Koalitionsvertrag-Entwurf: Neutralitätsgebot ausgehöhlt – UPDATE

Lesezeit: ~ 5 Min.

Wie ein Blick in den Entwurf des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und SPD zeigt, hat die Kirchenlobby offenbar auch diesmal wieder ganze Arbeit in Sachen Neutralitätsgebot-Aushöhlung geleistet:

Die Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften stiften Identität und vermitteln Werte. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft in Deutschland und Europa. Darüber hinaus sind sie wichtige Stützen im Bildungs- und Sozialwesen mit Kindertageseinrichtungen und Schulen, mit Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. […]

Wir wollen den Dialog und die Zusammenarbeit des Staates mit den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften verstärken. Dies gilt insbesondere auch mit Blick auf die Integration der Muslime in Deutschland. […]

Die Koalitionsparteien würdigen das Wirken der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie sind wichtiger Teil unserer Zivilgesellschaft und Partner des Staates. Auf Basis der christlichen Prägung unseres Landes setzen wir uns für ein gleichberechtigtes gesellschaftliches Miteinander in Vielfalt ein. Wir suchen das Gespräch mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften und ermutigen sie zum interreligiösen Dialog, denn das Wissen über Religionen, Kulturen und gemeinsame Werte ist Voraussetzung für ein friedliches Miteinander und gegenseitigen Respekt. Wir werden Antisemitismus entschieden bekämpfen und ebenso anti-islamischen Stimmungen entgegentreten.
(Quelle: spiegel.de: Entwurf KoaV, Stand: 7.2., 12:45 Uhr)

Die Differenzierung legt die Vermutung nahe, dass mit Weltanschauungsgemeinschaften hier nicht-religiöse Gemeinschaften gemeint sind.

Besonders interessant finde ich den Umstand, dass an manchen Stellen von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die Rede ist, während an anderen Stellen die Weltanschauungsgesmeinschaften einfach fehlen.

Welche Rolle spielen nicht-religiöse Weltanschauungsgemeinschaften wirklich?

So wird den Weltanschauungsgemeinschaften zwar zugestanden, dass auch sie einen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft leisten. Auch bei der Absichtsbekundung der Vertreter des zur Neutralität verpflichteten Säkularstaates, den Dialog und die Zusammenarbeit mit Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu verstärken, sind Letztere zunächst noch genannt.

Gewürdigt werden von den Koalitionsparteien dann aber nur die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Und nur sie werden als „wichtiger Teil unserer Zivilgesellschaften und Partner des Staates“ genannt.

Ganz offensichtlich hat man auch beschlossen, an der Legende von der christlichen Moral auch weiterhin festhalten zu wollen.Dass ein gleichberechtigtes gesellschaftliches Miteinander in Vielfalt erst durch die Überwindung der christlichen Prägung möglich wurde, scheinen die Koalitionsverhandler zu ignorieren.Was unsere Gesellschaft ausmacht, ist vielmehr die Überwindung der christlichen Prägung durch eine säkular-humanistische Gesellschafts- und Rechtsordnung.

Obwohl zunächst von einem Dialog und einer Zusammenarbeit auch mit Weltanschauungsgemeinschaften die Rede ist, wollen die Parteien das Gespräch mit diesen offenbar doch nicht suchen. Ergiebiger als ein interreligiöser Dialog für ein friedliches Miteinander und gegenseitigen Respekt wäre ein Dialog, in dem auch Vertreter von säkular-humanistischen Weltanschauungen beteiligt sind.

Neutralitätsgebot?!

NeutralitätsgebotDas Online-Lexikon des Institutes für Weltanschauungsrecht fasst die Hintergründe zum Thema Neutralitätsgebot zusammen (Auszug):

  • Bei diesem die gesamte öffentliche Gewalt in Bund und Ländern betreffenden bundesrechtlichen Verfassungsgebot, das unabhängig von persönlichen Grundrechten gilt, handelt es sich um einen wesentlichen Aspekt des Gleichheitsgrundsatzes. Die religiös-weltanschauliche Neutralität ist zwar kein Begriff des Verfassungstextes, jedoch mit dem BVerfG normativ abzuleiten aus den Art. 3 III, 4 I, 33 III GG und Art. 136 I, IV WRV sowie Art. 137 I und VII WRV i.V.m. Art. 140 GG.[1] Neutralität ist demnach kein bloßes Prinzip im Sinn einer allgemeinen Richtschnur, von der nach politischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten durch Gesetz abgewichen werden könnte. Es ist vielmehr ein striktes Gebot des deutschen Religionsverfassungsrechts und bedeutet schlicht religiös-weltanschauliche Unparteilichkeit. […]
  • Das Neutralitätsgebot des GG meint zunächst ganz allgemein, dass der Staat als solcher, abgesehen von normativen Ausnahmen im Schulwesen (vgl. Art. 7 GG), keine Religion oder Weltanschauung hat (Grundsatz der Nichtidentifikation). Seine „Ideologie“ ergibt sich aus seinen eigenen zentralen Existenzbedingungen (Grundrechte, freier geistiger Prozess, Völkerfreundschaft usw.; s. Grundgesetz, Leitprinzipien). Daher hat die Rechtsprechung, insbesondere auch das BVerfG, jede einseitige politische oder religiös-weltanschauliche Einflussnahme in öffentlichen Schulen mehrfach und unangefochten untersagt (s. Glaubensfreiheit). Der Sache nach geht es entsprechend dem allgemeinen Wortsinn um Folgendes: „Generell bedeutet Neutralität Enthaltung von Parteilichkeit und Parteinahme des Staates hinsichtlich der plural existierenden und konkurrierenden Richtungen des religiösen und weltanschaulichen Spektrums der freien, offenen Gesellschaft“ (Quelle: ifw – Institut für Weltanschauungsrecht, Lexikon, Stichwort: Neutralität)

