Angst und Nächstenliebe – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Stefanie Schardien (ev.), veröffentlicht am 14.3.2020 von ARD/daserste.de
Darum geht es
Zum Thema Corona-Pandemie bezieht sich Frau Schardien auf Luthers Umgang mit der Pest. Dessen Ansichten sind aus heutiger Sicht allerdings inhaltlich gefährlich falsch und auch moralisch längst überholt:
- Luther war der Ansicht, sein starker Glaube mache ihn immun gegen Krankheiten.
- Dass er selbst als „Mann des Glaubens“ Überbringer der Krankheit (die er für ein Werk des Teufels hielt) sein könnte, war für ihn unvorstellbar.
- Sein Grund, warum er Pestkranken helfen wollte, war nicht die Nächstenliebe um der Nächsten willen, sondern laut eigener Angabe die Vorstellungen, dass er „Gott und allen Engeln“ damit eine Freude machen würde – und dass er dadurch seine Chancen auf eine posthumane Belohnung erhöhen würde.
Frau Schardien fordert Hoffnungsgeschichten und verschweigt aber die, die ihre Religion eigentlich zu bieten hätte.
Nach einigen Allgemeinplätzen und Phrasen zum Thema Corona-Pandemie („Wie schnell unser so sicher geglaubtes Leben verletzlich ist“) kommt Frau Schardien zu ihrer eigentlichen Message des Tages:
Luther und die Pest
[…] Martin Luther, Gründervater der evangelischen Kirche, hat das am Ende des Mittelalters so erlebt: Als die Seuchen grassierten, sind alle, die fit und reich waren, panisch aus den Städten geflohen. Ihre Kranken und Bedürftigen ließen sie einfach zurück. Luther fand das schlimm. Natürlich wusste er um die Gefahren. Trotzdem schrieb er: „Wo aber mein Nächster meiner bedarf, will ich weder Orte noch Personen meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen.“ Alte Worte, klare Ansage.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Angst und Nächstenliebe – Wort zum Sonntag, verkündigt von Stefanie Schardien (ev.), veröffentlicht am 14.3.2020 von ARD/daserste.de)
Luther wusste vielleicht um die Gefahren, die ihm drohten. Auch wenn er damals freilich noch keinen blassen Schimmer haben konnte, auf welchem Weg sich die Krankheit auch auf ihn übertragen könnte.
Krankheiten als Strafe Gottes
Das wissen wir erst, seit Menschen sich nicht mehr damit zufrieden gaben, Krankheiten zum Beispiel als Strafe ihres Gottes (der mit den bei Bedarf unergründlichen Wegen™) demütig hinzunehmen.
Bakterien wurden erstmals 1676, also über 100 Jahre nach Luthers Tod entdeckt. Viren sind erst seit dem späten 19. Jahrhundert als eigene biologische Einheit bekannt.
Heute, im 21. Jahrhundert, wissen wir dank wissenschaftlicher und medizinischer Forschung viel mehr über Erreger, Übertragungswege und Verläufe von Infektionskrankheiten als noch vor wenigen Jahrzehnten, geschweige denn Jahrhunderten.
Noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts war die Chance, eine Erkrankung zu überleben höher, wenn man keinen Arzt aufsuchte.
Distanz, um das Übertragungsrisiko minimieren
Davon, dass man selbst als möglicher Träger von Krankheitserregern die Gesundheit seiner Mitmenschen gefährden konnte, wusste man zu Luthers Zeiten noch nichts.
Zur Immunisierung bediente man sich Globuli, wobei man auf die Zuckerkügelchen damals noch ganz verzichtete. Mit anderen Worten: Wer sich „stark im Glauben“ wähnte, der wähnte sich damit auch immun gegen Krankheiten aller Art. Und als Mann des Glaubens wäre man natürlich niemals auf die Idee gekommen, selbst potentieller Überträger einer teuflischen Krankheit zu sein.
Genau dieses Übertragungsrisiko ist allerdings der Grund, warum eine exponentielle Ausbreitung von COVID19 am ehesten durch Vermeidung von möglichen Übertragungen des Virus zumindest verlangsamen können.
Ziel der Maßnahme ist zum Einen die Vermeidung eines Kollapses bei der Krankenversorgung. Und zum Anderen gewinnt die Wissenschaft damit auch Zeit, um wirksame Gegenmittel und/oder einen Impfstoff zu entwickeln.
