Verpasste Chancen – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Bildungsgerechtigkeit

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Verpasste Chancen – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Bildungsgerechtigkeit, verkündigt von Alfred Buß (ev.), veröffentlicht am 1.7.2017 von ARD/daserste.de

Diese Erfahrung hat mich zu einem leidenschaftlichen Verfechter gemacht für Bildungsgerechtigkeit. Jeder Mensch ist von Gott begabt, hat besondere Fähigkeiten und Talente. Davon bin ich überzeugt.*

Da stellt sich mir direkt die Frage:  Hat das mit der Bildungsgerechtigkeit bei Herrn Buß versagt, wenn er bis heute offenbar nicht zwischen religiöser Phantasie und natürlicher Wirklichkeit unterscheiden kann? Und wenn ja, an welcher Stelle?

Weil er davon überzeugt zu sein scheint, dass die Menschen ihre Fähigkeiten und Talente einem bestimmten Wüstengott zu verdanken hätten, den sich die Menschen in der Bronzezeit ausgedacht hatten?

Ausgerechnet dieser eifer-, rach- und kriegssüchtige Gott mit der rückständigen, inhumanen Moral, die auch noch im „Neuen Testament“ immer wieder zum Vorschein kommt? Und der trotz angeblicher Allmacht und Allgüte keine friedlichere und weniger leidvolle Welt als diese erschaffen konnte oder wollte?

Sowas kommt von sowas

Vermutlich erging es Herrn Buß genauso wie wohl den meisten, die heute noch an Götter glauben: Er dürfte – wahrscheinlich vom Säuglingsalter an – mit Fiktionen aus der religiösen Phantasiewelt gefüttert worden sein. Und zwar aus derselben Phantasiewelt, die auch schon seine Eltern, Großeltern usw. als Wahrheit eingeflößt bekommen hatten.

Und diese Indoktrinierung kann so stark wirken, dass es manche Menschen ein Leben lang nicht schaffen, sich davon wieder zu befreien. Zumindest so weit, dass sie zwischen religiösem Wunsch und natürlicher Wirklichkeit unterscheiden können. Mitunter halten sie sogar trotz Theologiestudium am Götterglaube fest.

Damit sie auch geweckt werden, müssen alle Bildungszugang haben. Bildungsgerechtigkeit ist ein altes Thema: „Wie kann man es verantworten, dass man die Leute bisher in so großer Unwissenheit und Dummheit gelassen hat? Mein Herz blutet, wenn ich diesen Jammer erblicke“, schrieb Philipp Melanchthon, ein Mitstreiter Luthers, schon vor 500 Jahren, als er die verbreitete Unwissenheit in den Gemeinden erlebte.

Und mein Herz blutet, wenn jemand Bildung für alle postuliert und im nächsten Satz menschliche Fähigkeiten göttlichem Wirken zuschreibt.

Humanistische Grundlagen – nicht religiöse

Diese Renaissance-Gedanken Melanchtons mögen zu dieser Zeit sicher außergewöhnlich und ihrer Zeit voraus gewesen sein. Jedoch gründeten diese nicht auf religiösen, sondern auf humanistischen Grundlagen:

  • Er [Melanchton] verfolgte den Leitgedanken, dass die Lektüre der antiken Schriftsteller aus den ursprünglichen Quellen durch humanistische Studien zum Quell neuen Lebens und Denkens werden könne. (Quelle: Wikipedia)**

Ohne Unterordnung unter das herrschende religiöse System wäre es seinerzeit kaum möglich gewesen, einen humanistisch und auf antiken, vorchristlichen Werten begründeten Standpunkt zu etablieren. Oder sonst irgendeinen, nicht religiös bezogenen Standpunkt. Es führte also gar kein Weg daran vorbei, solche Gedanken im Rahmen der christlichen Lehre zu entwickeln. Wenn einem sein Leben lieb war.

Und so brachte auch nicht die Reformation von Melanchtons Freund Luther den großen Durchbruch, sondern erst die Säkularisierung im Zuge der Aufklärung.

Damit gute Menschen Böses tun, dafür bedarf es der Religion

Melanchton und BildungsgerechtigkeitDenn so fortschrittlich Melanchtons Einsatz für Bildungsgerechtigkeit aus heutiger Sicht erscheinen mag: Herr Schwartzerdt, wie Melanchton eigentlich hieß, engagierte sich gleichzeitig und trotz allen Fortschritts auch noch für die Verfolgung, Folterung und Ermordung von Andersgläubigen:

  • Im gleichen Jahr verfasste Melanchthon auch die Confessio Augustana, in der die Täufer als Ketzer verurteilt wurden. Ein Jahr später formulierte Melanchthon auf Anforderung des sächsischen Kurfürsten ein ausführliches Gutachten über die Anwendung der Todesstrafe gegen die Täufer. Im Winter 1535/36 war er in Jena auch selbst in einem Prozess gegen eine Gruppe Täufer engagiert, unter denen sich auch der Thüringer Täuferführer Hans Peißker befand. Peißker und zwei weitere wurden schließlich gefoltert und am 26. Januar 1536 enthauptet. (Quelle: Wikipedia)