Ein lesenswertes und aufschlussreiches Plädoyer für einen weltanschaulich neutralen Staat hatte Dr. Michael Schmidt-Salomon vor ziemlich genau einem Jahr verfasst.

Christliche Werte

Und für alle, die immernoch auf die Legende von der christlichen Moral hereinfallen und die nicht mitbekommen haben oder wahrhaben wollen, dass die Werte, auf denen eine offene und freie Gesellschaft basiert, eben NICHT die genuin christlichen Werte sind, hier nochmal etwas Aufklärung, zur Vorbereitung auf die nächste Wahl.

Christliche Werte

Wer in seiner persönlichen Interpretation der christlichen Lehre die hier genannten christlichen Werte nicht wiederfindet, der möge sich bitte umgehend mit der biblischen Grundlage seines Glaubens beschäftigen.

Also mit der Grundlage, die auch jeder noch so weichgespülte Wischi-Waschi-Christ durch seinen Glauben künstlich vor dem Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit schützt und die damit auch weiterhin genauso jedem evangelikalen Spinner oder katholisch-rückwärtsgewandtem Fundamentalist als „übergeordnete göttliche Wahrheit“ zur Verfügung steht.

Siehe auch:

Update 9.2.18: Weitere Erfolge der Kirchenlobby im Koalitionsvertragsentwurf

Religionsfreiheit ist ein zentrales Menschenrecht, das weltweit zunehmend eingeschränkt oder komplett infrage gestellt wird. Das gilt für zahlreiche religiöse Minderheiten weltweit. Unsere Solidarität gilt allen benachteiligten religiösen Minderheiten.

Immer daran denken: Dieses zentrale Menschenrecht wurde GEGEN den erbitterten Widerstand (quasi bis zu Seehofers „letzten Patrone“) der Kirche erstritten, die jetzt von dieser Freiheit profitiert.

Dieses Menschenrecht wird hauptsächlich dort eingeschränkt, wo religiöse oder politische Ideologien die Macht dazu haben, dieses Recht einzuschränken.

Und dieses Menschenrecht gilt auch, aber eben nicht nur für religiöse Minderheiten.

Sondern für alle Weltanschauungsgemeinschaften, solange sie die Gesetze und ethischen Standards von offenen und freien Gesellschaften nicht verletzen.

Warum ist hier explizit nur von religiösen Minderheiten die Rede?

Neutralitätsgebot, die 2.

Dazu zählt der beharrliche Einsatz für viele Millionen verfolgter Christinnen und Christen.

Was ist mit den vielen Millionen verfolgten Menschen, die keine oder andere Götter verehren? Wo man doch gerade noch versprochen hatte, sich zumindest für alle benachteiligten religiöse Minderheiten einsetzen zu wollen? Ist der Einsatz für verfolgte Nicht-Christinnen und Christen weniger beharrlich und mit welcher Begründung?

Wir werden das Amt der/des Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit schaffen. Wir werden den Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit im zweijährigen Rhythmus und systematischen Länderansatz fortschreiben.

Ich bezweifle stark, dass der Begriff „Religionsfreiheit“ hier auch die „Freiheit von Religion“ mit abdeckt. Auf die personelle Besetzung dieser Stelle bin ich gespannt…

Hybride Informationsverfälschung: Bekämpfen oder betreiben?  Na, beides natürlich!

Wir wollen die strategische Auslandskommunikation und insbesondere die Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle verstärken und auf die digitale Zukunft ausrichten, um ein realistisches Bild von Deutschland zu befördern. Dies ist auch notwendig, um im Wettbewerb der Narrative und Werte zu bestehen und in verschiedenen Regionen der Welt gegen hybride Informationsverfälschung vorgehen zu können.

Um im Wettbewerb der Narrative und Werte zu bestehen, gehen Sie bitte gegen die religiöse Informationsverfälschung vor, statt sich von der Kirchenlobby für deren Zwecke instrumentalisieren zu lassen und unter krasser Missachtung des Neutralitätsgebotes eine absurde und inhumane Wüstenmythologie aus der Bronzezeit und aus dem Vormittelalter durch milliardenschwere Subventionierung und beispiellose Sonderprivilegierung künstlich am Leben zu erhalten.

