Ein AWQ-Leser hat uns eine Art Plädoyer für das Christentum in Form eines Kommentares unten auf dieser Seite geschickt. Er zählte eine Reihe von Argumenten auf, was die Kirche alles Gutes für die Menschheit geleistet habe. Hier kommen einige Anmerkungen zu dieser Vorstellung vom Christentum.
Sehr geehrter Herr Ehrl,
herzlichen Dank für die Veröffentlichung Ihrer Gedanken zu meinem Beitrag. Es freut mich, dass offenbar auch Kirchenvertreter offen für Webseiten mit säkularen und religionskritischen Gedankenanstößen sind. Und es freut mich, dass Sie die Dialogbereitschaft zeigen, die von Kirchenvertretern zwar immer gern gefordert, aber nur sehr selten auch gezeigt wird. Da mein Facebook-Kommentar zu Ihrem Beitrag auf unerklärliche Weise verschwunden ist, erlaube ich mir, meine Anmerkungen hier aufzuschreiben und dazu aus Ihrem Beitrag zu zitieren. Ich habe mich bemüht, Ihre Argumente nachzuvollziehen und schreibe hier einige Anmerkungen dazu auf. Sie schreiben:
die sog. „Kriminalgeschichte des Christentums“ von Karlheinz Deschner zählt alles auf, was entgegen dem Evangelium Jesu von Nazareth von Chrsten verübt wurde. Wie der Name schon sagt: Eine Kriminalgeschichte blendet logischerweise die „Caritas- bzw. Liebesgeschichte des Christentums“aus.
Für eine umfassende Verbreitung der so genannten „Caritas- bzw. Liebesgeschichte des Christentums“ sorgen die Kirchen selbst. Spätestens für die Abschlussbilanz des Christentums ist deshalb eine ebenso umfassende Dokumentation der nach Möglichkeit gerne verschwiegenen, verleugneten oder zumindest klein geredeten Kriminalgeschichte wichtig.
Auch für die Zeit bis dahin ist die Aufdeckung und Dokumentation der vielfältigsten christlichen Verbrechen von großer Bedeutung. Dieses „Erbe“ lastet auf allen, die sich heute noch als Christen bezeichnen und die diese Ideologie durch ihre Mitgliedschaft unterstützen.
Und was den Sozialdienstleister Caritas angeht: Der hat mit „Liebe“ nichts zu tun. Das ist ein Wirtschaftsbetrieb, bei dem die Nächstenliebe der Gewinnmaximierung dient. Über die Legende von der kirchlichen Wohlfahrt gibt es umfassende Literatur und hier auch einen Beitrag zum Thema.
Jesus von Nazareth hat kein Evangelium hinterlassen. Die Evangelien berichten von der biblischen Kunstfigur Jesus Christus. Auch mit diesen „Aussagen“ lässt sich völlig problemlos und ohne große Verrenkungen Gewalt bis hin zum Völkermord rechtfertigen. Es liegt einzig am Leser, ob der die eine oder die andere Stelle auswählt, ob er diesen oder jenen Satz für „gültig“ erklärt.
Christlicher Uneigennutz
Dazu zählen die unzähligen einzelnen Christen, die Ordensgemeinschaften usw., die in den letzten 2000 Jahren uneigennützig für eine Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse eingetreten und dabei oft mit ihrem Leben bezahlt haben.
Ja, es gab „Bildung“ durch die Klöster, durch die Kirche, aber längst keine 2000 Jahre. Und wenn, dann auch welche Bildung? Erziehung und Bildung waren untrennbar mit der sog. Heiligen Schrift und deren Deutung verbunden. Vornehmlich dienten die kirchlichen und klösterlichen Schulen dazu, auch legitimen Priesternachwuchs heranzubilden. Selbst das Studium der lateinischen Klassiker wurde als Hilfswissenschaft zur Bibelexegese genutzt. Erst im 12. Jahrhundert begann eine teilweise Säkularisation der Bildungsinhalte.
