Kommentar zu NACHGEDACHT 85: Wo kommen die Egoisten her?

Lesezeit: ~ 5 Min.

Kommentar zu NACHGEDACHT 85: Wo kommen die Egoisten her?, Originalartikel verfasst von Christina Leinweber, veröffentlicht am 24.8.2014 von osthessen-news.de

„Die ganze Welt dreht sich um mich, denn ich bin —- ein Egoist!“*

Ganz genau lautet die Liedtextzeile von Falco: „Die ganze Welt dreht sich um mich, denn ich bin nur ein Egoist“

[…] Der Mensch kann Egoismus bereits ganz früh lernen. In der Familie wird das Verhalten der Eltern oftmals kopiert und imitiert. Später – in Sozialisationseinrichtungen wie Kindergarten und Schule – überdenkt man dann das Gelernte noch einmal, revidiert, verbessert oder behält bei. Auch die Gene werden hier ihr eigenes Stück dazu besteuern.

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor fehlt erwartungsgemäß bei der Suche nach Ursachen für egoistisches Verhalten: Die religiöse Indoktrination. Der erste und wohl bekannteste Aufruf zum Egoismus findet sich in der Bibel:

  • Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen. Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. (1. MOSE 1 28, EU)
  • Außerdem dürfen sich Menschen, die an ihn glauben, sogar als Abbild Gottes fühlen und dementsprechend aufführen: Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. (1. MOSE 1 27, EU)

Die Bibel ist voll von Aussagen darüber, wie Gott sein „auserwähltes Volk“ in jeder Hinsicht bevorzugt und es dabei nicht nur legitmiert und beauftragt, sondern sogar unterstützt, alle Anders- und Ungläubigen zu vernichten. Allein damit lässt sich schon ein extrem egoistisches Verhalten ableiten und rechtfertigen. „Aus Sicht unseres Gottes sind wir zwar unwürdig und voller Sünde, aber trotzdem sind wir als Menschen die Krone der Schöpfung und als das auserwählte Volk Gottes natürlich etwas Besseres als alle anderen Völker.“

Diesem Fehlschluss (schließlich handelt es sich beim „Wort Gottes“ nicht um das Wort eines Gottes, sondern um das Wort von Menschen, die ihre Ideen und Überzeugungen einem Gott in den Mund gelegt oder ins Buch geschrieben hatten) sind nicht nur Anhänger der christlichen, sondern auch praktisch aller anderer Religionen erlegen. Und eine solche Selbstüberhöhung kann auch dann von Generation zu Generation weitergegeben werden, wenn sie auf einer offensichtlichen Lüge oder Fiktion basiert. Somit tragen alle, die diese Fiktionen behaupten oder lehren, auch dazu bei, dass sich Menschen auch im 21. Jahrhundert noch als etwas Besonderes fühlen, weil es ihnen ihr imaginärer Freund angeblich gesagt hat.

Also kann Egoismus bereits ganz früh entstehen, kann man aber auch erst später dieses Denken annehmen?*

Und noch ein weiterer, noch wichtigerer Faktor fehlt in der Betrachtung zum Thema Egoismus ganz, was darauf hindeutet, dass der Autorin vielleicht gar nicht bewusst ist, worum genau es geht. Dabei ist es gar nicht so kompliziert, wenn man einige wichtige Grundlagen kennt:

Jedes Individuum, von der ersten Protozelle zu Beginn des Lebens auf der Erde bis hin zum Homo sapiens, folgt dem einfachen, natürlichen „Prinzip Eigennutz“. Das besteht vereinfacht gesagt darin, das eigene Wohl zu mehren und „Wehe“ zu vermeiden. „Das eigene Wohl mehren“ meint alles, was dazu beiträgt, dass es mir gut geht. Die Sonnenblume dreht sich nicht zur Sonne, weil Menschen sie „Sonnenblume“ nennen, sondern weil sie ihr Wohl (in diesem Fall: Wachstum) damit steigert. Ein Ahornbaum produziert nicht deshalb so viele Samen, weil er an Verschwendungssucht leidet, sondern weil er damit die Wahrscheinlichkeit des Fortbestandes seiner Art und damit auch wieder sein Wohl steigert.

Sogar wer sich scheinbar völlig selbstlos verhält, also wer rein altruistisch handelt, steigert damit auch sein eigenes Wohl. In der Natur existieren keine Moralvorgaben. Ein Löwe ist nicht „böse“, wenn er die Löwenbabies aller Weibchen tötet, sobald er die Führungsrolle übernimmt – er verhält sich damit genau entsprechend des Prinzipes „Eigennutz.“ Auch viele andere Tierarten verhalten sich nach menschlichen Maßstäben „böse“ oder „ungerecht“, was allerdings eine fehlerhafte Bewertung ist, weil nur der Mensch und vermutlich nur einige bestimmte andere Tierarten überhaupt in der Lage sind, etwas als „gut“ oder „böse“ oder genauer „fair“ und „unfair“ zu bewerten. Das „Prinzip Eigennutz“ sagt erstmal noch nichts darüber aus, auf welche Art und Weise und vorallem auf wessen Kosten jemand oder etwas sich eigennützig verhält.

