#wirsindmehr – das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 6 Min.

#wirsindmehr – das Wort zum Wort zum Sonntag gesprochen von Elisabeth Rabe-Winnen (ev.), veröffentlicht am 8.9.2018 von ARD/daserste.de

[…] Davor war dort Schreckliches sichtbar. Ein getöteter Mann. Fremdenfeindliche Demos. Hassparolen. Ich bin erschrocken darüber. Und mein Erschrecken hört nicht auf. Über das, was Menschen einander antun. Über das, was in uns wohnt, in anderen, die Mensch sind wie ich! Ich werde es nie fassen können, dass ein Mensch dem anderen zum Wolf wird.*

Ja, manchmal müsste man als Christ/in schon ins Grübeln kommen, wie das Verhalten mancher Menschen zu der Wunschvorstellung passen kann, der Mensch sei das Ebenbild eines lieben Gottes. Eine höher entwickelte Trockennasenaffenart, die der allmächtige Allgütige, der als „bedingungslose Liebe“ imaginiert wird nach seinem Vorbild geschaffen haben soll.

Die in diesem Zusammenhang von der biblisch-christlichen Lehre zur Verfügung gestellten Erklärungen – das Apfeldiebstahlsdelikt und/oder die Existenz eines wirkmächtigen göttlichen Widersachers – dürften selbst für die meisten Christen (abgesehen von den Fundamentalisten natürlich) kaum noch glaubwürdig sein.

Aber diese Frage stellt sich Frau Rabe-Winnen offenbar nicht. Sie belässt es erstmal dabei, erschrocken zu sein über die Schlechtigkeit der anderen Menschen.

#wirsindmehr

Und zugleich bin ich froh, dass sich nun Menschen auf den Weg machen. Ihre Mit-Menschlichkeit zeigen. Auf die Straßen gehen. Farbe bekennen und Gesicht zeigen zum Hashtag „wirsindmehr“. Es kommt auf jeden und jede an. In dieser entscheidenden und heiklen Zeit. Es geht um unsere Haltung, um unser Mensch-Sein selbst, in dem wir spielen, lieben, arbeiten, altern. Und darum kann auch ich hier nicht schweigen. Weil es uns ganz betrifft. Das Mensch-Sein eint uns. Und doch ist Mit-Menschlichkeit nicht selbstverständlich. Muss gegen Menschenverachtung demonstriert werden. Nicht nur auf den Straßen und mit Konzerten. Sondern genau da, wo ich stehe.

Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Auch ich halte es für erforderlich und sinnvoll, sich für eine offene und freie Gesellschaft einzusetzen. Dazu gehört auch, die Grenzen der Toleranz zu definieren und sie zu verteidigen.

Fest und nicht blauäugig glauben

Allerdings brauche ich dazu keine Einbildungen, wie sie Frau Rabe-Winnen im Folgenden so schildert:

[…] Ich stehe ein für etwas. Ich glaube an: Eine Kraft, die größer ist als ich. Und alles schaffen kann. Ich bin überzeugt, dass das Göttliche in uns siegt. Daran glaube ich fest und nicht blauäugig. Ich will Menschenfreund sein. Denn Gott hat die Menschen geschaffen. Und als Christin glaube ich: Gott zeigt sich als Mensch. Als Mensch wie Du und ich. Und dieser Gott mit dem Gesicht der Menschen – stirbt. Und dann steht er auf – ersteht er auf.

Nun könnte man freilich einwenden: Es ist doch egal, was sich Frau Rabe-Winnen zusammenphantasiert und einbildet. Wenn sie diese Vorstellungen benötigt, um zu wissen, wie sie sich verhalten sollte – wieso nicht. Lass‘ sie doch ein bisschen aus ihrer evangelisch-blumig-religiös vernebelten Mythologie schwurbeln. Hauptsache, sie verhält sich mitmenschlich und fair.

Dass sie sich damit selbst ein Armutszeugnis ausstellt, weil sie in der irdischen natürlichen Wirklichkeit offenbar nicht hinreichend gute Gründe findet, wegen derer sie sich mitmenschlich verhalten sollte, ist schließlich ihr eigenes Problem.

Genauso, wie es ihr Problem ist, sich eine Ausrede dafür einfallen lassen zu müssen, warum ihr Gott, täglich beobachtbar, nicht nur Menschenfreunde, sondern auch ausgeprägte Arschlöcher aller Art erschaffen hat.

Das Mensch-Sein eint uns. Punkt.

„Das Mensch-Sein eint uns“, hatte Frau Rabe-Winnen geschrieben. Das sollte als Grund, sich mitmenschlich und fair zu verhalten, doch ausreichen.

In dem Moment, wo die biblisch-christliche Lehre ins Spiel kommt, sind der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Denn auf eben diese Lehre berufen sich auch Menschen, die damit zu ganz anderen Schlüssen kommen als Frau Rabe-Winnen.

„Auge um Auge, Zahn um Zahn!“, skandierten Neonazis gerade erst in Köthen (Quelle: deutschlandfunk.de). Diese archaische Rachephantasie stammt aus der Bibel, zu finden bei 2. Mo 21,24.

