Kaum auszuhalten – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Pastorin Annette Behnken, veröffentlicht am 24.2.24 von ARD/daserste.de
Darum geht es
Statt mit vernünftigen Argumenten plädiert Frau Behnken mit genau dem Glaubenssystem für Aufstehen für Vielfalt, Toleranz und Demokratie, auf das sich auch Gegner dieser Werte berufen.Vorbemerkung
Im „Wort zum Sonntag“ steht Pastorin Behnken ja im Auftrag und Namen ihrer Arbeitgeberin, der evangelischen Kirche Deutschland (EKD) vor der Fernsehkamera.
Sinn und Zweck dieser nicht moderierten Verkündigungssendung unter dem Motto, Zitat Jörg Thadeusz: „Vier Minuten religiöser Frontalunterricht“ ist es, einen „niederschwelligen Berührungspunkt mit dem Evangelium“ (Quelle: Zit. n. Wikipedia) im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu platzieren.
Dass für diesen Zweck praktisch alle Mittel recht sind, können wir in jedem „Wort zum Sonntag“ aufs Neue feststellen.
Heute bedient sich Frau Behnken einiger Aussagen des russischen Regimegegners Alexej Nawalny,[1]Zur Einordnung für später: Nawalny hatte 2020 einen Giftanschlag gerade so überlebt, die anschließende russische Haft nicht. um das Christentum als die Hoffnungs- und Moralquelle der „Guten“ erscheinen zu lassen.
Ganz im biblischen Sinn…?
[…] Seine [Alexej Nawalnys, Anm. v. mir] zentrale Botschaft, über seinen Tod hinaus, heißt: „Gebt nicht auf! Ich fürchte mich nicht, und Ihr sollt Euch auch nicht fürchten“ – einer seiner bekanntesten Sätze. Der klingt biblisch, und ich bin sicher, er war auch so gemeint.
Nawalny sagte von sich: „Ich bin ein gläubiger Mensch“. Der Glaube war eine seiner Kraftquellen. Nawalny sah sich ganz im biblischen Sinn an der Seite derer, die „hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Kaum auszuhalten – Wort zum Sonntag, verkündigt von Pastorin Annette Behnken, veröffentlicht am 24.2.24 von ARD/daserste.de)
Zumindest öffentlich hatte sich Nawalny erst nach dem auf ihn verübten Giftanschlag 2020 zum christlichen Glauben bekannt (dazu gleich noch mehr).
Wenns tatsächlich „ganz im biblischen Sinn“ gemeint sein soll, dann stellt sich die Frage, worin denn in diesem Fall der biblische Sinn besteht.
Dabei ist zu berücksichtigen, was hier mit „Gerechtigkeit“ gemeint ist:
(Quelle: MS BING Copilot, Prompt: nach gerechtigkeit zu hungern bedeutung)
- Aspekte der Gerechtigkeit:
- Persönliche Gerechtigkeit: Dies bezieht sich auf das Leben in Übereinstimmung mit Gottes Geboten. Es geht darum, Sünde abzulegen, großzügig zu sein und Feinde zu lieben (Matthäus 5:22–48).
- Gerechtigkeit vor dem Gesetz: Durch das Erlösungswerk Christi erhalten wir Gerechtigkeit vor Gott (Matthäus 20:28).
- Sehnsucht nach Gottes Herrschaft: Nach Gerechtigkeit zu hungern bedeutet, sich nach der Herrschaft Gottes in unserem Leben zu sehnen (Matthäus 6:33).
- Es bedeutet auch, Durst nach dem Wort Gottes und der Gemeinschaft der Gottesfürchtigen zu haben.
Es bedarf wohl keiner weiteren Erörterung um zu erkennen, dass diese biblischen Interpretationen von „Gerechtigkeit“ nichts mit dem zu tun haben, was wir heute gemeinhin unter „Gerechtigkeit“ als Gegenteil von Ungerechtigkeit verstehen.