Ob man vor dem Sterben fliehen möge
In Luthers Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ aus dem Jahr 1527 findet sich Aufschlussreiches über das Welt- und Wertebild Martin Luthers.
Zum Beispiel:
- Aber weil es unter den Christen so ist, daß es wenige Starke und viele Schwache gibt, kann man zweifellos nicht allen dasselbe zu tragen aufladen. Ein Starkgläubiger kann Gift trinken, und es schadet ihm nichts (Mark.16,18), ein Schwachgläubiger aber tränke sich den Tod daran.
Unbekannt ist die Zahl derer, die allein schon wegen der hier von Luther zitierten Bibelstelle ihr Leben verloren haben. Luther gesteht den „schwachen“ Christen sehr wohl zu, vor dem Sterben (gemeint ist die Pest) zu fliehen. Lediglich für Amtsträger (weltliche und kirchliche) würde sich dies verbieten.
Bürgermeister und andere Amtsträger sollten laut Luther freilich nicht etwa der Erkrankten wegen „die Stellung halten.“ Vielmehr ging es darum, die öffentliche Ordnung, genauer: das Obrigkeits-Machtgefüge aufrecht zu erhalten.
Und auch, was sein eigenes Engagement für Pestopfer angeht, sind die Erkrankten nur Mittel zum Zweck.
Nächstenliebe à la Luther: Für Gott und alle Engel
Luther nennt diese beiden Gründe, die ihn davon abhalten, vor dem Risiko, sich selbst anzustecken zu fliehen (Hervorhebungen von mir, Kurzzusammenfassung weiter unten):
- Das erste ist, daß ich wahrhaftig weiß, daß dieses Werk Gott und allen Engeln wohlgefällt und daß ich in seinem Willen und rechten Gottesdienst und Gehorsam gehe, wo ich’s tue. Und gerade deshalb, weil es dir so übel gefällt und du dich so hart dagegen stellst, muß es allerdings Gott besonders gefallen. Wie willig und fröhlich wollte ich’s tun, wenn’s nur einem Engel wohlgefiele, der mir zusähe und sich dabei über mich freute. Nun, wo es aber meinem Herrn Jesus Christus und dem ganzen himmlischen Heere wohlgefällt und Gottes, meines Vaters, Willen und Gebot ist — was sollte mich dein Schrecken denn bewegen, daß ich solche Freude im Himmel und solche Lust meines Herrn verhindern und dir mit deinen Teufeln in der Hölle ein Gelächter und Gespött über mich anrichten lassen und dich begünstigen sollte? Nicht so, du sollst’s nicht zu Ende bringen! Hat Christus sein Blut für mich vergossen und sich um meinetwillen in den Tod gegeben, warum sollte ich mich nicht auch um seinetwillen in eine kleine Gefahr begeben und eine ohnmächtige Pest nicht anzusehen wagen? Kannst du schrecken, so kann mein Christus stärken; kannst du töten, so kann Christus Leben geben; hast du Gift im Maul, Christus hat noch viel mehr Arznei. Sollte mein lieber Christus mit seinem Gebot, mit seiner Wohltat und allem Trost nicht mehr in meinem Geist gelten als du leidiger Teufel mit deinem falschen Schrecken in meinem schwachen Fleisch? Das wolle Gott nimmermehr! Hebe dich, Teufel, hinter mich. Hier ist Christus, und ich bin sein Diener in diesem Werke; der soll’s walten! Amen.
