Harte Zeiten – Das Wort zum Wort zum Sonntag über Erschütterung

Lesezeit: ~ 6 Min.

Harte Zeiten – Das Wort zum Wort zum Sonntag über Erschütterung, verkündet von Pastorin Annette Behnken, veröffentlicht am 9.9.2017 von ARD/daserste.de

[…] Heute ist 9/11 längst zum Symbol geworden. Zum Symbol unserer Verwundbarkeit. Die brennenden Türme, die Asche auf den Straßen und auf den Gesichtern der Menschen – das sind Bilder, die sofort wieder da sind, eine Wunde, die sofort wieder aufreißt, wenn irgendwo in der Welt ein Anschlag passiert.*

9/11 ist auch ein Symbol dafür geworden, welches zerstörerische Potential Religionen – direkt und indirekt – auch im 21. Jahrhundert noch haben können.

2.644 Todesopfer und 3.105 Verletzte durch religiös motivierte Gewalt in einem Jahr

Die Macher des MGEN-Podcasts veröffentlichen in ihren monatlichen Beiträgen einen „Bodycount des Friedens.“ Dabei zählen sie jeden Monat die Opfer religiös motivierter Gewalt:

  • Als Reaktion auf die islamistischen Attentate im Frühsommer 2016, insbesondere in Orlando, Nizza und Istanbul, haben wir im MGEN-Podcast damit begonnen Opfer von religiös motivierter Gewalt zu zählen. Seit dem Beginn unserer Zählung mit dem Massenmord im Nachtclub Pulse in Orlando, Florida am 12. Juni 2016 bis einschließlich dem Selbstmordanschlag der Taliban auf eine Polizeistation in Gardez, Afghanistan am 18. Juni 2017 kommen wir auf einen Bodycount des Friedens von 2.644 Todesopfern und 3.105 Verletzten durch religiös motivierte Gewalt. (Quelle: MGEN)**

Die Angst im Nacken

Seitdem sitzt uns die Angst im Nacken.

Beste Voraussetzung für Heilsverkäufer aller Art, ihre Artikel an den Mann und an die Frau zu bringen. Denn je größer die Angst, desto größer die Bereitschaft, alle möglichen Heilsversprechen dankbar anzunehmen. Und seien sie noch so illusorisch.

Besonders die religiösen Heilsverkünder profitieren von tatsächlich vorhandener Angst. Denn wer fürchtet sich heute schon noch vor zornigen Göttern, Dämonen oder vor der Hölle?

So verschweigt man die eigenen irrealen, erfundenen religiös-mythologischen Angstfaktoren einfach und bedient sich bei den Ängsten, die reale Ursachen haben. So erreicht man auch gleich eine viel größere Zielgruppe…

Wir müssen uns vor Gefahren schützen, das ist das eine. Aber wir dürfen uns nicht abschotten. Wir haben ja die Wahl.

Einmal mehr frage ich mich, was jemand, der nicht bereit ist, die irdische Wirklichkeit als solche anzuerkennen, zu einem politischen Thema wie diesem meint beitragen zu können.

Sich abschotten gegen all das, was sich jenseits all unserer Schutzwälle befindet und was uns möglicherweise erschüttern könnte. Wenn wir das tun, steht unsere Menschlichkeit auf dem Spiel. Denn genau das macht uns Menschen ja menschlich: Dass wir erschütterbar sind.

Nicht nur Menschen sind erschütterbar

Nicht nur Menschen sind „erschütterbar.“ Eigenschaften wie Empathie und Altruismus konnten auch bei etlichen anderen Spezies beobachet und nachgewiesen werden.

Der Begriff „Menschlichkeit“ kann deshalb irreführend sein. Denn auch das genaue Gegenteil von dem, was unter „menschlich“ gemeinhin verstanden wird, kann zum Verhaltensrepertoire von Menschen zählen.

Mir machen in diesen Tagen vor allem Populisten und Despoten Angst, die pöbeln, provozieren und atomar ihre Muskeln spielen lassen. Davor würde ich mich am liebsten schützen, mich verkriechen und nix mehr mitkriegen. Aber das kann’s ja nicht sein, mich innerlich von der Welt jenseits meines Tellerrandes zu verabschieden!

Frau Behnken, Sie haben doch Ihren lieben Gott! Dem Sie am Herzen liegen! Der mit Ihnen mitleidet! Und der es gut mit Ihnen meint! Und dessen Sohn sich zu Tode hatte foltern lassen, um Sie von Ihrer Sünde zu befreien!

