeltext folgenden Abschnitt übergeht die Autorin geflissentlich: „und er schrie mit lauter Stimme und sagt: Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, Sohn Gottes, des Höchsten? Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich nicht!“ (Quelle: Elbersfelder Bibel).
Jesus hat ihn also offenbar gegen seinen ausdrücklichen Willen „behandelt.“
Jesus fragt den Mann nach seinem Namen und die ganze Dramatik eines Menschenlebens wird bekannt. Der Besessene antwortet: „Ich heiße Legion, denn wir sind viele.“*
Diese Schilderung könnte auf eine Schizophrenie hindeuten, was zur damaligen Zeit natürlich noch nicht anders als durch Dämonen erklärbar war.
Hier zeigt sich, dass der Mann schon lange nicht mehr Herr über sich selbst ist. Andere haben Besitz über sein Ich genommen.*
Welche Andere?
Jesus zögert natürlich nicht lange angesichts dieser zutiefst traurigen Lage: Er befreit den Mann von seinen Dämonen. Der Besessene wird von seinen vielen Bewohnern befreit, er wird wieder in sich ganz.*
Auch die Art und Weise, wie Jesus diesen Exorzismus durchführt, lässt die NACHGEDACHT-Autorin lieber mal weg, zu abstrus ist die Story:
„Es war aber dort an dem Berg eine große Herde Schweine, die weidete. Und sie baten ihn und sagten: Schicke uns in die Schweine, damit wir in sie hineinfahren! Und er erlaubte es ihnen. Und die unreinen Geister fuhren aus und fuhren in die Schweine, und die Herde stürzte sich den Abhang hinab in den See, etwa zweitausend, und sie ertranken in dem See.“ (Quelle: Elbersfelder Bibel)
Jesus als Sohn Gottes hat ein Wunder an dem Mann wirken lassen, das uns zweifaches zeigt: Gott möchte, dass wir gesund sind. Er nimmt uns an, wie wir sind und verschließt sich nicht vor unseren Abgründen, die im Falle des Besessenen ja tatsächlich sehr chaotisch waren. Er möchte, dass wir gesund sind.*
Auch wenn der „Wille Gottes“ („…er möchte, dass wir gesund sind“) hier gleich zweimal behauptet wird, handelt es sich dabei trotzdem nur um nichts weiter als um einen „frommen Wunsch“, um die Projektion einer Sehnsucht auf die Fiktion eines Gottes, der nach Möglichkeit doch bitte sogar ein Interesse am Wohlergehen einer bestimmten Trockennasenaffenart haben möge. Die logische Frage, warum ein Gott, der möchte, dass wir gesund sind, nicht einfach dafür sorgt, dass kein Mensch krank ist, bleibt unbeantwortet, ein klassischer Fall von selektiver Wahrnehmung und Bewertung.
Abgesehen davon wird hier einmal mehr behauptet, Jesus sei der Sohn Gottes und er hätte deshalb „ein Wunder“ wirken lassen können. Das ist eine unbewiesene und höchst fragwürdige Behauptung, die, wie die ganze Geschichte, jeder sachlichen Grundlage entbehrt.
Zweitens ist die diese Wunderheilung keineswegs eine Geschichte der Antike.*
Doch. Diese „Wunderheilung“ ist eine Geschichte der Antike. Ein archaisches Märchen.
Besessen zu sein, ist noch heute ein Zustand, der krank machen kann:*
Fehlschluss: Weil es „Besessenheit“ auch heute noch gibt heißt das nicht automatisch, dass die beschriebene „Wunderheilung“ nicht nur eine Geschichte der Antike ist.
Wir fühlen uns heute auch noch besessen – genau dann, wenn wir fremdbestimmt werden, wenn wir nicht mehr selbst entscheiden können, wenn andere das Sagen über uns haben.*
Zum Beispiel, weil wir Opfer einer religiösen Indoktrination geworden sind. Diese Menschen fühlen sich zwar meistens nicht „besessen“, ihnen ist nicht bewusst, wie ihr Denken fremdbestimmt wird und wie andere das Sagen über sie haben.
Sobald wir nicht mehr „Ich“ sagen und andere Besitz über uns genommen haben, sind wir dem armen Mann des Neuen Testamentes sehr nah. Genau dann sollte seine Heilung uns daran erinnern, dass Gott im Glauben des Christentums wieder „ganz“ machen kann.*
Das Gegenteil ist der Fall. Wer „ganz“ werden möchte, sollte sich schleunigst von allen religiösen Fiktionen, Illusionen und Wahngedanken befreien. Menschen brauchen ganz sicher keinen Gott, der sie (bzw. genaugenommen ja sowieso nur die Zugehörigen des Christentums) wieder „ganz“ machen kann. Wer an einer wie auch immer gearteten psychischen Erkrankung leidet, ist gut beraten, wenn er sich professionelle Hilfe holt, statt auf einen Gott zu hoffen, dessen angeblicher Sohn angeblich vor 2000 Jahren Dämonen aus Menschen in Schweine übertragen hat, die sich daraufhin selbst ertränkten.
Er nimmt uns an, wie wir sind. Er kann uns aus unseren Ketten befreien.*
Was soll denn bitte das für ein Gott sein, der uns zwar angeblich aus unseren Ketten befreien kann, es aber aus irgendwelchen Gründen nicht tut?! Ein Sadist?
Auch dies ist wieder nichts weiter als ein frommer, aber natürlich auch sehr naiver Wunsch. Jeder möchte gern angenommen werden, wie er ist, da wäre es doch schön, wenn Gott das auch tun würde. Die Ketten sind in Wirklichkeit die Illusionen und Fiktionen eines Gottes – aus diesen Ketten kann sich der Mensch höchstpersönlich selbst befreien.
*Das Online-Portal Osthessennews fordert jede Woche unter der Rubrik „NACHGEDACHT“ mit „liberal-theologischen“ Gedanken zum Nachdenken auf. Alle als Zitat gekennzeichnete Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Original-Artikel von Christina Leinweber.
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