…und für den eigenen Vorteil
- Das andere ist die starke Verheißung Gottes, womit er alle die tröstet, die sich der Bedürftigen annehmen, Ps.41,2-4 sagt: »Wohl dem, der sich des Bedürftigen annimmt! Den wird der Herr erretten zur bösen Zeit. Der Herr wird ihn bewahren und beim Leben erhalten und es ihm lassen wohlgehen auf Erden und wird ihn nicht geben in seiner Feinde Willen. Der Herr wird ihn erquicken auf dem Bette seines Siechtums; sein ganzes Lager wandelst du in seiner Krankheit.« Sind das nicht herrliche, mächtige Verheißungen Gottes, in Haufen ausgeschüttet auf die, die sich der Bedürftigen annehmen? Was sollte einen doch schrecken oder bewegen gegen solchen großen Trost Gottes? Es ist wahrhaft ein geringer Dienst, den wir an den Bedürftigen im Vergleich zu solcher Verheißung und Vergeltung Gottes tun können, so daß Paulus mit Recht zu Timotheus sagt: »Die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nützlich und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens.« (1.Tim.4,8)
(Quelle: Martin Luther: Ob man vor dem Sterben fliehen möge, Zit. n. luther-ob-man-vor-dem-sterben-fliehen-mc3b6ge-insel-1.pdf, abgerufen am 14.3.2020)
Wem das jetzt zu viel zu lesen war, hier die beiden Gründe, warum man laut Martin Luther Menschen in Not helfen solle, in der Kurzzusammenfassung:
- Weil es Gott und allen Engeln wohl gefällt.
- Weil es die Chancen auf eine eigene postmortale göttliche Belohnung erhöht.
Luther: Inhaltlich gefährlich falsch und moralisch irrelevant
Diese Punkte sollen genügen um zu zeigen, wie gefährlich falsch, irrelevant und damit unbrauchbar die religiös verstrahlten Vorstellungen eines Mittelaltermönches für gegenwärtige Themen sind.
- Glaube verhindert keine Infektionen
- Auch Gläubige können Übertrager von Krankheiten sein
- Ob sich Götter und Engel über irgendetwas freuen, ist für die ethische Bewertung von mitmenschlichem Verhalten irrelevant.
- Wer eine zusätzliche fiktive jenseitige Belohnung benötigt um auf die Idee zu kommen, Menschen zu helfen, stellt sich damit ein moralisches Armutszeugnis aus.
Abgesehen von der Absurdität allein schon der Prämissen dieser Ideen fällt auch eine Bewertung der darin enthaltenen Moral geradezu erschreckend aus.
Luthers Mitmenschlichkeit, mit der Frau Schardien heute vermutlich ja eigentlich Reklame für ihren Kirchenkonzern machen möchte, entpuppt sich bei Licht betrachtet als mehr göttliche denn menschliche und reichlich egoistische Angelegenheit:
Hier steht nicht der Mitmensch im Vordergrund, dessen Leid es zu mindern gilt. Stattdessen geht es darum, sich damit bei einem sowieso schon allmächtigen Gott einzuschleimen. Der Mensch in Not wird zum Mittel zum eigenen Zweck.
Gerade so, als sei das Leid von Zeitgenossen nicht Grund genug, seiner Mitmenschen wegen zu versuchen, dieses Leid zu mindern.
Mitmenschliches Verhalten und Hoffnungsgeschichten
In den nächsten Wochen wird es sehr darauf ankommen, wie wir miteinander umgehen: […] Und wir werden Hoffnungsgeschichten gegen all die Sorgen und Angst und den Tod brauchen. Zuhören, trösten, Mut machen. Viele suchen neue Möglichkeiten im Miteinander: Neue Begrüßungen entstehen. Musiker streamen Wohnzimmerkonzerte, Junge bieten älteren Menschen Hilfe beim Einkaufen an. Den anderen in den Blick zu nehmen, das lehrt uns hoffentlich die gemeinsame Not.
Für all das braucht es keine Götter, Geister und Gottessöhne. Und mit einem rationalen und enttabuisierten, von absurden Jenseitsphantasien befreiten Umgang mit dem Thema Tod wären diesbezügliche Hoffnungsgeschichten obsolet.
A propos Hoffnungsgeschichten: Nicht mal in diesem Bereich, wo Mythologie ja sogar noch ein Plätzchen einnehmen könnte, kann das biblisch-christliche Glaubenskonstrukt noch etwas Brauchbares zur aktuellen Situation beitragen.
Zumindest hat Frau Schardien bei ihrer Rezeption von Luthers Umgang mit der Pest darauf verzichtet, ihrem Publikum mit den darin enthaltenen biblisch-christlichen „Hoffnungsgeschichten“ Mut zu machen. Diese lauten hier sinngemäß:
- „ihr sollt euren Mitmenschen helfen, weil sich Gott und die Engel dann freuen. Und außerdem könnte es sein, dass ihr damit eure eigenen Chancen auf eine postmortale göttliche Belohnung erhöht.“
Einerseits verständlich, dass jemand solche Absurditäten nicht vor laufender Kamera verkündigen möchte. Wobei es durchaus auch religiöse Medien gibt, die noch viel gröberen, teils auch gefährlichen Unsinn verbreiten.
