Die Einfärbung der eigenen Interpretation durch die Loyalität zur eigenen Ideologie

Lesezeit: ~ 3 Min.

In einem Facebook-Beitrag stellte Jori Wehner das Experiment des israelischen Psychologen George Tamarin vor.

Der legte über tausend israelischen Schulkindern im Alter von acht bis vierzehn Jahren den Bericht über die Schlacht von Jericho aus dem Buch Josua vor:

  • „ Josua sprach zum Volk : Macht ein Kriegsgeschrei! Denn der HERR hat euch die Stadt gegeben. Aber diese Stadt und alles, was darin ist, soll dem Bann des HERRN verfallen. […] Aber alles Silber und Gold samt dem kupfernen und eisernen Gerät soll dem HERRN geheiligt sein, dass es zum Schatz des HERRN komme. […] Und sie vollstreckten den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, jung und alt, Rindern, Schafen und Eseln. […] Aber die Stadt verbrannten sie mit Feuer und alles, was darin war. Nur das Silber und Gold und die kupfernen und eisernen Geräte taten sie zum Schatz in das Haus des HERRN.“ (Josua 6, 16–24)

„Dann stellte Tamarin den Schulkindern eine einfache ethische Frage :

»Haben Josua und die Israeliten nach eurer Ansicht richtig gehandelt oder nicht ?«

Sie hatten die Wahl zwischen

  • A (völlige Zustimmung),
  • B (teilweise Zustimmung) und
  • C (völlige Ablehnung).

Das Ergebnis war eine starke Polarisierung: 66 Prozent stimmten völlig zu, 26 Prozent äußerten völlige Ablehnung, und nur recht wenige, nämlich acht Prozent, standen mit ihrer teilweisen Zustimmung in der Mitte.

Die folgenden drei Antworten sind typisch für die Gruppe A, die völlig zustimmte:

  • Meiner Meinung nach haben Josua und die Kinder Israel richtig gehandelt, und zwar aus folgenden Gründen: Gott hat ihnen dieses Land versprochen und ihnen erlaubt, es zu erobern. Hätten sie nicht so gehandelt und niemanden getötet, hätte die Gefahr bestanden, dass die Kinder Israel von den Gojim assimiliert worden wären.
  • Nach meiner Ansicht hatte Josua recht, dass er es getan hat. Ein Grund ist, dass Gott ihm befohlen hat, das Volk auszurotten, damit die Stämme Israel nicht von ihm aufgesogen werden und seine schlechten Sitten lernen.
  • Josua hat etwas Gutes getan, denn die Menschen, die in dem Land wohnten, hatten eine andere Religion, und als Josua sie tötete, tilgte er ihre Religion von der Erde.

In allen Fällen wird Josuas Völkermord mit religiösen Gründen gerechtfertigt.

Auch Ablehnung aus religiösen Gründen

Selbst in der Kategorie C derer, die völlige Ablehnung äußerten, wurden in einigen Fällen zweideutige religiöse Gründe genannt. Ein Mädchen lehnte beispielsweise die Eroberung Jerichos durch Josua ab, weil er die Stadt zu diesem Zweck hätte betreten müssen:

  • Ich halte das für schlecht, denn Araber sind unrein und wenn man unreines Land betritt, wird man auch unrein und gerät unter ihren Fluch.

Zwei andere waren nur deshalb nicht einverstanden, weil Josua alles zerstörte, auch Tiere und Eigentum, statt einen Teil davon als Beute für die Israeliten aufzusparen:

  • Ich finde, Josua hat nicht richtig gehandelt; die hätten das Vieh für sich selbst aufheben können.
  • Ich finde, Josua hat nicht richtig gehandelt, denn er hätte das Eigentum von Jericho übrig lassen können. Wenn er das Eigentum nicht zerstört hätte, hätte es den Israeliten gehört.

Das gleiche Experiment machte Tamarin auch mit einer faszinierenden Kontrollgruppe. Eine andere Gruppe von 168 israelischen Kindern erhielt genau den gleichen Text aus dem Buch Josua, nur war hier der Name »Josua« durch »General Lin« und »Israel« durch »ein chinesisches Königreich vor 3000 Jahren« ersetzt.

Jetzt ergab das Experiment das umgekehrte Ergebnis:

Nur sieben Prozent hießen das Verhalten des Generals Lin gut, 75 Prozent lehnten es ab.

Mit anderen Worten: Spielte die Loyalität zum Judentum für die Berechnung keine Rolle, dann schlossen sich die Kinder in ihrer Mehrheit den moralischen Beurteilungen an, für die sich die meisten modernen Menschen entscheiden würden. Josuas Verhalten war barbarischer Völkermord.

Aber aus religiöser Sicht sieht alles ganz anders aus. Und der Unterschied macht sich schon in jungen Jahren bemerkbar. Ob Kinder den Völkermord verurteilen oder gutheißen, hängt einzig von der Religion ab.“ (zitiert aus Dawkins, The God Delusion)

Ich erlebe ähnliche Haltungen im Gespräch mit Gläubigen. Eine Wette wie um die Loyalität Hiobs würden sie für ein unsägliches Verbrechen halten – würde ihre Loyalität nicht ihre ethische Urteilsfähigkeit vollständig lahmlegen.

Den eigenen Sohn zu töten, weil der eigene Gott das befohlen hat –wird plötzlich von der Wahnidee eines Psychopathen zur nobelsten Tat.

Die ethische Urteilsfähigkeit kann durch tribalistische Loyalität vollständig sabotiert werden.

Das betrifft nicht nur Juden – das betrifft fast alle Religionen. Christen argumentieren [mitunter] (gegen ihre üblichen ethischen Instinkte), die Völkermorde im Alten Testament seien ethisch richtig gewesen, um die Ankunft des Messias vorzubereiten.

Muslime argumentieren [mitunter] (gegen ihre üblichen ethischen Überzeugungen), es sei gerechtfertigt gewesen, alls Andersgläubigen in einer globalen Sintflut zu ersäufen usw.

Quelle: Jori Wehner via Facebook
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