Kluge Köpfe – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Marx, verkündigt von Benedikt Welter, veröffentlicht am 05.05.2018 von ARD/Daserste.de
Das heutige „Wort zum Sonntag“ trägt den Titel „Köpfe.“ Im Untertitel des zugehörigen Videos lautet der Titel „Kluge Köpfe.“ Ich fände es mal interessant zu erfahren, ob sich irgendwer an dem Attribut „klug“ im Rahmen einer christlichen Verkündigungssendung über Karl Marx gestört hatte oder warum sonst die Klugheit im Titel fehlt.
[…] Karl Marx – ein nach wie vor umstrittener Männerkopf. Weniger wegen der vielen Haare im Gesicht. Mehr wegen seiner Gedanken. Und vielleicht noch ein bisschen mehr wegen dem, was andere nach ihm aus diesen Gedanken gemacht haben. Wie Gedanken gedacht werden, ist wichtig. Wie sie weiterverwendet werden, ist das Entscheidende. Das klingt ein bisschen wie von Karl Marx, ist aber von mir.
Eine, wie ich finde interessante Differenzierung: Jemand (in diesem Fall Karl Marx) hatte grundsätzlich gute Ideen, die später aber auch zu Leid und Unrecht geführt hatten.
Das kennen wir ja nicht nur von politischen, sondern auch von religiösen Ideologien. Die sich, abgesehen von der Besetzung des Chefpostens, praktisch kaum voneinander unterscheiden.
Marx vs. Jesus
Wie kaum anders zu erwarten, vergleicht Herr Welter im Folgenden Marx, dessen Vorstellungen und das, was Menschen später daraus machten, mit seinem eigenem göttlichen Heilsbringer:
[…] Das mit dem Neuen Menschen hat Marx aus der Bibel geklaut. Aber in der Bibel entsteht der Neue Mensch weder durch Kampf noch durch Selbstoptimierung. Und auch nicht dadurch, dass alle Werte gewaltsam umgestürzt werden.
Wer jetzt erwartet, dass Herr Welter an dieser Stelle passend- und ehrlicherweise einräumt, dass die biblische Botschaft auch zu einer beispiellosen 10bändigen Kriminalgeschichte des Christentums geführt hatte, wird enttäuscht.
Kein Wort verliert Herr Welter darüber, dass Millionen von Menschen von Christen im vermeintlichen Namen und Auftrag ihres lieben Gottes und dessen Sohn ausgebeutet, erniedrigt, verfolgt, gequält und ermordet worden waren.
Gerade in Analogie zum Beispiel Marx, dessen Ideen Welter ja, anders als das, was später daraus gemacht worden war, nicht als grundsätzlich falsch aufzufassen scheint, hätte man hier erwarten können, dass der Pfarrer auf die Parallele zu der von ihm vertretenen Ideologie hinweist: Die aus seiner Sicht wohl grundsätzlich guten Ideen von Jesus und was die Menschen später daraus machten (und bis heute machen).
…da ist für jeden was dabei
Wie Gedanken gedacht werden, ist wichtig. Wie sie weiterverwendet werden, ist das Entscheidende. Entscheidend finde ich auch, wie sie weiterverwendet werden können. Denn mit derselben „Heiligen Schrift“, aus deren hauchdünnen ethisch heute noch brauchbaren Legierung Herr Welter seine Rosinen pickt, begründen auch heute noch Fundamentalisten ihre katastrophalen Ansichten, die mit den Vorstellungen von Herrn Welter vermutlich nichts gemein haben.
Kein Wunder: Die „Heiligen Schriften“ monotheistischer Religionen bieten mehr Auswahl als eine Tüte HARIBO® COLORADO® – und selbst da ist schon „für jeden was dabei.“ Ein Grund, warum das Christentum moralisch orientierungslos ist, ist genau diese völlige Beliebigkeit seiner textlichen Grundlage. Das Spektrum reicht von Feindesliebe bis Genozid. Gott will es.
Aber sind die Legenden, die die unbekannten Bibelschreiber über ihren Romanhelden zusammengeschrieben hatten, tatsächlich so harmlos, friedfertig und humanistisch, wie Herr Welter sein Publikum wohl Glauben machen möchte?
In der Bibel ist der Neue Mensch Gottes Geschenk an den Menschen. „Ihr seid eine neue Schöpfung“, sagt Paulus. Dafür steht ein anderer Mann, der übrigens auch oft mit Haaren im Gesicht dargestellt wird. Der ist am Kreuz gestorben. Und zugleich hat Gott ihm neues Leben geschenkt. Auferstehung nennen wir das. Neues Leben.