Als im 13. Jahrhundert die ersten Universitäten gegründet wurden, ging es auch wesentlich um Fragen an die Bibel. Musik und Kunst bezogen sich vornehmlich auch auf religiöse Themen. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Durch die besondere Bedeutung des römischen Rechts entstanden später Rechtsfakultäten an den Universitäten und durch die erweiterten Anforderungen der Städte und Gesellschaft auch die anderen Fakultäten.
Theologie: Eine angemaßte Wissenschaft
Heute sieht (außer Theologen) praktisch niemand mehr die Theologie als Wissenschaft an. Handelt es sich beim Gegenstand der Forschung doch schließlich bis zum Beweis des Gegenteils um eine reine Fiktion. Die auch dann eine Fiktion bleibt, wenn man sich ihr mit wissenschaftlichen Methoden nähert. Um als etwas anderes als eine angemaßte Wissenschaft gelten zu können, wäre zunächst ein Gottesbeweis erforderlich. Ohne diesen bleibt alles Weitere hypothetisch, wird aber trotzdem wie real angesehen.
Christen haben den Auftrag, das Wort Gottes auf Erden zu verbreiten. Von „uneigennützig“ kann keine Rede sein, auch wenn der „Nutzen“ freilich nur eine Illusion, ein leeres Versprechen ist. Für ein gottgefälliges Verhalten (wie auch immer das aussehen soll) besteht zumindest theoretisch die Hoffnung auf Erlösung und ein „ewiges Leben.“ Für alles andere drohen zeitlich unbegrenzte Höllenqualen.
Für gläubige Christen beides gewichtige Gründe, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen. Die Meinung darüber, welche Dinge das sind, hat sich über die Jahrhunderte sehr verändert. Besonders negativ zum Beispiel durch die weltfremden, absurden Ansichten eines Augustinus, am positivsten durch Aufklärung und Säkularisierung. Das gemeine christliche „Fußvolk“ wäre zutiefst erschüttert, wüsste es, wie wenig von ihren kindlich-naiv-frommen Wunschbildern die Theologie noch übriggelassen hat. Aber die Schafe wollen in der Mehrheit gar nicht wissen, was ihre Hirten und deren Gehilfen wirklich denken und wissen.
Das Christentum: Sinnvolles Welt- und Menschenbild?
Das Christentum, das soziologisch betrachtet eine jüdische Sekte war, fand bei Menschen aller sozialen Schichten im Römischen Weltreich so starken Zulauf – trotz Verfolgung – weil es ein sinnvolles Welt- und Menschenbild vermittelte […]
Das halte ich für eine sehr gewagte These. Ein Welt- und Menschenbild, das auf religiösen Scheinwahrheiten beruht, kann, zumindest aus heutiger Sicht, wohl kaum als „sinnvoll“ bezeichnet werden. Ihren Erfolg verdankte die christliche Lehre der Tatsache, dass sie so entworfen und entwickelt worden war, dass sie als Staatsreligion nützliche Dienste erweisen konnte. Noch heute finden sich in der Bibel viele Stellen, die aus der ursprünglichen jüdischen Lehre entfernt, umgeschrieben oder eingefügt worden waren, um die neue Religion überhaupt erst staatskompatibel zu machen.
[…] und zum anderen sich der Menschen annahm, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt, vernachlässigt oder gar getötet wurden: Kinder im Mutterleib, Prostituierte, Sklaven u.a..
Auch hierfür dürfte der Grund nicht die besondere Sinnhaftigkeit der christlichen Lehre, sondern vielmehr gesellschaftliche Aspekte gewesen sein. Gebildete, gesellschaftlich besser gestellte Menschen waren nicht so anfällig für sektiererische Rattenfänger mit ihrem Messias. Zu dieser Zeit gab es durchaus sympathischere Götter, die man verehren konnte. Und Kinder im Mutterleib haben sich auch damals schon nicht für oder gegen bestimmte Religionen entschieden.
