#kt16-Gezwitscher

Lesezeit: ~ 4 Min.

Neben Dialogen mit leeren Stühlen* und lächerlichen Platzverweisen gabs beim Katholikentreffen in Leipzig offenbar auch einen Poetry-Slam-Kurs:

Dieses Beispiel zeigt, dass die Aussage eines Textes durch eine bestimmte Art der Formulierung und des Vortrags nicht unbedingt automatisch auch an Bedeutung, Sinn- oder Wahrhaftigkeit gewinnt.

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…gibts in echt: Zugvögel

Im konkreten Beispiel bedient sich die Nachwuchskünstlerin eines Tricks, der von Religionsanhängern immer wieder gerne verwendet wird: „Erzähle zu deinem Thema erstmal ein, zwei Beispiele aus der realen Welt, hänge dann eine Behauptung aus deiner irrealen Scheinwirklichkeit einfach hintendran und hoffe, dass es niemand schnallt.“

Mit diesem einfachen Trick erweckst du die Illusion, deine imaginierte Scheinwirklichkeit sei so real wie deine beiden vorherigen Beispiele aus der tatsächlichen Wirklichkeit. Der selbe Fehlschluss kommt zum Einsatz, wenn zum Beispiel von tatsächlich erlebbarer Liebe unter Menschen auf eine (verständlicherweise sehr einseitige, weil fiktive) Gottesliebe geschlossen wird.

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…gibts auch in echt: Züge

Oder im vorliegenden Fall: „Weil ich Vögel und Züge sehen kann, sehe ich auch eine „andere Welt“ im Himmel.“ – Diesen Denkfehler bezeichnet man als „Es folgt nicht“ (lat: „non sequitur“).  Es handelt sich dabei quasi um den Klassiker unter den Denkfehlern.

Natürlich können wir Vögel und Züge durchs offene Fenster sehen (wenn wir in der Nähe einer Bahnstrecke wohnen) und uns aufgrund dieser Beobachtungen Gedanken darüber machen, was Zugvögel und Zugführer wohl denken und wie sie wohl ihrerseits ihre Umwelt wahrnehmen.

Und wenn wir nicht gerade einen schwach ausgeprägten Sinn für die Realität haben, wissen wir auch, dass Flüchtlinge in Wirklichkeit eben nicht aus einer anderen Welt kommen und dass auch Verliebte in derselben Welt zugange sind wie Nichtverliebte (von Astronautinnen und Astronauten mal abgesehen).

Anders sieht es aus, wenn wir in den Himmel schauen.

Bis heute gibt es keinen einzigen Anhaltspunkt für die Annahme, dass dort ein wie auch immer gestalteter Er residiert und von dort auf uns herunterschaut.

gibts nicht in echt: Phantasiewesen
…gibts nicht in echt: Phantasiewesen

Nichtmal christliche Theologen vertreten heute noch eine solch kindlich-naive Vorstellung.

Natürlich kann man sich alles Beliebige vorstellen, sehen kann man allerdings eine wie die von der Künstlerin geschilderte „Welt“ nicht.

Damit nicht genug, wir haben heute einen Blick auf das Universum, wie er noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre und der uns eindrucksvoll zeigt, was wir tatsächlich sehen, wenn wir (mit geeigneten Mitteln) in den Himmel schauen:

Nach den beiden Beispielen aus der realen Welt verlässt die Slammerin ebendiese und begibt sich ins Reich der Phantasie – was man, besonders im Rahmen von Kunst, dank der hervorragenden Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns natürlich jederzeit machen kann.

Leichtgläubige und unkritische Menschen könnten diesen Schritt allerdings nicht bemerken und irrtümlicherweise denken, die angeblich von der Dichterin im Himmel entdeckte „andere Welt“ sei vielleicht real und man könne sie wie etwas Reales beobachten, wenn man in den Himmel schaut. Ohne dieses Phänomen wären kaum so viele Menschen so viele Jahrhunderte lang auf religiöse Märchen und Mythen hereingefallen.