Nach Ihrem Tod erwartet Sie ewige himmlische Herrlichkeit (nach evangelischer Auffassung müssen Sie nicht mal was dafür tun) – und da machen Sie sich Sorgen über das nichtige, flüchtige Elend hienieden? Was stimmt mit diesem Rundum-Sorglos-Paket nicht? Ist Ihr Glaube nicht unerschütterlich?

Der Gott der Bibel: Schwer erschüttert

Nein. Ich möchte, dass wir erschütterbar bleiben. Dass wir das sind, ist ein Geschenk. Ein göttliches Geschenk. Der Gott der Bibel ist ein Gott, der sich erschüttern lässt. Und uns hat er nach seinem Bild geschaffen. Als erschütterbare Wesen. Die mitfühlen können. Die etwas bis ins Mark treffen kann.

Frau Behnken, angenommen, Sie würden aus Quellen, die Sie als zuverlässig einschätzen erfahren, dass die Fähigkeit, mitfühlen zu können, in Wirklichkeit ein Ergebnis der evolutionären Entwicklung ist. Eine Eigenschaft, die für eine bestimmte Trockennasenaffenart, aber auch für andere Lebewesen ab einer bestimmten Entwicklungsstufe einen Überlebensvorteil bedeutet hatte. Würden Sie dann Ihre Vorstellung, es handle sich dabei um ein Geschenk eines bestimmten Gottes weiter aufrecht erhalten?

Der Gott der Bibel ist ein Gott, den so schnell nichts erschüttern kann. Ein feste Burg! Nicht auf Sand gebaut! Was sollte das einzige allmächtige Wesen denn schon erschüttern können?

Erschütterungen sind Gott fremd. Vielmehr hat der biblische Gott verblüffende Ähnlichkeit mit einem eifer-, kriegs- rach- und streitsüchtigen Psychopath. Er wird beschrieben wie ein starker, allem überlegener Führer, wie sich ihn ein kleines Wüstenvolk in der Bronzezeit offenbar sehnlichst herbeigewünscht und in der Folge herbeifabuliert hatte.

Buchtipp zum biblischen Gottesbild im Alten Testament: Heinz-Werner Kubitza: Der Glaubenswahn – Von den Anfängen des religiösen Extremismus im Alten Testament

Und auch im „Neuen Testament“ wirds keinen Deut besser: Hier macht Gott seine Gnade einzig davon abhängig, ob jemand bereit ist, sich ihm, gefälligst vollständig, zu unterwerfen (zusammengefasst z.B. bei Mk 16,16).

Der Gott der Bibel ist also eine bestenfalls bemitleidenswerte Kreatur (kreiert von wem eigentlich?). Ein Gott, der trotz angeblicher Allmacht, Allwissenheit und Allgüte nicht in der Lage oder Willens war, eine friedlichere und weniger leidvolle Welt als diese zu erschaffen.

Gott leidet mit? Ja und?

Nicht um Gottes-, sondern um der Mitmenschen und Umwelt willen und natürlich im eigenen Interesse gilt es, sich den Herausforderungen unserer heutigen Zeit zu stellen. Und zwar unabhängig davon, ob und wenn ja welche Götter jemand für wahr hält.

Finden Sie es nicht auch seltsam, dass sich die Welt, wie sie sich uns täglich präsentiert, so gar nicht einer Welt entspricht, wie man sie von einem allmächtigen und allgütigen Schöpfergott erwarten würde?

Wenn sich Ihr Gott, wie Sie es beschreiben, von menschlichem Leid „erschüttern“ lässt, wie stellen Sie sich das konkret vor? Er beobachtet tatenlos das Treiben und ab und zu, wenn die Erschütterung groß genug ist, hört man mal ein leises „ouuu“, „hoppla“ oder „autsch!“ ? Kommt Ihnen das nicht genauso absurd vor wie mir?

Der Unterschied zwischen Ihrer religiösen Phantasiewelt und der tatsächlichen Welt: Das, was hier geschieht, geschieht wirklich. Das, was für Erschütterung sorgt genauso wie die Dinge, die ohne Leid und Schmerz verlaufen. Die Vorstellung eines mitleidenden Gottes mag für Sie vielleicht irgendwie tröstlich sein. Mit der irdischen, natürlichen Wirklichkeit hat dies nichts zu tun.