Wettbewerb um Narrative und Werte – aber um welche?

Die biblisch-christliche Mythologie entspricht dem Erkenntnis- und sozio-kulturellen Entwicklungsstand eines kleinen primitiven Hirtenvolkes von vor 2000-5000 Jahren.

Diese Narrative sind heute sinn- und damit bedeutungslos für moderne ethische Standards und unsere heutigen Werte. Narrative, die auf der behaupteten Autorität eines erfundenen überirdischen Himmelszauberers beruhen, sind heute unbrauchbar.

Das Christentum ist und bleibt moralisch orientierungslos.

Religionsfreiheit: Unbedingt!
Kirchenstaat: Nein, danke!

Natürlich sollen sich Leute trotzdem auch weiterhin allen beliebigen Narrativen und Scheinwirklichkeiten hingeben dürfen, solange sie bei der konsequenten Befolgung etwa biblischer Anweisungen nicht gegen Recht und Gesetz verstoßen (was ziemlich schwierig sein dürfte).

Für die Lösung der Probleme und Herausforderungen, vor denen die Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert steht, sind die christlichen Narrative noch in etwa so brauchbar wie das Nibelungenlied, Grimms Märchen oder das ägyptische Totenbuch.

Einer der sechs Grundwerte, auf denen offene und freie Gesellschaften basieren, ist die Säkularisierung, also die Trennung von Staat und Kirche.

Und diese Trennung sehe ich in diesem Koalitionsvertragsentwurf einmal mehr in einem geradezu obszönen Ausmaß ausgehöhlt.

 

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3 Gedanken zu „Koalitionsvertrag-Entwurf: Neutralitätsgebot ausgehöhlt – UPDATE“

  1. Stimmt: Die aktuelle GroKo-Komödie in Berlin zeigt sehr genau, dass die Parteiobrigkeiten sich ganztags an ur-christlichen Werten wie Respekt, Aufrichtigkeit und Menschlichkeit orientieren. Man sieht es jeden Tag neu: Ohne christliche Wertebasis kann es keine vernünftige Politik geben!

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  2. Sehr guter Beitrag, der den Finger in die Wunde legt. Dennoch unser Protest wird wirkungslos bleiben. Alle relevanten Stellen in der Politik, in den Medien, in den höchsten Gerichten, in der so wichtigen Ministerialbürokratie ist in den Händen kirchenergebener Politiker.

    Zum Beispiel durch Besetzung der Parteispitzen, der meinungssteuernden Medien und durch ihren Einfluss auf Justiz und Gesetzgebung. So sind fast alle Parteispitzen durch erklärte Christen, zumindest sehr Kirchennahe, besetzt, das gilt sogar für die einst religionskritischen Linken. Die Intendanzen, Chefredakteure und weitere wichtige Posten der Rundfunk- und Fernsehanstalten sind durchweg durch erklärte Christen besetzt. Hinzu kommt den beiden christlichen Kirchen das – an sich verfassungswidrige – Privileg eigener Redaktionen und fester Sendezeiten zu. Das Auswahlverfahren für die Richter der obersten Gerichte ist ebenfalls so gestaltet, dass ein überproportionaler Einfluss der Regierungen vorliegt, und damit der überwiegend christlich-kirchlich orientierten Politiker. Besonders auffällig ist das beim Bundesverfassungsgericht, dem m.W. derzeit kein einziger konfessionsfreier Richter angehört. (»Verwunderlich«, dass acht Bundesverfassungsrichter den höchsten katholischen Orden für Verdienste um die katholische Kirche erhalten haben?) Dabei – man beachte – gibt es in Deutschland bereits 36 Prozent Konfessionsfreie und nur noch 55 Prozent Mitglieder in einer der beiden großen Kirchen. Die Ausgestaltung der Gesetze wird stark durch die Ministerialbürokratie der Landesregierungen und der Bundesregierung beeinflusst, sowohl bei den Gesetzesvorschlägen wie später dann bei der endgültigen Formulierung der verabschiedeten Gesetze. Diese Ministerialbürokratie ist eine Domäne erklärter Christen (siehe Carsten Frerk: Kirchenrepublik Deutschland, Alibri 2015). Alle Minister der derzeit noch amtierenden Bundesregierung sind erklärte Christen.

    Diese geballte christlich-kirchliche Macht, den meisten Bundesbürger nicht bewusst, manifestiert sich somit in gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen, stark im Erziehungswesen, wirkt unbewusst als tradiertes Wertesystem noch in den Köpfen selbst Glaubensferner (Gregor Gysi: »ohne Kirche keine Moral«) und zeigt sich zum Beispiel in einem kirchlich-staatlichen Machtdenken, das stets mehr durch Verbieten als durch Vorleben und Überzeugen gekennzeichnet war.

    Mehr als die Hoffnung auf verfassungsgemäße Verhältnisse dereinst bleibt uns nicht.

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