Was die Vortragende dann über ihre Scheinwelt berichtet, wirft viel mehr Fragen auf als dass es irgendwelche Antworten gibt. Von einem „langen Weg dorthin“ ist die Rede. Jemand sei den Weg durch die Welt schon für sie gegangen.

Dieses namen- und gestaltlose, offenbar männliche, ansonsten aber nicht näher definierte Wesen scheint in der Vorstellung der Dichterin in irgendeiner Beziehung zu den Menschen zu stehen, sie verortet es irgendwo über den Menschen. Die Slammerin scheint sich absolut sicher zu sein, dass dieser obskure Er uns sieht und versteht – jedenfalls behauptet sie das.

Angeblich hat er die Welt überwunden, wobei unklar bleibt, was damit eigentlich genau gemeint sein soll und ob sich das auf die irdische oder auf die fiktive Scheinwelt der Dichterin bezieht.

Noch spannender als die Frage, was diese Aussagen vielleicht bedeuten sollen finde ich die Frage, wodurch die Künstlerin zu diesen Ideen und Vorstellungen gekommen ist. Immerhin beschreibt sie ihre Phantasiewelt, als handle es sich dabei um etwas Reales.

Sie scheint ja jedenfalls davon auszugehen, dass ihre geschilderte Phantasiewelt mehr als blanker Nonsens, als eine rein von Menschen erdachte, fiktive Illusion ist. Wie gelangte sie zu dieser Gewissheit? Woher weiß sie, dass sie auch tatsächlich dem richtigen „Er“ nachfolgt? Was wäre, wenn sie an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit geboren worden wäre und nie von „Ihm“, dafür aber vielleicht von einem anderen überirdischen Helden gehört hätte?

Trotz all dieser Ungereimtheiten scheint dieser obskure Er für die Vortragende jedenfalls so bedeutsam zu sein, dass sie ihn gar als ihren Weg bezeichnet, auf dem sie gehen will. Wenn das bedeutet, dass die Dichterin danach strebt, die Welt, ihrem imaginären Vorbild gleich, zu überwinden, dann stellt sich die Frage, was sie denn davon abhält, dies zu tun.

Sie wird ja wohl nicht ernsthaft davon ausgehen, dass ihr diesseitiges Verhalten irgendeinen Einfluss auf ein angedrohtes, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließendes jenseitiges Leben hat? Oder doch?

Dann wird sie dem Holzweg in ihre fiktive Parallelwelt wohl doch noch eine Weile folgen müssen, statt sich von ihren eingeredeten Illusionen zu ent-täuschen und sich der völligen Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz einerseits, aber natürlich auch genauso der unvorstellbar außergewöhnlichen Besonderheit, Unwahrscheinlichkeit und Außergewöhnlichkeit ihres irdischen Daseins bewusst zu werden und ihr Leben nicht auf eine erfundene Scheinwelt hin auszurichten.

Fazit: Überlegungen darüber, wie sich ein erfundenes Wesen wohl uns gegenüber verhalten könnte, kann man natürlich anstellen – die Gedanken sind frei (nicht mal Götter, Geister und Gottessöhne kennen sie). Allerdings sollte man dann besonders gut aufpassen, nicht versehentlich oder absichtlich Wunsch und Wirklichkeit zu vermischen – besonders dann, wenn man anderen davon erzählt – die könnten das Gedicht sonst nämlich als inhaltsleeres Geplapper deuten.

So ist es auch für Katholiken, die, aus welchen Gründen auch immer, einer fiktiven, männlichen, außerirdischen Gestalt hinterherlaufen empfehlenswert, in der realen Welt vor dem Überqueren einer Straße nach rechts und links zu schauen oder einen Blick aufs Flaschenetikett zu werfen, bevor man einen großen Schluck aus der Flasche nimmt, die man im Putzmittelregal stehen hat – es sei denn, man strebt ebenfalls eine zügige „Überwindung“ des weltlichen Elends an. Dann kann man aber auch einfach das Durchatmen nach dem Fensterschließen weglassen.

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