Die Bibel gilt für Christen als das „Wort Gottes“, also als die von Gott himself „geoffenbarte“ „Wahrheit.“ Ob das den Nazis bekannt oder bewusst ist, ist freilich schwer zu sagen.

Frau Rabe-Winnen, woran machen Sie fest, dass diese Aufforderung zur gnadenlosen Rache heute nicht mehr gelten soll? Sie steht genauso in der selben Bibel, auf deren Gott auch Sie sich berufen, wie die Stellen, die Sie für bedeutsam und gültig halten. Und nein – Jesus hatte im Neuen Testament das Alte Testament nicht aufgehoben. Sondern sogar noch verschärft (Mt 5, 17-22).

Politisches Handeln an christlicher Überzeugung und christlichem Sittengesetz ausrichten

Meme Seehofer #wirsindmehrEin Einzelfall? Nein – symptomatisch. Einer, der sich zweifellos ganz bewusst und ausdrücklich auf seinen christlichen Glauben beruft, ist der Bierzeltredner und Innenminister Horst Seehofer. Der sich darüber freut, wenn jemand straffällig wird:

  • Und ich bin auch froh über jeden, der bei uns in Deutschland straftätig wird – straffällig – und aus dem Ausland stammt. Auch die müssen das Land verlassen. Ich sage grade in Anwesenheit Ihres Pfarrers und als Vorsitzender einer christlichen Partei: Wir sind keine Politiker, die jeden Tag frömmeln. Wir sind Politiker, die ihr politisches Handeln ausrichten nach der christlichen Überzeugung, dem christlichen Sittengesetz und dem katholischen und evangelischen Katechismus. Deutschland , und Bayern allemal, ist christlich geprägt und ist nicht vom Islam geprägt, meine Damen und Herren!“ (Quelle: br.de – Horst Seehofer in einer Rede vom 2.8.2018 in Töging)

Dass sich mit der christlichen Ideologie praktisch jeder beliebige Standpunkt „rechtfertigen“ lässt, zeigt nicht zuletzt auch ein Blick in die 10bändige Kriminalgeschichte des Christentums. Die Zeit, als das Christentum noch unter dem Hashtag #wirsindmehr unterwegs war (bzw. gewesen wäre, wenn es damals schon Hashtags gegeben hätte), ist als das finstere Mittelalter in die Menschheitsgeschichte eingegangen. Oder auf die Rolle der christlichen Kirchen während der Nazidiktatur.

Konfessionsübergreifendes Phänomen

Das Phänomen ist dabei nicht religions- oder konfessionsgebunden. Als letztes Beispiel sei auf das Buch Evangelisch. Erfolgreich. Wirtschaften. verwiesen. Hier finden sich 35 Beispiele dafür, wie biegsam der christliche Glaube ist, wenn es darum geht, das eigene Verhalten christlich zu „legitimieren“. In seiner Buchvorstellung auf hpd.de bringt es Klaus Ungerer so auf den Punkt:

  • […] Davon abgesehen, scheint die mildtätige, verständnisvolle, gütige Schöpfergottheit, die zwar in der Bibel nicht, dafür aber in der evangelischen Propaganda umso häufiger vorkommt, doch sehr, sehr viel Verständnis für alle zu haben, in deren Morgengebet sie auftaucht. Da kann jemand die Privatversicherer als solidarisches Modell anpreisen, kann jemand als Banker genau das tun, was den Heiland im Tempel zur Weißglut brachte, da kann jemand Fracking gut finden und den Chemieriesen BASF als ökologisches Unternehmen sehen – schon okay. Alles ist gut. Denn da ist ja Gott. Gott aber hat diese Männer (und ein paar Frauen) als sein Abbild geschaffen, und indem sie ihn lieb haben, haben sie sich selbst ganz doll lieb und erzeugen gleichzeitig massiven himmlischen Zuspruch zu sich, eine Wertschöpfung ist das! Damit kann man es schon gut aushalten auf dieser Erde, ganz egal, was man beruflich so treibt. (Quelle: hpd.de – Klaus Ungerer: Macht euch also keine Sorgen)

Was ist von einer „Lehre“ zu halten, wenn sich Menschen mit diametral unterschiedlichen Wertevorstellungen expressis verbis auf ein und dieselbe Lehre berufen? Gleiches gilt natürlich nicht nur für unterschiedliche Konfessionen. Sondern für praktisch alle (monotheistischen) Religionen.

Eingebildete göttliche Superpower

Als Christin glaube ich an diese Kraft, die größer ist als ich. Und die Gott in jeden gelegt hat. Mit dieser Kraft stehe ich auf und gehe. Das hält mich.

Genau das Gleiche können Menschen mit grundlegend anderen Ansichten als die von Frau Rabe-Winnen genauso überzeugt behaupten. Denn wie alle anderen Götter, die sich die Menschheit schon ausgedacht hat, scheint es auch dem biblischen Wüstengott Jahwe völlig egal zu sein, wie seine Anhänger seinen vermeintlichen Willen interpretieren. Diesem Gott geht es einzig und allein darum, dass sich Menschen ihm unterwerfen (vgl. Mk 16,16).