Hoffnungsvolle Illusion vs. hoffnungslose Wirklichkeit
Für Menschen am Rand der Gesellschaft war eine hoffnungsvolle Illusion vermutlich auch attraktiver als eine wenig hoffnungsvolle Wirklichkeit. Gerade die Sklaverei wurde zum Beispiel nicht etwa in Frage gestellt, vielmehr wurden Sklaven aufgefordert, ihrem irdischen Herren genauso zu gehorchen wie ihrem himmlischen Herren.
Die größte verfolgte Gruppe weltweit sind heute nicht Atheisten, Kommunisten oder Andersgläubige, sondern Christen.
Auch das sagt nichts über die Sinnhaftigkeit oder gar einen Wahrheitsgehalt der christlichen Lehre aus. Der eigentliche Grund hierfür dürfte sein, dass das Christentum die größte Verbeitung unter den ärmsten und sozial schwächsten Teilen der Weltbevölkerung hat. Und natürlich relativiert es keinesfalls die vielen Millionen Tote, die auf das Konto des Christentums gehen. Auch ist anzumerken, dass Atheisten kein Buch haben, das ihnen befiehlt, andere Menschen wegen ihrer Weltsicht zu töten.
Eine Welt, in der es das Christentum nicht gäbe, wäre sozial um Vieles kälter.
Eine Welt, in der es das Christentum nicht gäbe, hätte das bisher wohl dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte endlich hinter sich gebracht. Menschen brauchen keinen Aberglauben an erfundene Götzen, um sich sozial verhalten zu können. Wer die Aussicht auf eine angebliche Belohnung oder Bestrafung im Jenseits braucht, um sich fair zu verhalten, ist wahrlich zu bedauern. In einer Welt ohne das Christentum gäbe es einen Faktor weniger, der eine massive Spaltung zwischen den Menschen bewirkt und der sich für alle beliebigen Zwecke instrumentalisieren lässt.
Der Todesengel von Kalkutta als Positivbeispiel?
Ich gebe dich Hoffnung nicht auf und bin optimistisch:
Hier schließe ich mich an. Auch ich gebe die Hoffnung nicht auf und auch ich bin optimistisch. Ich hoffe auf die Entwicklungsfähigkeit der Menschheit. Und deshalb bin ich optimistisch, dass es der Menschheit gelingt, die realen Herausforderungen einer globalisierten Welt im 21. Jahrhundert mit dafür geeigneten, wirksamen Mitteln bewältigen zu können.
Dazu gehört auch, nicht geeignete und unwirksame Mittel wie das Vertrauen auf erfundene Phantasiewesen endlich aufzugeben. Solange sich Menschen noch in religiöse Scheinwelten flüchten, tragen sie nicht wirklich zu einer Verbesserung der Situation bei.
Ich will Mutter Teresa von Kalkutta (+ 5.9.1997) sprechen lassen: […]
Ausgerechnet Mutter Teresa als Positivbeleg für das Christentum anzuführen, zeigt, dass diese Frau schon jetzt zu einer Gestalt stilisiert wurde, die ihrer wahren Persönlichkeit nicht gerecht wird. Ein unverklärter, unvernebelter Blick liefert ein anderes Bild als das der selbstlosen, menschenfreundlichen Heiligen.
- Bei Mutter Theresa „wurde die Armut als christlicher Leitwert deklariert, anstatt sich auf politischer Ebene für die Initiierung staatlicher Sozialprogramme einzusetzen, die wohl eher der massiven Armut Einhalt geboten hätten.