Menschenopfer nennen wir das. Das Menschenopfer eines Gottes, der sich seinen eigenen Sohn (bzw. sein eigenes zweites Drittel) zu seiner eigenen Besänftigung stellvertretend für die Sünden seiner Anhänger temporär zu Tode hatte foltern lassen. Um diesen Anhängern so seine Liebe zu beweisen.
Auch bei der Neuschöpfung: Voll verschöpft
Wie auch bei seiner übrigen Schöpfung hatte sich Gott auch bei der Schöpfung seiner „Neuschöpfung“ ganz offensichtlich und umfassend verschöpft.
Denn solange diese „neue Schöpfung“ in Form von gläubigen Christen an der Macht war, hatten die neuen Christenmenschen ihre angeblich göttlich legitimierte, aber freilich nur rein politisch erlangte Macht in erster Linie dazu genutzt, um für unvorstellbar viel Leid und Elend zu sorgen.
Neu im Sinne von besser wurde es erst, nachdem die Kirche durch Aufklärung und Säkularisierung weitgehend entmachtet worden war. Und nachdem Menschen erkannt hatten, dass dieses göttliche Geschenk lediglich eine menschliche Fiktion ist. Genauso wie Gott selbst. Dessen einzige Entschuldigung sein kann, dass er nicht existiert.
Ein neues Leben, das Gott für jeden Menschen bereit hält!
Was genau ist hier mit „neues Leben“ gemeint? Sicher nicht die Würde und Freiheit des Individuums. Sondern vielmehr die vollständige Unterwerfung unter den Wetter-Berge-Wüsten-Kriegs-Rache-Lieben-Gott Jahwe, Exgemahl der Göttin Aschera. Denn in der gleichen Bibelstelle, in der von der „neuen Schöpfung“ die Rede ist, erfahren wir auch (Hervorhebung von mir):
- Er [Jesus, Anm. von mir] ist aber für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde. (2. Kor 5,15 EU)
Selbstaufgabe statt Selbstbestimmtheit. Unterwerfung statt Befreiung. Jenseits statt Diesseits.
Heruntergekommen nach ganz ganz unten
Jesus war kein Wirtschaftsjunkie, kein Proletarier, kein Bourgeois. Er war ein jüdischer Wanderprediger und – für mich – Gottes Sohn.
Göttersöhne sind – für mich – genauso real wie alle anderen erfundenen Romanhelden auch. Einschließlich aller anderen Göttersöhne. Von denen viele frappierend ähnliche Biographien vorzuweisen haben wie der christliche Gottessohn. Beziehungsweise umgekehrt.
Gott selbst, heruntergekommen von ganz ganz oben nach ganz ganz unten. Der Neue Mensch. Da gilt jeder einzelne Mensch und nicht das Kollektiv. Der Neue Mensch.
Erstmal gibts 5 Euro in die Wortspielkasse für „heruntergekommen“… Da gilt jeder einzelne Mensch? Eben gerade nicht. Das einzige Kriterium, von dem Gott sein Erlösungsversprechen abhängig macht, ist die unbedingte Anerkennung seiner göttlichen Allmacht, zum Ausdruck gebracht durch die Angehörigkeit an das „richtige“ Glaubenskollektiv:
- Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verurteilt [in anderen Übersetzungen: „verdammt“] werden. (Mk 16,16 EU)
Was der einzelne Mensch tut und wie es ihm geht, spielt letztlich keine Rolle. Hauptsache, er ist bereit, sich dem richtigen Gott zu unterwerfen. Dadurch wird er Teil des Glaubenskollektivs.
Wir sind die Guten, die Neuen, von Gott Auserwählten. Ihr seid die Verurteilten und Verdammten, weil ihr unseren Gott nicht anerkennt.
Ingroup – Outgroup
Das monotheistische ingroup-outgroup-Konzept hatte seine hervorragende Eignung zur Abgrenzung von Menschen aufgrund eines rein fiktiven Kriteriums (Glaube an den „richtigen“ Gott) seit jeher erschreckend eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Und bis heute spielt diese Zugehörigkeit aus Sicht der Kirche eine wichtigere Rolle als das, was einen Menschen sonst so auszeichnet.
Zum Beispiel, wenn es um die Besetzung von Arbeitsstellen in kirchlichen Einrichtungen geht. Da zählt das „richtige“ kollektive Glaubensbekenntnis mehr als die individuelle, persönliche Qualifikation. Auch davon ist bei Herrn Welter freilich mit keinem Wort die Rede.
Da bewahrt der Glaube an Gott davor, sich selbst als Mensch ständig neu erfinden zu müssen. Oder dass er sich das Paradies selbst erschaffen muss.
