Alles richtig – trotzdem falsch – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 6 Min.

Alles richtig – trotzdem falsch – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Stefanie Schardien, veröffentlicht am 1.8.2020 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Pfarrerin Schardien resümiert einige ihrer Erlebnisse während der zurückliegenden Corona-Zeit und hält es offenbar für sinnvoll, ihren Gott um Vergebung einer Schuld zu bitten, die sie gar nicht selbst zu verantworten hat.

Wir müssen mal über Schuld reden.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Alles richtig – trotzdem falsch – Wort zum Sonntag, verkündigt von Stefanie Schardien, veröffentlicht am 1.8.2020 von ARD/daserste.de)

Wer meint, es ginge heute um die vielfältige Schuld, die die Kirchenkonzerne zu verantworten haben, irrt.

Vorab: Frau Schardien, wen meinen Sie mit „wir“? Sie werden ja kaum im Pluralis Majestatis sprechen und sich selbst meinen. In diesem Fall wäre es wohl tatsächlich eine gute Idee, mal mit jemandem zu reden. Aber nicht primär über Schuld.

Meinen Sie mit „wir“ sich und mich? Wie kommen Sie dann auf die Idee, mit mir mal über Schuld reden zu müssen? Oder generell mit dem Publikum des öffentlich-rechtlichen Fernsehens?

Vielleicht meinten Sie ja auch: Wir, die evangelische Kirche? Auch dann stellt sich mir, wie bei jedem „Wort zum Sonntag“ einmal mehr die Frage, was eine Institution, die eine Ideologie vertritt, die auf einer archaischen Mythen- und Legendensammlung basiert überhaupt qualifiziert, sich zu gegenwärtigen Themen, die die Lebenswirklichkeit der Allgemeinheit betreffen zu äußern?

Also inhaltlich. Und abgesehen von der Reichskonkordats-Vereinbarung mit dem Naziregime, auf das sich die Kirche bis heute berufen kann, um ihre Sendezeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk einzufordern.

Was bedeutet Schuld?

Wenn „wir“ nun also über Schuld reden müssen, dann müssen wir erstmal herausfinden, was genau damit gemeint sein soll. Denn „Schuld“ zählt zu den Begriffen, die in verschiedenen Bereichen (zum Beispiel Recht und Ethik) mit teils ganz unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werden.

Zur Verdeutlichung nennen Sie nun einige Beispiele aus den zurück liegenden Wochen, in denen Sie durch die Corona-Pandemie in der Ausübung Ihres Berufes eingeschränkt waren. Die Kontaktbeschränkungen und andere Umstände hatten zur Folge, dass Sie, Ihren Angaben zufolge, ihren Klienten etwas schuldig geblieben waren. Zum Beispiel Besuche oder Gespräche.

In einem Beispiel schildern Sie, wie Sie zu spät zu einer Sterbebegleitung gekommen waren, weil auch Sie als Pfarrerin sich an die Besuchszeiten des Krankenhauses halten mussten:

Klar kann ich mir sagen: Ich wollte die Abläufe nicht stören, niemanden gefährden, keine Extrawurst. Ich wollte mich an die Regeln halten: Eigentlich also alles richtiggemacht, und trotzdem bleibt sie für mich, die Schuld. Weil es der Frau vermutlich wichtig gewesen wäre, mit mir zu beten und für diese letzte Reise gesegnet zu werden. Ich kann da nicht einfach sagen, dumm gelaufen.

Hier stellt sich zunächst die grundsätzliche Frage nach der Relevanz von religiöser Sterbebegleitung.

Interessensabwägung

Wie immer in solchen Fällen geht es auch hier um eine Abwägung verschiedener Interessen:

Ihr Interesse, die Sterbende zu begleiten und das Interesse der Sterbenden, begleitet zu werden auf der einen Seite. Und das Interesse des Krankenhauses, im Interesse der anderen Patienten und des Personals eine Infektionsgefahr durch entsprechende Maßnahmen wie zum Beispiel begrenzte Besuchszeiten so gut wie möglich einzudämmen.

Dass Sie die Frau nicht begleiten konnten, war nicht Ihr Verschulden, Frau Schardien.

Anders wäre es zum Beispiel gewesen, wenn Sie den Termin hätten wahrnehmen können, diesen aber vergessen hätten. So, wie Sie den Fall schildern, konnten Sie nichts dazu.

Es wird Ihnen also nichts übrig bleiben, als sich damit abzufinden. Haben Sie damit tatsächlich Schuld auf sich geladen?

Wir haben getan was wir konnten…

Nicht nur berechtigte, sondern auch „falsche“ (weil unverschuldete) Schuldgefühle können eine starke Belastung darstellen.