Es kann kaum erstaunen, dass diese inhumane Einstellung und das Vorgehen gegen Andersgläubige religiös begründet war. Der Physiker Steven Weinberg beschrieb den religiösen Einfluss auf Menschen später wie folgt:

  • Religion ist eine Beleidigung der Menschenwürde. Mit oder ohne sie würde es gute Menschen geben, die Gutes tun und böse Menschen, die Böses tun. Aber damit gute Menschen Böses tun, dafür bedarf es der Religion.
    – Steven Weinberg in einer Rede in Washington, April 1999. (Quelle: freigeisterchen.de)

Diese Diskrepanz zwischen humanistischem Denken einerseits und religiöser Menschenverachtung andererseits legt die Vermutung nahe, dass sich Melanchton nicht wegen, sondern trotz seiner religiösen Bindung für Bildungsgerechtigkeit eingesetzt hatte. Er hatte wohl die Vorstellung, Menschen würden durch mehr Bildung zu Gott finden.

Bildungsgerechtigkeit: Bildung für alle

Wobei er natürlich auch kaum geahnt haben dürfte, dass auch die von ihm propagierte „Bildung für alle“ dazu beitragen würde, dass sein mythologischer Götterglaube später durch ein rationales, fakten- und evidenzbasiertes Weltbild abgelöst werden würde.

Bildungsgerechtigkeit strebt danach, Defizite auszugleichen, den unterschiedlichen Gaben gemäß. Wird einem Kind etwas zugetraut, so weckt das Begabungen und Talente. Leitbild der Reformatoren waren mündige Menschen und mündige Gemeinden.

Über die Mündigkeit im philosophischen Sinne schrieb einst Immanuel Kant (Hervorhebungen von mir):

  • „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ‚Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Quelle: Wikipedia)

Erkenntnis nutzlos, wenn nicht Gott dabei herauskommt

Auch wenn Melanchton den Menschen offenbar mehr Erkenntnis und Wissen zutraute als derzeit üblich, so war er trotzdem überzeugt davon, dass hinter allem göttliches Wirken stehen müsse, das es zu erkennen gelte:

  • „Wenn ich über das gemeinschaftliche Leben nachdenke und mir nachts zuweilen ein Diener  mit einer leuchtenden Laterne vorangeht, dann kommt mir oft in den Sinn, dass die Gemeinwesen der Laterne gleichen, die himmlische Lehre aber dem Licht. Und wie die  Laterne bei Dunkelheit ohne Licht nutzlos ist, so sind auch die festen Mauern der Städte unnütz, wenn die Erkenntnis Gottes und die Lehre von den guten Dingen erlischt.“ Also, was nutzt es, wenn wir uns äußerlich schützen und drinnen ist nix.“
  • „Groß und bewundernswert ist Gottes Schöpfungswerk, jedoch nicht weniger die Wohltat, dass er sich selbst enthüllte und zu den Menschen kam und sich freundlich mit uns unterhielt.“ (Aus einer Rede, die Melanchton für Burkhard Ziegler verfasst hatte. Quelle)

Dass sich durch die Erkenntnisse der Menschen, die es wagten, sich ihres Verstandes „ohne Leitung anderer“ und damit auch ohne theologische Leitung zu bedienen, die Vorstellung eines göttlichen Schöpfungswerkes als obsolete menschliche Fiktion herausstellen würde, hatte Melanchton vermutlich nicht auf dem Schirm.

Denn wer es tatsächlich konsequent wagt, die christliche Glaubenslehre ernsthaft, ehrlich und ohne religiös-vernebelnde Immunisierung zu hinterfragen, wird früher oder später zu einem zumindest agnostischen Standpunkt gelangen.

Mythologisches Weltbild erfordert Denkverzicht

Eine Weltsicht, in der noch Götter, Geister und Gottessöhne für tatsächlich existent gehalten und gar noch als ins Geschehen eingreifend behauptet werden, basiert auf Mythologie und nicht auf Fakten. Sie erfordert einen bewussten oder unbewussten Denkverzicht.

Denn man darf es eben nicht wagen, Götter zu hinterfragen. Ein Christ gilt umso frömmer und tugendhafter, je weniger er die Existenz eines bestimmten Wüstengottes in Frage stellt. Und je mehr er bereit ist, Behauptungen sogar wider Vernunft, Logik und intellektuelle Redlichkeit für wahr zu halten.

Alle, die heute trotzdem noch an Götterglaube festhalten wollen oder, wie im Falle von Herrn Buß berufsbedingt müssen, kommen nicht umhin, in ihrem ansonsten vermutlich rationalen Denken eine Ausnahmeregel für christliche Mythologie einzurichten.

Christen haben meist kein Problem damit, tausende anderer Götter, Geister und sonstige Esoterik meist sehr zuverlässig als „Aberglaube“ oder „Fiktion“ zu durchschauen. Nur die eine Gottheit, an die sie selbst glauben, müssen sie davon ausnehmen. Und daran glauben.

Das bekommen Gläubige erstaunlicherweise sogar unabhängig von ihrem Bildungsstand hin.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag.
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