Gedanken zu: Ohne Luther und die Reformation wäre Estland anders

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Ohne Luther und die Reformation wäre Estland anders – Gedanken zu einem Beitrag von Ulf Buschmann, veröffentlich am 24.5.2017 von evangelisch.de

Relevanz um jeden Preis – so scheint das Motto derer zu lauten, die dieser Tage verstärkt versuchen, zum Reformationsjubiläum den Reformator als heute noch irgendwie bedeutsam darzustellen.

Auch in diesem Beitrag auf evangelisch.de biegen sich die vom Autor zitierten Personen die Tatsachen so zurecht, dass sich daraus – mehr schlecht als recht – das gewünschte Bild ergibt. Und damit eine Relevanz, deren Verlust man sich offenbar bewusst zu sein scheint.

Mit einem besonders großen oder aktiven Anteil evangelischer Christen in Estland kann Herr Buschmann nicht argumentieren. Denn 72% der Esten bezeichnen sich als konfessionslos, wie wir im Artikel erfahren.

Und so macht der Autor die Not zur vermeintlichen Tugend: Die estnischen Werte seien es, die auf Luther zurückgingen und von denen auch die (überwiegend religionsbefreite, postreligiöse) estnische Bevölkerung ja bis heute profitiere!

Estland: Moderne Werte

Es folgt eine Aufzählung verschiedener Werte, die der im Beitrag zitierte Herr Burghardt, Pastor einer evangelischen estnischen Gemeinde, Luther zuschreibt. Von Bildungshunger ist die Rede. Oder auch davon, dass sich die Esten gleich nach dem Ende der sowjetischen Besatzungszeit 1991 zu Europa gehörig gefühlt haben.

Und dann werden noch Pressefreiheit, Transparenz der Verwaltung und die berühmte Singbewegung genannt. Ohne mit der Wimper zu zucken, bezeichnet der zitierte Pastor gar die Ehrung der Frau als Erbe der Reformation. Der Chefredakteur der größten Estnischen Zeitung führt zudem Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit auf die protestantische Arbeitskultur zurück.

Auf die Frage, inwieweit diese Werte tatsächlich auf die Reformation vor 500 Jahren zurückgehen sollen, geht der Autor wohlweislich nicht näher ein. Dies wäre insofern interessant gewesen, als dass man dann hätte untersuchen können, ob diese Zusammenhänge tatsächlich bestehen. Oder ob diese Werte nicht vielmehr als Errungenschaften von Aufklärung und Säkularisierung zu betrachten sind, die ja seitdem auch noch stattgefunden hatten.

Ausgerechnet Werte wie Gleichberechtigung von Mann und Frau, Europäisches Zugehörigkeitsgefühl oder Pressefreiheit zu Verdiensten der Reformation zu erklären, klingt geradezu absurd. Der starke Wunsch, diesem Ereignis noch irgendeine Relevanz für die heutige Zeit abzugewinnen, war hier offenbar Vater der Behauptung.

Auch für die Tatsache, warum der Großteil der Esten so gar nichts mit Kirche am Hut haben, hat der Pastor eine Erklärung parat. Schließlich sei ihnen der christliche Glaube damals ja mit Gewalt aufgezwungen worden.

Nicht anti-christlich, aber anti-kirchlich

„Die junge estnische Bewegung war nicht anti-christlich, aber anti-kirchlich.“, wird Pastor Burkhard zitiert.

Wenn sich schon die Kirche offensichtlich nicht mehr retten lässt, dann vielleicht doch wenigstens die christliche Lehre…? Schließlich hat sich die Mär von den christlichen Werten ja teilweise sogar noch bis heute erhalten. Manche halten sogar noch die Legende von der christlichen Moral* für wahr.

Daran könnte man doch anknüpfen. Und darauf hoffen, dass ja wahrscheinlich sowieso niemand so genau weiß, was es mit den Werten von offenen und freien Gesellschaften tatsächlich auf sich hat. Oder auch, dass diese gegen den erbitterten Widerstand des Christentums erkämpft werden mussten…

Bis sich das herumgesprochen hat, kann man sich ja ruhig noch ein bisschen mit den fremden Federn der Aufklärung und Säkularisierung schmücken. Oder diese einem Frauenhasser, Sozialrassist und Antisemit in die Haare stecken, den man gerne heute, 500 Jahre später, als den großen Reformator in einem guten Licht erstrahlen lassen möchte.

Die Chöre der im Grunde genommen verhassten Kirchengemeinden…

Bleibt noch die in Estland berühmte Singbewegung. Deren Wurzeln würden zwar bis in vorchristliche Zeit zurückreichen, ist zu lesen. Das organisierte Singen hätten die Menschen aber in den Chören ihrer „im Grunde genommen verhassten Kirchengemeinden“ gelernt.

Dieser Beitrag zeigt deutlich, dass der Versuch, die Ideen eines unsympathischen Kirchenreformators aus dem Mittelalter zur Grundlage moderner ethischer Standards zu erklären, scheitert. Nicht die Reformation, sondern die Entmachtung des Christentums durch Aufklärung und Säkularisierung ist einer der grundlegenden Faktoren, auf denen unsere heutigen Werte basieren.

Eine offene und freie Gesellschaft war sicher nicht Luthers Ziel. Seine Thesen mögen im Verhältnis zur damaligen klerikalen christlichen Praxis vielleicht fortschrittlich erscheinen. Aus heutiger Sicht und besonders auch unter Berücksichtigung der gesamten Person Luther spielen sie heute schlicht keine Rolle mehr. Wie alles, in dem fiktive überirdische Wesen vorkommen.

Die Weltbevölkerung steht längst vor ganz anderen Herausforderungen als vor 500 Jahren. Und andererseits hat sie natürlich auch ganz andere Möglichkeiten und Chancen als damals.

Das irdische Schicksal scheint dem christlichen Dreifachgott genauso gleichgültig zu sein wie allen anderen Göttern auch.  Die Menschheit selbst ist gefordert, an offenen und freien Gesellschaften mitzuarbeiten.

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