Ich bezweifle deshalb sehr, dass Nawalny dieses Zitat tatsächlich wie von Frau Behnken behauptet „ganz im biblischen Sinn“ verwendet hatte.
Selbst wenn sein später Wandel vom Atheisten zum Christen mehr als eine Taktik gewesen sein sollte, gehe ich davon aus, das es ihm wohl nicht um die gerade skizzierte biblische, sondern um die weltliche Bedeutung von Gerechtigkeit ging.
Wann ist ein Christ ein Christ?
Anders als von Frau Behnken suggeriert, spricht einiges dafür, dass Nawalnys Wandel vom Atheisten zum Christ, die offenbar erst 2020 im Zusammenhang mit dem an ihm verübten Giftanschlag stattgefunden hatte weniger religiöse als vielmehr politisch-taktische Gründe gehabt haben könnte:
Logischerweise ist nicht jeder vom religiösen Charakter von Nawalnys Bekehrung zum Christentum überzeugt. Die Moscow Times interpretierte seine religiösen Äusserungen eher politisch-soziologisch und wies darauf hin, dass Nawalny sich der Tradition der russischen Intelligenz anschloss, indem er zu seiner Verteidigung die Bibel zitierte. Dies wurde auch von den verfolgten sowjetischen Schriftstellern Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky getan. Die Zeitung spekulierte, dass der Oppositionsführer die Bibel benutzte, um die russischen Behörden in ein Dilemma zu bringen: Einen Nawalny als bibelgläubigen Christen und Verteidiger der traditionellen biblischen Werte, die Russland zu verteidigen vorgibt, kann man schlecht als unmoralischen Kritiker und Querulanten abtun.
(Quelle: jesus.ch: Nawalny: Woher er seine Kraft nahm)
Freiheit. Gerechtigkeit. Demokratie. Frieden.
Für Frau Behnken ist der Fall freilich klar:
Das hat ihm diesen unbegreiflichen Mut gegeben. Sich dem Regime Putins in den Weg zu stellen. Über Jahre immer wieder die absurden Urteile der russischen Gerichte zu ertragen. Und das bis zum Schluss, selbst noch einen Tag vor seinem Tod lächelnd, ironisch, mit Chuzpe, Charme und Charisma. Angetrieben von Werten, die ihm heilig waren: Freiheit. Gerechtigkeit. Demokratie. Frieden.
Ob Nawalny tatsächlich davon überzeugt war, ausgerechnet das Christentum stünde für Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden oder ob es sich bei seinem „Glaubensbekenntnis“ um einen klugen Schachzug gegen das politische Regime, das sich ja auf exakt den selben Gott und die selbe „Heilige Schrift“ beruft handelte, kann ich nicht abschließend beurteilen.
Die Frage, was von einem Glaubenssystem zu halten ist, mit dem man problemlos Angriffskriege, Ausbeutung, Verfolgung, Vertreibung, Unterdrückung und Mord sogar noch schlüssiger begründen kann (q.e.d.) als den Widerstand dagegen, stellt sich zumindest Frau Behnken nicht.
Kein wahrer Christ…
Es ist nur allzu gut nachvollziehbar, dass Putins Verhalten für Nawalnys Witwe Julija Nawalnaja nicht nur „kaum auszuhalten“, sondern unerträglich sein muss.