Gerade Mitarbeiter im sozial-/medizinisch-/pflegerischen Bereich sind hier besonders gefährdet. Weil hier Situationen à la: „Wir haben getan was wir konnten…“ häufiger vorkommen als in anderen Berufen. Und weil es eben um Menschen und mitunter auch um Leben und Tod geht.

Das Wahren einer gewissen Distanz und eine realistische Einschätzung sind hier keine Zeichen von mangelnder Empathie, fehlender Sensibilität, Gleichgültigkeit oder Versagen, sondern von einer professionellen Berufsausübung. Wer sich ständig selbst Schuld auflädt, die er gar nicht selbst verschuldet hat, ist auf dem besten Weg in den Burnout.

Von einer MTA in einer ländlichen Arztpraxis stammt der dazu passende Spruch: „Ich kann nicht mit allen mitsterben…“ Und wer sie gekannt hat wird bestätigen können, dass sie trotzdem immer sehr einfühlsam mit ihren Patienten umgegangen war.

…wir sehen einander ja wieder… – oder doch nicht?

Frau Schardien, wenn Sie Ihre Glaubenslehre ernst nehmen, dann werden Sie ja doch noch dereinst die Möglichkeit haben, der Verstorbenen zu erklären, warum Sie nicht da sein konnten.

Diese Vorstellung ist freilich absurd, der Hinweis darauf aber keinesfalls sarkastisch oder ironisch gemeint. In der christlichen Mythologie ist ein Wiedersehen im Jenseits ja enthalten. Ob Sie das auch so glauben, weiß ich natürlich nicht.

Was Ihre „Segnung“ für die „letzte Reise“ angeht, kann ich Sie beruhigen: Zumindest auf den Ausgang dieser „letzten Reise“ hatte es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Einfluss, ob diese unter Ihrem persönlichen Segen stand oder nicht.

Und falls doch: Da Sie ja auch per TV-Verkündigung Segen verteilen, wird dieser auch genauso „funktioniert“ haben, wenn Sie nicht persönlich anwesend waren.

Vergib uns unsere Schuld?

Wie gehe ich mit solcher Schuld um? Wenn ich im Vaterunser bete „Und vergib uns unsere Schuld“, dann meint das nicht irgendwelche Fehler, die sich schnell korrigieren lassen. Sondern es meint Schuld, aus der es keinen guten Ausweg gibt, die sich nicht wegerklären oder einfach wieder gut machen lässt. So wie den Abschied von der alten Dame aus der Gemeinde. Da gibt’s keine zweite Chance. Vergib uns unsere Schuld. Ich hoffe, dass Gott mich hört und einen Weg für mich freiräumt, wo ich mit meinem menschlichen Latein am Ende bin.

Quelle: NetzfundWie gerade schon kurz angesprochen: In der biblisch-christlichen Mythologie gibt es schon eine zweite Chance. An die Sie aber offenbar selbst nicht glauben.

Wie stellen Sie sich das mit dem „Weg freiräumen“ konkret vor, Frau Schardien? Inwiefern steht denn Ihre unverschuldete Schuld „im Weg“? Welchen Weg meinen Sie hier?

Nach welchen/wessen Maßstäben und von wem lässt sich Schuld denn sinnvoll bewerten?

Wieso versprechen Sie sich eine Vergebung von Schuld ausgerechnet von dem, der die Welt der biblischen Glaubenslehre zufolge ja offensichtlich so erschaffen hat, dass solche Situationen eben vorkommen können? Und auch, dass Menschen eben auch dann mitunter unzulänglich sind, wenn sie sich noch so sehr bemühen?

Mit welchem Recht sollte dieser Gott Ihnen eine Schuld vorwerfen? Und was befähigt ihn dazu, Ihnen diese Schuld zu vergeben, worum er sich von Ihnen immer und immer wieder bitten lässt?

Was versprechen Sie sich davon, wenn Sie sich eine göttliche Vergebung einbilden? Ihre Schuld wird doch nicht weniger, wenn Sie ein magisches Himmelswesen um Vergebung bitten?

Geistige Selbstbefriedigung

Quelle: NetzfundBei Licht betrachtet ist die Bitte um göttliche Vergebung nichts anderes als geistige Selbstbefriedigung:

Ich fühle mich schuldig, obwohl ich gar nichts dazu kann. Weil ich selbst an der Situation nichts (mehr) ändern kann, bitte ich meinen imaginären Freund/Vater vorsorglich um Vergebung. Dadurch ändert sich faktisch zwar rein gar nichts, aber ich fühle mich wieder besser.

Wer so denkt, phantasiert sich eine Schuldvergebung zurecht, die allerdings völlig wertlos ist: Ein allmächtiger und allwissender Gott weiß natürlich selbst, inwiefern eine Schuld selbst- oder unverschuldet war.

Und als allgnädiger, gerechter Richter wird er die genauen Umstände natürlich dereinst strafmildernd berücksichtigen. Wenn er denn tatsächlich gerecht sein sollte.