Aber andererseits: Was hat das Christentum im Allgemeinen und Luther im Besonderen auch sonst zum Thema zu bieten? Offenbar nichts. Oder doch?
Behütet – von wem?
Bleiben Sie behütet in dieser Zeit und helfen Sie mit, dass andere behütet bleiben.
Man kann nur vermuten, dass es auch hier Frau Schardien offenbar peinlich war, klar und unmissverständlich auszusprechen, von wem sie sich denn „behütet“ fühlt.
Wer es nötig hat, seine religiösen Wunschvorstellungen, Einbildungen und Absurditäten bis zur Unkenntlichkeit mit Worten, Umschreibungen und Weglassungen zu verschleiern und zu vernebeln, der erweckt damit nicht gerade den Eindruck, von dem überzeugt zu sein, was eigentlich so alles ohne Wenn und Aber geglaubt und verkündigt werden müsste.
Mit dieser bewusst schwammigen Formulierung immunisiert sich Frau Schardien auch gegen die Frage, die sich in Anbetracht einer solchen Behauptung und der aktuellen Situation zwangsläufig stellen sollte:
- Wieso fühlen sich Christen ausgerechnet von dem Gott behütet, von dem sie gleichzeitig glauben, er habe die Welt so lebensgefährlich erschaffen?
Keine Frage: Frau Schardien meint es sicher gut. Und ein Aufruf zur Mitmenschlichkeit auch und gerade in Notzeiten ist sicher wesentlich menschlicher und sympathischer als so manch andere Reaktion von Berufs- und Herdengläubigen.
Nur: Für ihren eigentlichen Appell wäre jeglicher religiöse Bezug nicht nur entbehrlich gewesen. Humanistische Werte und moderne ethische Standards liefern eine solide, glaubensunabhängige und damit eine für alle Menschen verbindliche Basis, um Menschen zur gegenseitigen Hilfe und vor allem auch Rücksichtnahme aufzufordern. Im glaubensunabhängigen, eigenen (Überlebens-)Interesse. Und im Interesse der Weltbevölkerung.
Es ist echt erstaunlich (oder evtl. doch nicht), wie plötzlich in allen möglichen Kommentarspalten fundamentale Christen auftauchen und das Ende der Welt predigen, andere Menschen beschwören, sie sollen umkehren und ihr Heil in Jesus suchen…
Was treibt diese Menschen an?!
Wenn es denn um ihr „Seelenheil“ geht, warum dann zu ihrem Gott beten, dass dieser das in seinem Sinne erschaffene Leid/Strafgericht, doch abwenden möge; was soll das, ist ja sein Plan von Anfang an gewesen…
Eigentlich sollten diese „Schafe des Herren“ in Verzückung geraten und sich im Freudentaumel auf ihr versprochenes Paradies vorbereiten…
Doch alles was bleibt sind leere Höllendrohungen gegenüber Nichtgläubigen gepaart mit einem zynischem „Ja wir habens euch immer gesagt“…
Dies offfenbart die nahezu panische Angst dieser Leute, allein sterben zu müssen, wenn man nicht die Möglichkeit besitzt, eventuell noch andere mit in den Abgrund zu reisen!
Hallo ihr Christen,
Tod ist Freude… näher zu dir mein Gott… das (ewige) Leben beginnt doch grade erst!!!
Was soll denn diese Angst oder Trauer… glaubt Ihr etwa doch nicht so fest an euer „Paradies“?!
Egal, tut was ihr wollt, doch bitte tut es für euch selbst und haltet den Mund und vor allem andere draus raus!!!
Ich werf ja auch nicht meine Nachbarin aus dem Fenster, weil ich Angst hab allein zu springen…
Gruss
FLO
Mir ist es auch völlig schleierhaft, was Gebete (egal von welcher Glaubensrichtung) jetzt nützen sollen! Sämtliche Kirchen, Synagogen und Moscheen -selbst das Pilgerbecken in Lourdes- sind geschlossen.
Also, macht Corona auch vor denen nicht halt, die doch so sehr auf Gott vertrauen!