Mit dem Problem der moralischen Orientierungslosigkeit des Christentums setzt sich Andreas Edmüller in seinem lesenswerten Buch: „Die Legende von der christlichen Moral – Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist“ auseinander.

Mit dieser Haltung kann ich auch im Alltag fest stehen und demonstrieren: Für Mit-Menschlichkeit. Gegen Menschenverachtung. Es hängt nicht alles an mir allein, aber: es kommt auf jeden an. Selbst wenn wir nur die Wenigen wären.

MemeUm sich für Mit-Menschlichkeit und gegen Menschenverachtung einzusetzen, bedarf es keiner erfundenen überirdischen Himmelswesen und einer eingebildeten Kraft, die ein bestimmter Wüstengott, den sich die Menschen in der Bronzezeit ausgedacht hatten, „in jeden gelegt“ haben soll. Im Gegenteil.

Wie oben dargestellt, geben auch Leute mit gänzlich anderen Wertevorstellungen vor, exakt im angeblichen Auftrag und dem Willen des selben biblisch-christlichen Gottes entsprechend zu handeln.

Und umgekehrt denken und handeln auch unzählige glaubensfreie Menschen mitmenschlich und fair. Auch für einen immer größer werdenden Anteil derer, die sich zwar noch irgendwie der christlichen Herde zugehörig fühlen, spielt ihr Götterglaube kaum noch oder keine Rolle mehr für ihre tägliche Lebenswirklichkeit. #wirsindmehr…

Gott ist für alles Beliebige gut – und für das Gegenteil genauso

Während Frau Rabe-Winnen ihre vermeintliche göttlich verliehene Kraft offenbar als Auftrag versteht, sich mitmenschlich zu verhalten, sichern zum Beispiel polnische Christen ihre Landesgrenzen mithilfe von Rosenkranzgebeten gegen un- und andersgläubige Eindringlinge. Auch die behaupten: #wirsindmehr…

Wir verfügen über Errungenschaften wie Menschenrechte und moderne ethische Standards sowie über die 6 europäischen Werte, auf denen eine offene und freie Gesellschaft entstehen und wachsen kann. Und wir sind nun mal selbst dafür verantwortlich, die Erde friedlicher, fairer und gesünder zu gestalten. Egal, ob wir uns einbilden, mit göttlicher Superpower ausgestattet zu sein oder nicht.

Und ich hoffe sehr: Wir sind mehr. Und eigentlich: Wir – das Volk. Es kommt auf jede an. Und zugleich ist da: Mehr als ich. Aus dieser Kraft lebe ich.

In freien und offenen Gesellschaften haben freilich auch diejenigen einen Platz, die ihr Weltbild um religiöse Phantasien aller Art erweitern möchten. Diese mythologischen Glaubensüberzeugungen sind zu tolerieren, solange durch sie keine gleichberechtigten Interessen Anderer verletzt werden. Nur können diese Phantasien nicht der Maßstab oder die Grundlage für einen Säkularstaat sein.

Solange das Gesetz über der Religion steht, spielt Religion für #wirsindmehr keine Rolle.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag zum Thema #wirsindmehr.

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2 Gedanken zu „#wirsindmehr – das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Die Bibel ist in weiten Teilen eine antisemitische Hetzschrift. Dies ist eine der zentralen Botschaften. Zuerst wurde gegen „reale“ Völker gehetzt, später gegen alle, die nicht dem „Volk Gottes“ angehörten (also nicht getauft oder folgsam waren).

    Wie Frau Rabe-Winnen daraus das exakte Gegenteil konstruiert, nämlich eine universale Liebe, ist rätselhaft. Die Bibel ist völlig unmissverständlich darin, dass Gottes Liebe nicht universal und nicht bedingungslos ist. Der rasende Hass gegen Ungläubige wird in schäumenden Bildern ausgeschmückt. Beispiel: 5. Moses 28,15-68
    https://www.bibleserver.com/text/LUT/5.Mose28,15-68

    Ich finde in ihrer Predigt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie ihre Ansichten überprüft oder abgesichert hätte. Sondern sie glaubt es eben, und das reicht ihr. Wen soll das überzeugen?

    Das Problem dabei: Wenn sie ihre Ansichten nicht stichhaltig zu begründen braucht, brauchen es ihre Gegner ebenfalls nicht. Die Gegner sind in ihrer Predigt die Schreihälse der Chemnitzer Demo. Und es wäre doch sehr wünschenswert, dass die Gesellschaft hier plausible und belastbare Antworten findet. Oder dass wir zumindest zurückkehren zu der Pflicht, Meinungen auch mit Fakten und Logik zu begründen. Wenn stattdessen jeder einfach sagen kann: „Pech, das ist eben meine Meinung“, dann können wir im Grunde aufhören, miteinander zu reden.

    Wenn diese Lüftschlösser das Beste sind, was uns zu der aktuellen Problematik politischer Verwirrtheit einfällt, dann gute Nacht.

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