Was besagt dieser, auf den ersten Blick harmlos klingende Satz wirklich? Er besagt, dass Menschen ihre Lebenszeit nicht damit verbringen sollten, nach einem glücklichen und erfüllten Leben zu streben. Zum Beispiel, indem sie etwas gegen Missstände unternehmen, statt diese klaglos hinzunehmen, weil sie darauf vertrauen, nach ihrem Tod dafür belohnt zu werden. Statt Energie mit Nachdenken zu vergeuden, sollen sich Menschen lieber mit dem Fürwahrhalten eines übernatürlichen Himmelsmagiers zufrieden geben.
Willkommene Denkbefreiung
Menschen, die dies tun, empfinden ihren Glauben nur selten als verordneten Denkverzicht. Sondern meist vielmehr als willkommene Denkbefreiung.
Dieser Satz vom Sich-selbst-Neuerfinden und vom Paradies zeugt einerseits von Fatalismus und andererseits von unglaublicher Überheblichkeit.
Menschen müssen sich gar nicht ständig neu erfinden. Aber sie können und dürfen – wenn sie in offenen und freien Gesellschaften leben.
Die Freiheit, sich als Mensch ständig neu erfinden zu können, ist nach Ansicht von Herrn Welter etwas, vor dem Menschen von Gott bewahrt werden müssen: Du glaubst an den richtigen Gott, das genügt. Deine Lebensumstände sind katastrophal, die Erde als Biosphäre für Lebewesen ist in Gefahr? Macht nix, Gott hält ein Paradies für dich bereit, sobald du dieses Jammertal verlassen haben wirst. Wenn du zu Lebzeiten die irdischen Vertreter des richtigen Gottes unterstützt hast.
Auch biblisch lässt sich diese Irreführung problemlos untermauern. Sklaven werden da aufgerufen, ihrem weltlichen Herren gegenüber genauso unterwürfig zu sein, wie sie es Gott gegenüber sind. Und zwar auch dann, wenn Ersterer ein unmenschlicher Ausbeuter ist.
Jesus himself forderte seine Sektenmitglieder auf: Kümmert euch nicht um irdische Belanglosigkeiten wie Essen, Kleidung und Wohnung und sammelt keine Schätze auf Erden – euer Gott kümmert sich um euch! Und nach euerem Tod wird er euch dann belohnen und eure Feinde angemessen bestrafen. Das ist auch der Hintergrund der Friedensappelle des Gottessohns: Vertragt euch untereinander, auch mit denen eurer Glaubensbrüder, die ihr nicht leiden könnt. Daraus konstruierten Kirchenvertreter später die Feindesliebe, auf die sie so stolz sind.
Für den Klerus der Kirche, die aus dieser Lehre entstanden war, gelten diese Anweisungen offenbar nicht, schaut man sich die sehr irdischen Schätze an, die dieser Klerus im Lauf der Jahrhunderte in unvorstellbarem Umfang zusammengetragen, -ergaunert und -geraubt hat.
Selbstgemachte Paradiese
Ein Ergebnis solcher selbstgemachten Paradiese sehen wir im 20. Jahrhundert: in Konzentrationslagern oder in Archipel Gulags.
Und die Ergebnisse des fiktiven christlichen Erlösungs- und Paradiesversprechens sehen wir in der bereits erwähnten, 5000 Seiten starken Kriminalgeschichte des Christentums.
Eins darf es in der Wahrnehmung von Menschen wie Herrn Welter offenbar überhaupt nicht geben: Dass Menschen mit ihren Mitteln und Möglichkeiten erfolgreich nach einem glücklichen und erfüllten Leben im Diesseits streben. Die dabei vielleicht sogar noch die Welt ein bisschen besser machen, zumindest aber nicht anderen dadurch schaden. Und das alles ohne Einbeziehung fiktiver übernatürlicher Himmelswesen.
Gerade im Moment befindet sich die Menschheit in einer Übergangsphase, wie sie breiter gefächert kaum sein könnte. Während sich die einen noch archaischen Wüstengöttern aus der Bronzezeit unterwerfen und versuchen, zu ihrem Vorteil auch andere Menschen mit ihrem absurden und unmenschlichen Jenseits-Belohnungs-Bestrafungskonzept in die Irre zu führen, kennen die Algorithmen künstlicher Intelligenzen das Verhalten von Menschen schon heute besser als sie selbst.
Dass trotz vielfältigen Konflikten und großen Leids heute die Welt eine wesentlich friedlichere ist als früher, verdanken wir weder religiösen, noch politischen Ideologien, zu deren Heilsplan die Bekehrung bzw. Vernichtung vermeintlicher Feinde gehört. Herr Welter, was meinen Sie: Wem oder was haben wir es zu verdanken, dass wir heute hierzulande so frei und selbstbestimmt leben können?