Für das Zusammenleben der Menschen hienieden ist dies alles aber völlig irrelevant.

Wenn es tatsächlich keine Möglichkeit mehr gibt, sich beim Betroffenen oder wenigstens seinen Angehören zu ent-schuldigen, dann ändert auch eine eingebildete göttliche Vergebung daran nichts.

Gott als imaginäre Schuldvergebungsstelle

Frau Schardien, was Sie hier beschreiben, klingt für mich wie ein unredlicher Versuch, mit den Unwägbarkeiten und ethischen Dilemmata des Lebens besser zurecht zu kommen.

Sie erschaffen sich eine imaginäre Schuldvergebungsstelle. An die Sie sich imm dann wenden können, wenn Sie sich – berechtigt oder nicht – schuldig fühlen. Oder auch vorsorglich, wenn Sie Ihr Gebet aufsagen, in dem Sie ritualisiert, also immer wieder Ihren Gott um Pauschalvergebung Ihrer Schuld bitten.

Was ich uns wünsche: Wir sollten verändern, was geht, besonders für alle, die in den letzten Monaten zu kurz kamen. Über alles andere, das Unlösbare, Verpasste sollten wir öfter ehrlich sprechen, miteinander und, wer will, auch mit Gott. Wenn wir so von der Schuld reden, dann ist das kein Schlussstrich unter dem, worüber man nicht gern spricht, sondern ein neuer Anfang.

Auch hier hätten Sie Ihren Gott problemlos weglassen können, Frau Schardien. Wie wollen Sie denn „ehrlich“ mit einem fiktiven Wesen sprechen? Schuld ist ein (zwischen-) menschliches Thema. Das hat mit Göttern nichts zu tun und eine vermeintliche göttliche Vergebung ist dafür irrelevant.

Religiöser Wunsch und irdische Wirklichkeit

Quelle: NetzfundStatt eine Realitätsflucht vorzuschlagen, wäre doch ein Hinweis sinnvoller gewesen, dass zur Lebenswirklichkeit nun mal auch Situationen gehören können, in denen es tatsächlich mal „dumm gelaufen“ ist.

Eine möglichst realitätskompatible Weltanschauung erweist sich auch hier als hilfreich, um Dinge annehmen zu können, die sich nicht (mehr) ändern lassen – oder eben um zu überlegen, inwiefern vielleicht doch noch die Möglichkeit einer Wiedergutmachung besteht. Oder zumindest einer Erklärung und Entschuldigung.

Im geschilderten Fall, bei dem Sie aufgrund der Corona-Beschränkungen nicht rechtzeitig zur Sterbebegleitung anwesend sein könnten, wäre es zum Beispiel denkbar, sich mit den Angehörigen in Verbindung zu setzen und ihnen zu schildern, dass Sie gerne Ihrer Aufgabe nachgekommen wären und als das (ohne Ihr Verschulden) nicht möglich war, Sie trotzdem in Gedanken bei der Sterbenden waren.

Fazit

Einmal mehr wurde in der heutigen Fernsehpredigt deutlich, dass ausgerechnet der religiöse Bezug nicht nur entbehrlich ist, wenn es um die irdische Wirklichkeit geht. Vielmehr wirft die Hinzunahme von Göttern viel mehr Fragen auf, als sie beantworten würde.

Der Allmächtige wird zum optionalen Zusatzangebot: Wer will, kann ja auch, so wie ich, mit Gott reden – oder es lassen.

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1 Gedanke zu „Alles richtig – trotzdem falsch – Das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Es fällt mir schwer, dies in ensprechende Worte zu fassen,

    Ja, ich bin gerade betrunken…

    Noch bevor dieser Corona-Lockdown beschlossen wurde, wollte ich einen meiner besten Freunde noch im Krankenhaus besuchen, er wusste, dass er noch wenige Tage zu leben hat…
    wir haben dennoch gemeinsam Witze über seinen derzeitigen Zustand gemacht, das Sterben leicht genommen, mit einer gebührenden Prise Ironie…
    Leider konnte ich mich in diesem Leben nicht mehr von ihm verabschieden, die Tränen kamen erst drei Monate später, bei der Beisetzung seiner Urne…
    Dennoch ist dieser Mensch aufrecht und mit einem Lächeln auf den Lippen verstorben, hat die volle Verantwortung für sein „sündiges“ Leben übernommen und ist einfach abgetreten…
    Ohne Reue, Götter, Hölle, Engel oder Dämonen…

    Aktzeptiert einfach die Natur des Lebens, lebt einfach!!!

    Es braucht keine Götter, um das unvermeindbare zu leugnen, es braucht nur Stolz, wachen Geist und Würde!

    Ruhe in Frieden, mein Freund!

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