Auch sahen die Missionare davon ab, sich der Palliativmedizin zu bedienen, um zumindest die Schmerzen der sterbenden Patienten zu lindern. Mutter Teresa sah im Schmerzempfinden eine besondere Art, Gott nahe zu sein. Sie selbst machte kurz vor ihrem Tod dennoch von Palliativmedizin Gebrauch.“ (Quelle: hpd.de)
Der „Todesengel von Kalkutta“, so ihr wenig schmeichelhafter, aber wohl nicht unbegründeter, inoffizieller Titel, war ganz offenbar nicht die Heilige, zu der sie dieses Jahr ernannt wird. Die „ZEIT“ schreibt:
Kritik und Zweifel an ihrer Arbeit
Die Ordensfrau war allerdings nicht unumstritten, auch weil sie ihr Leben lang an den traditionellen Werten der katholischen Kirche festgehalten hatte. Empfängnisverhütung und Abtreibung lehnte sie strikt ab – Kritiker warfen ihr daraufhin vor, so auch selbst zum Elend der Menschen beigetragen zu haben. Zudem soll sie versucht haben, ihren Schutzbefohlenen den Katholizismus aufzuzwingen.
2013 dann veröffentlichten drei kanadische Wissenschaftler eine umfangreiche Studie zum Leben der berühmten Missionsschwester. Darin kamen sie zu dem Ergebnis, in den Armenhäusern des Ordens hätten schlechte hygienische Zustände geherrscht. Sterbenden seien teilweise Schmerzmittel verweigert worden. Die Missionarin sei „alles andere als eine Heilige“, bilanzierte damals der Leiter der Studie, der Psychologieprofessor Serge Larivee von der Universität Montreal. (Quelle: ZEIT)
Weitere Infos und eine kleine Presseschau über Frau Gonxha Bojaxhiu sind hier zu finden.
Mein Fazit
Selbstverständlich wurde und wird auch im vermeintlichen Namen und Auftrag des Wüstengottes Jahwe Gutes getan. Wer das Christentum allerdings für harmlos und die christliche Kirche als irgendwie insgesamt positiv für die Menschheit wahrnimmt, hat sich offensichtlich nicht oder nur einseitig mit ihr auseinandergesetzt.
Allen Rettungsversuchen stehen ungleich größere und gravierendere Vorwürfe aller Art entgegen, die nur meist verschwiegen und vertuscht werden. Bei objektiver Betrachtung lässt sich die (Wunsch-)Vorstellung einer christlichen Kirche, dass sie die der Menschheit von ihrer Entstehung bis heute mehr genutzt als geschadet habe, meiner Meinung nach keinesfalls aufrecht erhalten.
Das ist aber auch ursprünglich gar nicht ihr Selbstverständnis gewesen. Das übergeordnete Ziel ist das Erreichen einer angeblichen posthumen ewigen Herrlichkeit, nicht die Schaffung einer modernen Ethik, die für das friedliche Zusammenleben der Weltbevölkerung taugt. Das muss aber heute das Ziel einer Ethik sein und deshalb haben religiöse Moralismen von Kriegsgöttern aus der Bronzezeit und von Kirchengründern aus dem Vormittelalter ausgedient.
Religionen: Saugefährlich
Als besonders gefährlich schätze ich die Tatsache ein, dass sich mit der der monotheistischen christlichen Lehre und ihrer zugrundeliegenden Schrift bei Bedarf im Handumdrehen auch wieder grausamste, gnadenlose Gewalt gegen Un- und Andersgläubige bis hin zum Völkermord rechtfertigen lässt. Deshalb stimme ich Pfarrer Meurer zu, der Religionen als „saugefährlich“ bezeichnet hat.
Abgesehen davon halte ich Religionen heute schlicht für überflüssig. In unseren heutigen modernen Gesellschaftsordnungen steht kein Gott, sondern die Würde und Freiheit des Menschen an oberster Stelle. Götter haben ausgedient, ihre „Wunder“ sind längst entzaubert. Die natürliche Realität ist um Lichtjahre faszinierender als jeder brennende Dornbusch.
Die Menschheit ist gefordert, die realen Herausforderungen mit realen, wirksamen Mitteln zu meistern, statt sich in religiöse Scheinwelten zu flüchten und auf erfundene Phantasiewesen zu vertrauen oder deren angeblich unergründlichen Willen als Grund für Leid und Elend anzuerkennen.
Aha - Frau Kiess redet sich ein, Ihr Gott meine es gut mit "uns". Schon mal was von der Theodizee-Problematik…