Die Werte offener und freier Gesellschaften
Das verdanken wir den Menschen, die sich für die Werte eingesetzt hatten und täglich einsetzen, auf deren Grundlage offene und freie Gesellschaften entstehen können.
Zu diesen gehört auch das „TeamFreiheit“, das auf seiner Webseite diese Kurzerklärung bietet:
Der Ursprung des humanistischen Menschenbildes geht zurück auf die Antike in Griechenland und es wurde in der Renaissance, der Wiedergeburt der Antike, wieder aufgegriffen und weiterentwickelt.
Die Grundlage unserer heutigen Weltbildes ist:
- der Wert des einzelnen Menschen (humanistisches Denken)
- der Wert aller Menschen (Menschenrechte)
Die Europäische Hochkultur entstand in 6 Entwicklungsstufen, die den 6 grundlegenden Werten entsprechen. Diese Werte sind:
Das Ergebnis über Jahrhunderte hart erkämpften Errungenschaften und Werte in Europa ist ein voll entwickeltes humanistisches Weltbild, das die Basis für unsere heutige Hochkultur bildet.
(Quelle: teamfreiheit.info)
Denken statt glauben
[…] Ich wünsche mir Köpfe, die lieber selber denken als auf kolossale Betonköpfe und Denkmale zu starren.
Oder auf Kreuze. Und auf Pfarrer, Priester, Bischöfe und andere Kirchenverkünder, die versuchen, Menschen mit absurder Wüstenmythologie aus der Bronze- und Eisenzeit zu ihrem eigenen Nutzen in die Irre zu führen.
Ja, und ich wünsche mir etwas von dem Neuem Menschen, der Gottes Liebe immer mehr zutraut, als dem, was er oder sie selbst machen und selbst ausdenken kann.
Und ich wünsche mir immer mehr neue Menschen, die Gottes Liebe als den wohl größten Betrug aller Zeiten durchschauen. Die realisieren, dass sie selbst gefordert sind, diese Welt besser, friedlicher, gerechter zu machen.
Köpfe, die sich ihres kritisch-rationalen Verstandes bedienen und die sich selbst immer mehr zutrauen. Weil ihnen bewusst geworden ist, dass es Göttern, sollte es sie geben, ganz offensichtlich völlig egal ist, was die Menschheit hienieden veranstaltet. Und dass sämtliche Versprechen und Drohungen, die sich auf ein „Jenseits“ beziehen, völliger Humbug sind.
Köpfe, die das von Religionen propagierte Modell des frommen „Für-Wahr-Haltens“ unbewiesener und unbeweisbarer Dogmen und Behauptungen durch eine kritisch-rationale, ergebnisoffene Sichtweise ersetzen.
Wenn das nicht revolutionär ist.
Dann gehen Sie doch gleich mal mit gutem Beispiel voran, Herr Welter! Revolutionieren Sie Ihre religiös-mythologische Weltsicht! Zum Beispiel, indem Sie in Ihrem nächsten „Wort zum Sonntag“ mal diese 10 Fragen beantworten!
*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag über Marx vs. Jesus.
Marx hat aus der Bibel gar nix geklaut, Herr Welter.
Wenn das stimmen würde, dann hat er auch die Idee von der Sklavenhaltergesellschaft aus der Bibel „geklaut“.
Die Bibel war ihm im besten Fall eine Blaupause für seine radikale Religionskritik.
Und wie beliebig und widersprüchlich die theologische Nomenklatur gehandhabt wird, ohne dass derjenige, der sie benutzt, dabei rot wird, erkennt man z. B. am Begriff Individuum.
Einerseits verurteilt Herr Welter das böse Kollektivistische in den gottlosen Ideologien, andererseits gibt es kaum ein Bild, das so durchgängig wie kaum ein anderes zur Charakterisierung des Verhältnisses der gläubigen Menschen zu ihrem Erlöser bemüht wird wie das von den Schafen und ihrem Hirten.
Ausgerechnet Schafe!!!
Schafe sind das Sinnbild für das genaue Gegenteil von Individualität und Freiheit.
Der Gläubige als Schaf ist der Traum jedes religiösen Machthabers.
Wussten Sie das nicht, Herr Welter?
Das Denken wird am Gatter abgegeben, und irgendwann später wird man dann zur Schlachtbank geführt.
Ende, aus, Mickey Maus.
Aber Herr Welter gehört ja nicht zu den Schafen, er hat ja Prokura vom Oberhirten.