Und hier kommt die einzige Einschränkung, um die die Forderung „Tue was du willst“ für Menschen erweitert werden muss: “ – ohne dabei gleichberechtigte Interessen von anderen Individuen oder deiner Umwelt zu beeinträchtigen.“

Genau diese Einschränkung ist es, die den Eigennutz vom Egoismus unterscheidet. Der Egoist verfolgt ebenfalls das Prinzip Eigennutz, allerdings ohne dabei gleichberechtigte Interessen Anderer zu respektieren.

So etwas passiert womöglich, wenn stark sozial engagierte Menschen merken, dass sie mit ihrer sozialen Ader irgendwann einmal an Grenzen stoßen: Sie merken, dass sie ausgenutzt werden. Irgendwann macht soziales Handeln vielleicht nicht mehr glücklich?! Dann könnte man umroutieren, 180-Grad-Drehung. Und wie nennt man das dann? Gesunden Egoismus vielleicht, weil man aus der „Ausnutz-Falle“ ausgetreten ist?*

Nach den oben ausgeführten Gedanken zum Thema Egoismus ist einfach zu erkennen, dass es keinen „gesunden Egoismus“ gibt, wohl aber einen „gesunden Eigennutz.“ Wenn mir eine Handlung keinen Nutzen mehr bringt (zum Beispiel, weil ich ausgenutzt werde), dann ist es nicht egoistisch, diese Handlung zu beenden, sondern es ist eigennützig.

Aber wir brauchen doch soziale Menschen!*

Natürlich, nur verhält sich in diesem Fall der egoistisch, der ein soziales Handeln ausnützt, weil er damit das gleichberechtigte Interesse des sozial Handelnden nicht respektiert. Sich gegen diese Missachtung des eigenen Interesses zu wehren ist nicht egoistisch, sondern eigennützig.

Unser System ist sozial – Soziale Marktwirtschaft. Irgendwie sind wir also alle ein bisschen sozial – weil wir daran teilnehmen?! Reicht das schon? Und wir sind vielleicht wahrscheinlich auch alle ein bisschen (oder mehr) egoistisch.*

Was vielen Menschen in vielen Situationen gar nicht so bewusst sein dürfte, weil es ein nicht offensichtlicher Egoismus ist. Wenn ich zum Beispiel Textilien für lächerliche Minipreise kaufe, muss ich davon ausgehen, dass ich mich damit unethisch und unfair, weil egoistisch verhalte. Was mein Nutzen ist, geht zu Lasten der Menschen, die diese Textilien wahrscheinlich unter unwürdigen Bedingungen und für einem Hungerlohn produziert haben. Man geht davon aus, dass heute (2015) etwa 37 Millionen (!) Menschen als Sklaven ausgebeutet werden.

Unethisches Kaufverhalten (Stichwort Massentierhaltung, Sklavenarbeit, Verschwenderischer Umgang mit Rohstoffen…) ist somit nichts anderes als Egoismus, weil ja nicht nur die eigenen Interessen, sondern auch die von allen anderen Individuen zu berücksichtigen sind. Wer also etwas gegen Egoismus tun möchte, hat viele Möglichkeiten, sein eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen.

Womöglich gehören beide Seiten zu uns – sozial und egoistisch.*

Wie meinen Ausführungen zum Thema Eigennutz einfach zu entnehmen ist, wird der Dualismus aus „sozial“ und „egoistisch“ nicht der tatsächlichen Situation gerecht. Wenn ich mich eigennützig verhalte und dabei die gleichberechtigten Interessen anderer Indivduen respektiere, berücksichtige ich damit sowohl meine eigenen Bedürfnisse, als auch die Bedürfnisse meiner Umwelt, also ohne, dass ich ausnütze und ohne, dass ich ausgenützt werde.

Man hat sich selbst ja schon lieb, allerdings möchte man die anderen auch nicht vergessen.*

Was ja auch gar kein Widerspruch ist, weil jede noch so altruistische Handlung auch einen Nutzen für den so Handelnden bringt.

Es ist schon schwer im Leben –*

Oder genauer: Man kann es sich schon schwer machen im Leben –

und die Grenze zwischen beiden Seiten ist mal wieder verschwindend gering.*

Besonders, wenn schon die „beiden Seiten“ gar nicht der Realität gerecht werden, sondern aufgrund einer indifferenzierten Sichtweise von „sozial“, „egoistisch“ und „eigennützig“ definiert wurden. Statt sich über die von Menschen erdachten Grenzen zu wundern, kann es hilfreicher sein, das Thema nicht mit einer klassisch-religiös-dualistischen Sichtweise von „falsch“ und „richtig“ anzugehen, sondern stattdessen von den natürlichen Bedürfnissen der Individuen auszugehen, was einen zur Erkenntnis des „Prinzip Eigennutzes“ und weiter zur Unterscheidung von „Eigennutz“ und „Egoismus“ bringen kann.

*Das Online-Portal Osthessennews fordert jede Woche unter der Rubrik „NACHGEDACHT“ mit „liberal-theologischen“ Gedanken zum Nachdenken auf. Alle als Zitat gekennzeichnete Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Original-Artikel von Christina Leinweber.

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