Aus ihrer (offenbar christlichen) Sicht steht fest: Jemand wie Putin kann natürlich kein Christ sein. Auch menschlicher Hass oder Rachegelüste reichen nicht als Motiv. So einer ist Satanist. Oder Heide:
Putin inszeniere sich zwar mit Kerze in der Hand in russisch-orthodoxen Kirchen und küsse Ikonen, sei aber in Wahrheit von Hass und Rachegelüsten getrieben, sagte Julija Nawalnaja. »Nein, es ist nicht einmal Hass, es ist Satanismus, Heidentum.« Im Glauben aber gehe es um Güte, um Barmherzigkeit, um Erlösung. »Und kein wahrer Christ könnte jemals tun, was Putin jetzt mit dem toten Alexej tut.«
(Quelle: spiegel.de, 24.02.2024: Julija Nawalnaja wirft Putin Satanismus vor)
Wären Güte, Barmherzigkeit und Erlösung genuin christliche Eigenschaften, dann hätte das Christentum kaum eine Jahrtausendlange und bis heute anhaltende Kriminalgeschichte vorzuweisen und zu verwantworten. Oder es gab es seit Entstehung des Christentums erst einen nur sehr marginalen Anteil an „wahren Christen.“
Natürlich tut man sich als gläubiger Christ leichter, in typisch christlicher Manier als Ursache für unmenschliches, verbrecherisches Verhalten „Satanismus, Heidentum“ zu nennen. Als (sich) einzugestehen, dass das Christentum augenscheinlich und täglich beobachtbar eben nicht nur aus „Güte, Barmherzigkeit und Erlösung“ besteht.
Gerade die wegen ihrer quasi beliebigen Auslegbarkeit und damit verbundenen Beliebigkeit unbrauchbaren Textgrundlage des christlichen Glaubens macht es erst möglich, dass diese Begriffe gar in ihr genaues Gegenteil verbogen werden können.
Mit der fatalen Folge, dass mit religiöser Legitimierung auch ethisch noch so verwerfliches Handeln als Ausdruck besonderer „Güte, Barmherzigkeit und Erlösung“ dargestellt werden kann.
Morgenluft
[…] Wir müssen uns ihnen in den Weg stellen, und zwar dauerhaft und deutlich, ihnen: den antidemokratischen und rechtsradikalen Ideen, Initiativen und Parteien, die meinen, gerade Morgenluft zu wittern.
…und wenn es uns wirklich um dieses Anliegen, und nicht um Religionsreklame (Stichwort: „niederschwelliger Berührungspunkt mit dem Evangelium“) geht, dann bringen wir Argumente, die unabhängig von Glaubensüberzeugungen gelten und die nicht genauso auch von den Feinden von Freiheit, Demokratie und Aufklärung verwendet werden können und verwendet werden.
Fußnoten
↑1 | Zur Einordnung für später: Nawalny hatte 2020 einen Giftanschlag gerade so überlebt, die anschließende russische Haft nicht. |
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Frau Behnken hätte sich besser mal über das Gebahren und das Weltbild des Herrn Nawalny schlau machen sollen, und zwar aus der Zeit, als er noch nicht als der grosse, zum christlichen Glauben bekehrte Widersacher Putins vom Westen ausgeguckt worden war.
Der wäre bei uns in Deutschland für seine politische Agenda nicht lange frei rumgelaufen.
Der hat Putin und Genossen in Bezug auf Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit weit in den Schatten gestellt. Putin hat zum Beispiel die Ukrainer nie als Ungeziefer bezeichnet, wie es Nawalny getan hat.
Aber das spielt natürlich keine Rolle, wenn ein solcher Mensch sich der US-Politik so nahtlos und willfährig eingefügt hat.
Und Frau Behnken plappert nur das nach, was die Atlantiker uns allen vorbeten.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen:
Ich bin kein Freund putinscher Weltanschauung, insbesondere, was seine Anbiederei an die russisch-orthodoxe Kirche und deren mittelalterlichen, menschenverachtenden Moralkodex anbelangt.
Aber Nawalny als den Guten zu glorifizieren und Putin als den Dämon zu stigmatisieren, das mache ich auch nicht mit.
Im Übrigen würde mich mal interessieren, welcher Abteilung des Christen-Konzerns sich Navalny denn nun angeschlossen hatte: der ukrainischen oder doch der russischen Orthodoxie oder gar der römisch-katholischen?
Ich bin sicher, dass Frau Behnkens christlicher Kollege Kyrill in entscheidenden Punkten eine ganz andere Meinung zum Thema Nawalny vertritt als sie. Wer erkennt Gottes Willen und interpretiert die Bibel denn nun korrekt?