Bis zum Beweis des Gegenteils können Sie getrost davon ausgehen, dass Ihr Gott es allen anderen Göttern, Geistern und sonstigen Phantasiegestalten gleich tut. Und auch weiterhin wie bisher durch Abwesenheit und Nichtstun glänzt. Statt zum Beispiel seine angebliche ach so menschliche Erschütterung zum Anlass zu nehmen, irgendetwas an seinem allmächtigen Schöpfungsplan zu ändern.

Wir erinnern uns: Der biblische Gott hatte schon mal seine Schöpfung fast komplett ertränkt, weil er sie völlig verpfuscht hatte. Und auch beim nächsten angekündigten und erwarteten Eingriff wirds wieder Erschütterung deluxe geben. Laut Bibel.

Jahwes Mitleid ist genauso viel wert wie das von Zeus, der Zahnfee oder vom Tapferen Schneiderlein.

Erschütterung macht das Leben intensiv

Ich glaube, wir können nicht gut leben ohne solche Erschütterbarkeit.

Wie schon oben geschrieben: Hätte sich das, was Sie als „Erschütterbarkeit“ bezeichnen nicht evolutionär bewährt, hätte sie sich sicher nicht ausgeprägt. Das ist aber keine Glaubensfrage, sondern eher eine Frage sozio-kultureller Entwicklung.

Das hat was mit Leidenschaft zu tun. Leidenschaft für‘s Leben. Wer leidenschaftlich lebt, riskiert, dass er bis ins Mark getroffen, bis in die Herzfasern erschüttert werden kann. Das kann wehtun. Aber vor allem macht es das Leben intensiv, diese Liebe zum Leben, zu seiner Schönheit, zu seiner Vielfalt, auch zu seiner Verletzlichkeit.

Alle Menschen, die tatsächlich schon mal „bis ins Mark getroffen, bis in die Herzfasern erschüttert“ wurden, werden Ihnen für diese Erkenntnis danken. Jetzt wissen sie, dass das dies ein tröstliches Zeichen von Leidenschaft ist, die ihr Leben intensiv macht.

Hat das Entsetzen über 9/11 das Leben der betroffenen Überlebenden demzufolge auch intensiver gemacht? Das Leben derer, die leidenschaftlich ihre Angehörigen vermissen, die von religiös motivierten Irren ermordet worden waren?

Erst erschüttert sein und dann einmischen

Und: Erschütterbarkeit ist eine hochpolitische Haltung. Daraus entsteht Einsatz. Sich einmischen in die Welt. Und das brauchen wir!

Nochmal die Frage: Wie mischt sich jemand, der in einer religiös erweiterten Scheinwirklichkeit lebt, effektiv in die Welt ein? Jemand, der meint, Menschen würden sich deshalb mitmenschlich verhalten, weil sie ein Götterwesen, das sich Menschen in der Bronzezeit ausgedacht hatten mitmenschlich geschaffen habe? Eine solche Idee könnte man als Erschütterung des Verstandes und der intellektuellen Redlichkeit auffassen.

Absurde Vorstellungen aller Art seien Ihnen freilich gerne zugestanden. Aber hier geht es um die irdische Wirklichkeit im 21. Jahrhundert. Und beliebig interpretierbare Wüstenmythologie halte ich für keine brauchbare Grundlage zur Lösung politischer Aufgaben.

Wenn Sie sich wirksam in die Welt einmischen wollen, könnten Sie zur Gestaltung einer offenen und freien Gesellschaft beitragen. Das tun Sie schon? Wieso erzählen Sie dann nichts darüber, sondern über orientalische Wüstengötter? In einer solchen offenen und freien Gesellschaft können Sie dann auch weiterhin gerne jeden beliebigen Gott verehren, der Ihnen verehrungswürdig erscheint.

Denn im Grunde geht es ja um die Frage, von was wir uns beherrschen und von wem wir uns regieren lassen wollen. Wieviel Macht geben wir der Angst? Und wie schaffen wir es, menschlich zu bleiben?

Mir erscheint dieses „Wort zum Sonntag“ einmal mehr eher wie die Frage: „Wie schaffe ich es diesmal, die Sendezeit mit irgendetwas zu füllen, mit dem ich in einem möglichst aktuellen Thema ein paar weichgekochte, leicht verdauliche Häppchen Religion möglichst unverfänglich unterbringen kann?“

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag.
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